"Ich bin alle"

von Willibald Spatz

Augsburg, 30. Januar 2015. Beinahe glücklich wirkten die Redner während ihrer Eröffnungs-Ansprachen darüber, dass das Thema "Exil" gerade in aller Munde ist. Man muss ein Festival lange im Voraus planen und das Motto festlegen, und jetzt will es der Zufall, dass das öffentliche Geschehen sich so passend entwickelt. Tatsächlich gibt es in den kommendem Tagen Veranstaltungen dort, wo es angebrachter erscheint, über Flucht und Vertreibung zu reden, als an den üblichen Orten der Hochkultur. Darunter sind zum Beispiel Lesungen in Heimen, in denen Augsburger Asylsuchende untergebracht sind. Mal sehen, ob das Publikum dieser Schritt hinaus in die Realität stärker berührt als eine herkömmliche Aufführung am gewohnten Platz.

Der Auftakt des Brechtfestivals 2015 fand aber "ganz normal" auf der Bühne des Großen Hauses im Stadttheater statt. "Leben des Galilei" passt zum Festivalmotto, denn Bert Brecht hat es 1939 im dänischen Exil verfasst. Und auch Galilei ist unterwegs, er vertauscht "die Republik Venedig mit dem Florentiner Hof", denn er hofft, dort besser arbeiten zu können, weil dort vielleicht Menschen sind, die ihn verstehen oder wenigstens vernünftig sind und sich überzeugen lassen von den offensichtlichen Tatsachen. In Wirklichkeit findet er nirgendwo jemanden, sogar sich selbst verliert er. Er verrät sich, weil er Angst hat und zudem keinen Plan. Brecht hat das Stück in Amerika überarbeitet und ein zweites Mal in Berlin nach seiner Rückkehr. Es steckt also eine Menge bitterer Fluchterfahrung darin.

Ideen-Verlebendigung
Thomas Thieme tritt vor den geschlossenen Vorhang, er bezeichnet sich als "lebenden Programmzettel". Er sagt: "Ich bin alle (…) Ich gebe mein Bestes." Das heißt, er spielt alle Rollen, was er schon einmal getan hat. Beim Brechtfestival 2013, da hat er "Baal" gezeigt. Ganz allein ist er nicht. Arthur Thieme begleitet ihn an Kontrabass, Mundharmonika und Loop Machine. Die von Hanns Eisler vertonten und jede Szene einleitenden Verse singt der Schulchor des Schmuttertal-Gymnasiums Diedorf unter der Leitung von Andrea Huber – über 50 Kinder, die eindrucksvoll die Breite der Bühne füllen und Thomas und Arthur Thieme nur einen schmalen Streifen lassen, ganz nah am Publikum.

Galilei 560 NinaHortig uArthur und Thomas Thieme vor Kinderchor © Nina Hortig

Von Anfang an schafft es Thomas Thieme Spannung aufzubauen und das Publikum in den Text hineinzuziehen. Es geht ihm nicht darum, exakt in einzelne Rollen zu schlüpfen und lebensnahe Dialoge zu gestalten. Er will die Ideen, die hier verhandelt werden, lebendig werden lassen. Ein sehr alter Kardinal wettert gegen Galilei: "Ich bin nicht irgendein Wesen auf irgendeinem Gestirnchen, das für kurze Zeit irgendwo kreist. Ich gehe auf einer festen Erde." Bei Thieme ist das nicht ein Greis, der wenig Verstand besitzt. Im Gegenteil: Da steht einer, der am Lebensende fürchtet, dass alles, woran er geglaubt hat, falsch sein könnte, und dass er ins Leere fällt, wenn er bald stirbt. Das ist einer der Momente, die tief berühren.

Gerader Durchmarsch
Bei einigen Szenen wird auch der Chor szenisch eingebaut. Die Kinder im Stück werden von echten Kindern gesprochen. Wenn sich Galileis Lehren im Volk verbreiten, kommt ein Raunen von hinten; wenn sein Schicksal verhandelt wird, trampeln Füße. Der hochkonzentrierte Abend zeigt, welchen Sog ein Brechttext erzeugen kann.

Die Regisseurin Julia von Sell hat intelligent gekürzt und das Stück von Ballast befreit. Auf diese Weise kann man einen geraden Durchmarsch durch das Leben des Galilei erleben, bei dem am Anfang durchaus Raum bleibt für die Euphorie, die ihn beim naturwissenschaftlichen Erkennen packt, und später wird der Gang durch die Instanzen nicht unnötig gedehnt. Schade ist nur, dass diese Fassung nur das Recht für eine Aufführung erhalten hat. Verdient hätte sie es, öfter und auch auf anderen Bühnen gezeigt zu werden.

Leben des Galilei
von Bert Brecht
Mit: Thomas Thieme.
Fassung und Regie: Julia von Sell, Kinderchor: Schulchor des Schmuttertal-Gymnasiums Diedorf unter der Leitung von Andrea Huber, Piano: Andrea Huber, Kontrabass: Arthur Thieme, Flöte: Andrea Ikker, Klarinette: Jürgen Key.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.brechtfestival.de

 

Mehr zum Augsburger Brechtfestival: Presseschau vom 28. Januar 2015 – Die Welt über das Brechtfestival und seinen umstrittenen Leiter.

 

Kritikenrundschau

Richard Mayr schreibt auf der Website der Augsburger Allgemeinen (2.2.2015)
Thomas Thieme habe die 20 Rollen stehend und lesend "zum Glühen" gebracht. Brechts Auseinandersetzung mit Wissenschaft und Macht hie, dort der "Intensiv-Darsteller mit der tiefen, knarzenden Stimme" – ein "wunderbarer Kontrast", gesteigert noch durch Thiemes "Zwiesprache" mit dem Schülerchor als "die Stimmen der Hoffnung". Die Eisler-Komposition habe, so dargeboten, wie "ein Gegenmittel zum schwergewichtigen Galilei gewirkt". Arthur Thieme, der Sohn, "zauberte" am Kontrabass mit einer Vielzahl von Spiel-Techniken... "Großer Applaus und Jubel – völlig zu Recht."

Halrun Reinholz schreibt in der Internetzeitung DAZ - Unabhängige Internetzeitung für Politik und Kultur (2.2.2015): Das "ehrgeizige Projekt" sei nicht "rundum überzeugend" aufgeführt worden. "Sprachgewalt und Bühnenpräsenz von Thomas Thieme" hätten in "dem Schülerchor zu wenig Gegengewicht" gefunden. Andreas [sic] Thieme an Kontrabass und Mundharmonika sei "oft zu laut" gewesen für den nicht ganz einfach zu verfolgenden Handlungsverlauf. "Dass sich Thieme herausnahm, Zuschauer anzuschnauzen und Huster zu persiflieren, ist eines Schauspielers seines Formats eigentlich unwürdig."

Andi Hörmann schreibt auf der Website von Deutschlandradio Kultur (2.2.2015) von einer "stillen Sensation", Thomas Thieme in Brechts "Leben des Galilei" in allen Rollen. Julia von Sell inszeniere "eine Art Live-Hörspiel: ohne Bühnenbild, mit einem Kinderchor". Thieme spiele nicht, sondern setze "die Figuren sprachlich in Szene: Er grummelt, faucht und schnauft in Tom-Waits-Manier, gestikuliert wie Joe Cocker mit gekrümmten Fingern zu gepressten Worten". Die "Kombination aus Kinderchor und lebender Schauspiellegende, kindlicher Leichtigkeit und ausgewachsenem Drama" funktioniere mit dieser Inszenierung auch als "ganz niederschwelliger Theaterabend".

 

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