Boy meets girl(s)

von Claude Bühler

Zürich, 12. April 2014. Der Rest ist Lesen: Der Roman schreibt sich selbst zu Ende, der Autor ist verschwunden, der dunkle Bühnenraum füllt sich wie von Geisterhand mit seinen Textzeilen, projiziert auf die kahlen Betonwände der Schiffbau Box, projiziert auch auf die durchsichtigen Plastikwände, in deren Raum sich sein Liebesdrama abgespielt hat. Eine gespenstische Installation, größer und mächtiger als die Menschen, Sinnbild für eine Geschichte, die sich verselbständigt hat. Mit tragischem Ende, wie wir von Beginn an wissen, denn: "Agnes ist tot. Eine Geschichte hat sie getötet."

Erzählung der Liebeserzählung

Mit diesen beiden Sätzen eröffnet Peter Stamm seine Liebesgeschichte, und mit ihnen, auf die Rückwand projiziert, beginnt auch Daniela Löffners Bühnenfassung, mit der sie die Romanhandlung in den Originalsätzen als konkrete Boy-meets-Girl-Story chronologisch nacherzählt. Dafür gibt Löffner Stamms namenlosem Ich-Erzähler (Milian Zerzawy) einen Namen: Robert Suter. Eine Lebenskrise sieht man dem freundlichen, etwas unsicheren Jeans- und Bartträger nicht an. Bei seinen Auftrags-Recherchen für ein Eisenbahn-Sachbuch lernt er in der öffentlichen Bibliothek von Chicago die Physikstudentin Agnes kennen. Über ihre gemeinsame Liebesgeschichte wird er parallel eine Erzählung schreiben. Agnes hat einen Pony-Schnitt, trägt zum Faltenrock große Turnschuhe und einen grellfarbenen Pullover. Dagna Litzenberger Vinet spielt sie verblüffend ähnlich so, wie der Leser sie kennt: ein Wesen zwischen Puppe, Mädchen und Frau mit ernster, kühler Miene, das immer nur über die großen Themen wie Liebe und Tod sprechen will. Oder über die Symmetrie der Atome. Und der man glauben soll, dass sie mit ihren 25 Jahren noch nie mit einem Mann geschlafen habe.

Die Aufführung präsentiert sich als eine Art gesteigerte szenische Lesung auf leerer Bühnenfläche. Die Bibliothek, das indische Restaurant, das Appartement des Erzählers, die Wanderung etc. werden mit Geräuschkulisse, gelegentlichen Filmprojektionen oder dem Auftritt von Nebenfiguren behutsam angedeutet. Diese weite Leere in kaltem Licht macht nicht nur das Potentielle des Fiktionalen spürbar, es zeigt auch das nackte Hingeworfensein Roberts, der sich vom Wesen Agnes' anrühren und auch inspirieren lässt: Der gescheiterte und resignierte Romancier soll sich zu einer Erzählung über ihre Liebe aufraffen.

Agnes 1 und Agnes 2

Ab da verdichtet sich die Aufführung. Plastikwände fahren herunter, bilden den erwähnten, verkleinerten Raum inmitten der Betonwände, den Raum von Roberts Erzählung. Eine Agnes 2 (Henrike Johanna Jörissen) tritt plötzlich auf den Plan, die sich genau an Roberts Schilderungen hält. Denn Roberts Erzählung verläuft keineswegs kongruent zur Romanrealität mit der echten Agnes. Diese wird nämlich schwanger; Robert hält das nicht aus. Es kommt zum Bruch, aber er hält auch die Trennung nicht aus.

