Ein Showprozess

von Christian Rakow

Berlin, 17. April 2014. "I want your love / And I want your revenge / You and me could write a bad romance" – Ich will deine Liebe / Und ich will deine Rache / Wir beide könnten eine schlechte Romanze schreiben. Dass Songs von Lady Gaga so gut auf Friedrich Dürrenmatt passen würden, war bis dato nicht zu vermuten. Aber siehe, das Deutsche Theater Berlin, das in dieser Saison aufgebrochen ist, den Popaspekt der Klassiker aufzuspüren (jüngst etwa mit Stefan Puchers Version der "Elektra" des Sophokles), kehrt das Unvermutete hervor. Glanzvoll, glitzernd: Voilà, der Besuch der Lady Güllen.

Aufkostümiert wie das Material Girl des Pop, Lady Gaga, kommen sie daher, in schwarzweißer Glamourbühnenrobe, mit knallig pinkroten, schrill toupierten Perücken: Margit Bendokat, Olivia Gräser, Katharina Matz, Helmut Mooshammer und Barbara Schnitzler als fünfköpfige Erscheinung der "alten Dame" Claire Zachanassian. Schreckgespenster aus der Synthie-Ära sind sie, aber ihre Mission hat mythische Tiefe. Drohend und alptraumhaft wie Rachegöttinnen nähern sie sich dem kläglichen Sünder im Menschenkleid (verschlissene Hose, ausgebleichtes Sakko), dem Krämer Alfred Ill, der sagt: "Ich bin ein verkrachter Krämer, in einem verkrachten Städtchen." Sein Städtchen, mit dem übelsprechenden Namen Güllen, ist ein kolossales Pappkulissenwerk. Alles schwarzweiß, windschief expressionistisch gezeichnet (Bühne: Simeon Meier). Wenn der Wohlstand ausbricht, funkeln Rottöne hinein.

besuch der alten dame 560a arnodeclair hZwei alte Damen (Helmut Mooshammer, Katharina Matz) nehmen einen Ill (Ulrich Matthes) in ihre Mitte © Arno Declair

Der Abend des Alfred Ill
Man sieht Friedrich Dürrenmatts immergrüne Tragikomödie "Der Besuch der alten Dame" in jüngerer Zeit regelmäßig als Parabel auf die materialistischen Abgründe heutiger, kreditgestützter Wohlstandsgesellschaften. Wie die reichgewordene Claire Zachanassian in ihre Heimatstadt zurückkehrt, den Bewohnern eine Milliarde für den Mord an Alfred Ill aussetzt, weil dieser sie einst in einem Vaterschaftsprozess vor Gericht verriet, wie die Güllener mit Aussicht auf das Kopfgeld alsbald munter Schulden machen und dabei jedwede Ethik fahren lassen, bis sich letztlich alle zum Sündenbockmord vereinigen – das schreit nach aktuellen Bezugssystemen. Volker Lösch nahm mit der "Alten Dame" 2007 in Düsseldorf die Kommunalpolitik aufs Korn; Armin Petras erzählte damit (2009 in Dresden und am Berliner Gorki Theater) eine Wendegeschichte rund um Stasi-Verrat und Ausreise in den Westen.

Regisseur Bastian Kraft versagt sich am Deutschen Theater solche direkten Bezüge, rückt das Werk stattdessen in eine ausgestellt künstliche, comicartige, an Robert Wilson gemahnende, von Live-Klavierspiel in Stummfilmmanier beseelte Bühnenwelt, und liefert doch beileibe nicht nur l'art pour l'art. So fabulös die fünfköpfige Claire-Zachanassian-Combo auch ist – realistisch betrachtet ist es der Abend des Alfred Ill, sein greller Angsttraum, seine Lebensschuldabrechnung. Ulrich Matthes legt Ill von Anfang an als weichen, unsicheren, leicht gebeugten Typen an. Kein jovialer Schwerenöter. Eher einer, der auf einem fremden Fest erschienen ist und jetzt um Orientierung, bald um Haltung ringt. Aus dem Publikum tritt er hinauf zur Bühne, so wie Fans mitunter hochgebeten werden, um dort verdruckst dem Treiben der Stars beizuwohnen.

