Wunder gescheh'n

von Sophie Diesselhorst

Berlin, 3. Juli 2014. Vielleicht könnte man Angélica Liddell mal mit der Liebes-Verweigerin Christiane Rösinger ("Songs of L. and Hate") zusammenbringen. Dann könnte Liddell von ihrem Liebeswahn berichten, und Rösinger könnte ihr auseinandersetzen, warum sie die romantische Liebe als letztes ideologisches Schlupfloch der Postmoderne so vehement, ja nahezu ideologisch ablehnt. Vielleicht wäre danach alles ok – Kartoffelpüree, zumindest für einen Abend. Aber das wär ja schon mal was, oder?

Im Opfer-Modus

Dass es nervt, ist nicht das Problem. Das hat andere Arbeiten von Angélica Liddell, zum Beispiel ihre Peter-Pan-Variation The Wendy Syndrome nicht davon abgehalten, großartig zu sein. Da wurde allerdings auf großer Bühne Liddells langer finaler Wutausbruch durch erzählerisches Nachspüren seiner Grundlagen verifiziert, also der Welt, so wie Liddell sie sieht. Nicht so in "Tandy". Höflich wird zwar die gleichnamige, schlaglicht-porträthafte Kurzgeschichte aus dem Zyklus "Winesburg, Ohio" von Sherwood Anderson skizziert: Wo ein fünfjähriges Mädchen von einem betrunkenen Streuner auf den Namen "Tandy" getauft wird, sein selbst geschaffenes Wort für "eine Frau, die stark genug ist, die Liebe (eines Mannes) auszuhalten". Und das Mädchen nimmt den Namen an, so sehr, dass es in Weinen und Schreien ausbricht, als sein Vater es bei nächster Gelegenheit mit seinem ursprünglichen Namen anspricht.

tandy1 560 barbara braun mutphoto hTandys Liebesopfer © Barbara Braun / Mutphoto

Liddell arrangiert die Essenz der knapp vierseitigen Geschichte am Anfang in ein schönes Bild: Da liegt "Der Fremde" – Sherwood Anderson gibt dem Namensgeber keinen Namen – auf dem Bauch; um ihn herum ein Kreis aus Schnapsflaschen. Das kleine Mädchen, das später Tandy darstellt, steckt andachtsvoll Blumen in die leeren Flaschen.

Doch sobald Liddell die Bühne für sich alleine hat – die meiste Zeit der 60 Minuten, die "Tandy" dauert – ist Tandy vergessen, verfällt sie in einen verkrampft wirkenden Opfer-Gestus. Auf eine Dramaturgie wird weitestgehend verzichtet; Liddell verlässt sich ganz auf ihre weihevolle Präsenz, die allein aber keine konzentrierte Atmosphäre herzustellen vermag. Ist der Spielort, die ehemalige Kirche St. Agnes in Kreuzberg, seit einem Jahr von Johann König zur Galerie umgeweiht, das Problem? Ist hier zuviel Raum zum Zelebrieren? Liddells zeichenhafter Tribut ist eine Leuchtschrift da, wo mal der Altar war: "There will be miracles" strahlt je nach wechselnder Gefühlslage mal stärker, mal schwächer.

Ultimativer Fatalismus-Kick

Das akustische Pendant ist ein chorisches "Amen, amen", das unter Liddells nach Programmzettel-Information aus dem Tagebuch der Künstlerin entnommenen Suaden über ihren Liebeswahn an- und abschwillt ("Heute habe ich mich gefragt, ob du das Leuchten aus dem Kühlschrank bist" ... "Heute hast du so sehr an mich gedacht, dass ich mich fühle, als hätten wir geheiratet"). Liddell steht die meiste Zeit still in weiß, zwischendurch zieht sie sich mal aus; ihre zu Statisten degradierten Ko-Schauspieler schleichen sich ab und an dazu, um nebenbei vor der Altarzone seltsame Rituale zu vollführen. Bei der sonst für offensive Körperlichkeit (Masturbation, Selbstverletzung) berühmt-berüchtigten Performerin ist der Aktionshöhepunkt eine kleine Szene, in der sie auf dem Rücken vor dem Altar herumrobbt und sich einem nichtvorhandenen Sexualpartner entgegenbäumt.

Das einzig vielversprechend Quälende ist das minutenlange Hundegebell, mit dem der Abend beginnt. Aber spätestens, wenn Liddell den ultimativen Fatalismus-Kick sucht, indem sie zu ihrer Unverstandenheits-Klage über die Pathologisierung des Liebeswahns alte Schwarz-Weiß-Fotos von Frauen in einer Irrenanstalt irgendwo in Ohio projizieren lässt, wird es geschmacklos. Liebe Angélica Liddell, ich musste mir ein Glas Rotwein einschenken, bevor ich anfangen konnte, das hier zu schreiben. Denn in der Kunstkirche ist heute eindeutig zu wenig Herzblut geflossen. Was ist los? Geht es dir zu gut? Bist du etwa verliebt? Ja? Herzlichen Glückwunsch!

 

Tandy
von Sherwood Anderson, Angélica Liddell
Regie, Ausstattung: Angélica Liddell, Bühne: Trasto Decorados, Licht: Carlos Marquerie, Ton: Antonio Navarro.
Mit: Fabián Augusto Gómez Bohórquez, Lola Jiménez, Angélica Liddell, Sindo Puche. Musikensemble: Andreas Arend, Christoph Burmester, Julian Millán, June Telletxea, Niklas Trüstedt.
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

www.berlinerfestspiele.de

 

Kritikenrundschau

Angélica Liddell habe sich bei anderen Performances mit Bier volllaufen lassen, masturbiert, die Knie aufgeritzt, das Blut mit Weißbrot aufgefangen und verspeist, schreibt Ulrich Siedler in der Berliner Zeitung (5.7.2014). "Bei allem legt sie große Betonung auf die Nichtfiktionalität ihrer Bühnenwerke, die ihre eigene Figur/Person einschließt: Alles echt!" Es gehe auch in "Tandy" nicht ums Spielen, sondern wie in der Kirche ums Opfern, Bekennen, Zelebrieren, haue aber nicht hin. "Es finde nichts statt, vor dem man sich fürchten muss, sogar die Spiellänge ist mit einer Stunde unstrapaziös. Kraft und Dringlichkeit verpuffen wirkungsarm."

Die ehemalige St.-Agnes-Kirche in der Alexandrinenstraße abwarf, "ein Gottessarg ist das, eine Huldigung an den Beton", hier brauche es eine elementare geistige Kraft, wenn schon die Religion abgedankt hat. "Hat sie? Liddell denkt sich seltsame Rituale aus, um die Leerstelle zu füllen", schreibt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (5.7.2014). Flaschensammler, Barockmusiker, ein bockiges Mädchen und eine Handvoll Performer (auch Liddell selbst) "arbeiten sich durch eine Liturgie des Pathos und der Schäbigkeit. Das Pathos aber ist eher ein Posing und auch die Armut schlecht gespielt". Fazit: "Unfreiwillig komisch. Peinlich auch – eine lange Stunde lang. Bis ein Kindersarg hereingetragen wird, in dem ein Welpe sitzt. So einfach ist die Lösung, so süß: Ein Tierkind ist uns geboren. Wau!"

 

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