So schreibt Robert aber in seiner Erzählung, er habe das Kind akzeptiert, die Geburt finde statt. Die stärkste Szene des Abends: Robert steht mit Agnes 2, die das Baby in den Armen hält, im Plastikraum, und durch die Plastikwand klärt ihn die "wirkliche" Agnes in einem intensiven Bild auf, dass sie das Kind verloren habe.

agnes2 560 tanjadorendorf tt fotografie uZwei Agnes (Henrike Johanna Jörissen, Dagna Litzenberger Vinet) © Tanja Dorendorf

Für Fans

Die beiden wagen schließlich einen Neuanfang, trotz seiner Zwischenaffäre mit Louise (Isabelle Menke). Sie kaufen in einem Shop Kinderkleider. Zu "Jingle Bells" fallen die rosa Stücke vom Bühnenhimmel. Aber Agnes durchbricht das Spiel, nennt es Lüge, fragt ihn: "Was weißt Du überhaupt von mir?" Robert setzt die Erzählung fort: Agnes flieht in einen Wald, erfriert. Seine Geschichte forterzählend übergießt er Agnes 2 mit Eisstücken, Agnes 1 legt sich dazu, schmiegt sich an ihr Erzählungs-Double. Agnes ist tot. Das gut besuchte Auditorium lauschte stumm, lachte zu den Witzeleien über den Schweizer in Chicago, applaudierte am Ende freundlich.

Unter die Haut ging der Abend nicht. Denn bei allen eindrücklichen und reizvollen Momenten, bei aller spürbaren Liebe zum Stoff: Betrachten funktioniert anders als Lesen, wo man nicht vom sicheren Zuschauersitz zuschaut, sondern die Welt aktiv mitbaut. Dass Robert seine Gefühlswelt wie ein unbekanntes Land behandelt, nur hie und da Panik und schlechtes Gewissen hoch stoßen, er selbst so wenig innere Führung und Entscheidungskraft zeigt, weckt beim Leser von Seite zu Seite Widerwillen und Ohnmachtsgefühle. Die Antwortlosigkeit und Kälte in Stamms Welt entsetzt. Im Schiffbau zuckt man mit der Schulter. Ob die Bühne überhaupt dazu taugt, die Innenwelt des Romans hervorzukehren, die Antwort darauf blieb aus. So bleibt die Aufführung eine für die Fans des Romans, die sich an ihre Lektüre-Sensationen erinnern lassen wollen.

 

Agnes (UA)
Nach dem Roman von Peter Stamm
Regie und Spielfassung: Daniela Löffner, Bühne: Claudia Kalinski, Kostüme: Sabine Thoss, Licht: Frank Bittermann, Video: Andi A. Müller, Dramaturgie: Gwendolyne Melchinger.
Mit: Ludwig Boettger, Fritz Fenne, Henrike Johanna Jörissen, Dagna Litzenberger Vinet, Milian Zerzawy.
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.ch

 

Kritikenrundschau

Auf der Website des Schweizer Radio und Fernsehens (14.4.2014) schreibt Dagmar Walser: Daniela Löffner starte "immer wieder Versuche", dem Romanstoff "Theaterleben einzuhauchen" und die Geschichte "szenisch verbindlich" zu machen. "Mit Slapstickeinlagen der Nebenfiguren, mit opulenten Videoprojektionen auf die Bühnenwände, mit durchsichtigen Plastikfolien, die den Spielraum der Figuren immer enger werden lassen." Es bleibe allerdings bei einzelnen szenischen Ideen. Der Abend mache nicht klar, weshalb die Regisseurin und ihr Team diese Geschichte für die Bühne umsetzen wollten. Worin der Mehrwert des Theaters liegt.

Auch Alfred Schlienger auf www.nzz.ch, der Online-Seite der Neuen Zürcher Zeitung (14.4.2014), will es scheinen, als hätte die Regisseurin die kalkulierte Kälte von Stamms Roman nicht ausgehalten. Sie forme aus der "verschlossenen, über Sterben und Tod sinnierenden Physikdoktorandin" ein "munter kokettierendes Springengelchen". Die Regie scheine die düstere Perspektive des Romans mit ihren Einfällen erträglicher machen zu wollen. "Statt den Subtext auszuloten, bauscht sie die Nebenschauplätze mit Witzchen und Mätzchen auf." Die erschütternde Kälte der Vorlage delegiere die Inszenierung ganz an den kahlen Betonraum.

 

 

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