Resonanzen totalitärer Systeme
Was die Claire-Gaga-Group für ihn veranstaltet, ist gleichwohl keine Show, eher eine Schau – ein Schauprozess. Mit voreingestelltem Todesurteil und simulierter Öffentlichkeit. Die Fünf schlüpfen mit schwarzweißen Papp-Accessoires in die Rollen der Güllener (Bürgermeister, Lehrer, Pfarrer, Bürger etc.). Aber immer hämmert in ihren teils irre witzigen Miniaturen der gleiche fordernde, kühle Ton, den Margit Bendokat an zentraler Stelle unnachahmlich kantig vorgibt: "Wer nicht blechen kann, muss hinhalten, will er mittanzen. Ihr wollt mittanzen. Anständig ist nur, wer zahlt, und ich zahle. Güllen für einen Mord, Konjunktur für eine Leiche." Wer so denkt, dem gerät auch der Rückblick auf die einstige Romanze im Konradsweilerwald allenfalls zum Durchgangsstadium: Abgeklärt nehmen Barbara Schnitzler als reife Claire und Olivia Gräser als Claire aus der Jugenderinnerung den leise sentimental aufflackernden Alfred Ill in ihre Mitte. Gefühle delegieren sie an ihre ungewöhnlich bluesigen Lady-Gaga-Einlagen, die sie, geführt vom Live-Piano von Thies Mynther, in ihre Mikroports knarzen. Es sind wunderbar gebrochene Gesänge, in bestechenden Arrangements (von Mynther selbst besorgt).

"Klara, sag doch, dass du Komödie spielst, dass dies alles nicht wahr ist, was du verlangst.
Sag es doch!", fleht Ill einmal. Aber es ist keine Komödie, nicht einmal Theater. Es ist ein kafkaesker Gerichtstag. Zu seinem Abschluss wird sich der Sünder Ill selbst bezichtigen und anklagen müssen. Eine Kreatur, als sollte die Scham sie überleben. Und durch alle stummfilmhafte Künstlichkeit hindurch meint man plötzlich die Resonanzen der totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts zu vernehmen, die sich in Dürrenmatts Gedankenspielstück von 1955 "Der Besuch der alten Dame" auch eingeschrieben haben. Ein Schauprozess im Showgewand. Ein packender Abend am Deutschen Theater.

Der Besuch der alten Dame

von Friedrich Dürrenmatt
Regie: Bastian Kraft, Bühne: Simeon Meier, Kostüme: Dagmar Bald, Bühnenmusik/Arrangements: Thies Mynther, Video: Jonas Link, Dramaturgie: Ulrich Beck, John von Düffel.
Mit: Margit Bendokat, Olivia Gräser, Katharina Matz, Helmut Mooshammer, Barbara Schnitzler, Ulrich Matthes, Alexander Rohde, Marof Yaghoubi, Thies Mynther (am Piano).
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

Auf der Website des Deutschlandfunks schreibt Hartmut Krug (18.04.2014), Bastian Kraft motze das Stück, dessen Moral "arg bieder kopfnickerhaft" sei, "recht fantasievoll und grotesk" auf. Simeon Meiers Bühne sei von "expressionistischer Zeichenhaftigkeit bestimmt", die Kostüme "wunderbar poppig" und mit den Songs von Lady Gaga wirke das Ganze wie ein "tönender Stummfilm". Trotzdem gelinge es nicht, das Problem dieser "altbackenen Parabel zu lösen". Man habe "schnell die Botschaft verstanden", werde aber "weder erschüttert noch zum Denken angeregt".

Das bankrotte Kaff Güllen sieht für Christine Wahl vom Berliner Tagesspiegel (19.4.2014) "eher nach Robert Wilson für Arme" aus. Der Unterhaltungswert dieser "Güllener Billigglitzershow" bleibe auch weit hinter New Yorker Lady-Gaga-Standard zurück. Das leuchte zwar konzeptionell ein, entschädige jedoch nicht für die verschwendete Lebenszeit im Theater. Das Deutsche Theater liefere ein Dürrenmatt-Variante nach dem Motto: "Kann man alles machen, muss man aber nicht."

Ulrich Matthes deklamiere sich als Alfred Ill so sehr in dessen Tragödie hinein, schreibt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (19.4.2014), dass man mitunter meint, diese Inszenierung heiße heimlich "Der Besuch des Ulrich M." Weil Bastian Kraft sonst jedoch den Abend "wie einen gleichermaßen von Brecht und Robert Wilson herkommenden Show-Act" aussehen lasse und gänzlich auf den "Urkonflikt Reichtum gegen Moral" reduziere, bleibe er entscheidende Antworten schuldig. So allumfassend der Abend daherkomme, so wenig aktualitätskonkret sei er auch. "Er legt uns den Gedanken nahe, dass die Gegenüberstellung von Gewinn- und Gerechtigkeitsstreben notwendig in die Irre führt, weil hier Unvergleichbares verglichen wird. Was will dieser Abend damit?"

In der Süddeutschen Zeitung (22.4.2014) schreibt Mounia Meiborg, der Regisseur sei "so etwas wie der Musterschüler unter den jungen Regisseuren". Diesmal inszeniere er aber laut, bunt und riskant. "Bastian Kraft interessiert sich weniger für die einzelnen Figuren. Er nimmt das Stück als Parabel." Konsum- und Menschheitskritik blieben universell. Wenn Bendokat singe, sei das, wie der ganze Abend, "nicht perfekt. Aber eigenwillig und stark."

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