Die Komödie, die aus dem Internet kam

von Adrienne Braun

Stuttgart, 18. Juli 2014. Der Postbote steht vor der Tür mit einem Paket. 3166 Gramm ist es schwer und sorgfältig verschnürt. Eine Unterschrift genügt – und plötzlich ist das junge Paar, das sich doch eben erst kennengelernt hat, stolzer Besitzer eines Kindes. Das haben wir nicht bestellt, sagen sie und grübeln, was damit tun. Der Umtausch aber ist ausgeschlossen. Schon ist die große Freiheit dahin, um die es doch gerade erst ging in "Wir Glücksritter" im Theaterhaus Stuttgart. Es beginnt mit einer Podiumsdiskussion zu Kunst und Freiheit, nimmt dann aber wundersame Wendungen.

Literarische Fantasiewelten

Denn das Theaterhaus Stuttgart hat sich ein ungewöhnliches Projekt vorgenommen. Sieben Autorinnen und Autoren haben im Internet Blogs geschrieben, und der Dramaturg Thomas Richhardt hat aus den Einträgen und immerhin 1100 Kommentaren und Dialogen zwischen Literaten und Lesern eine Textfassung erstellt, die erstaunlich leicht und behände das Unvereinbare zu einem kurzweiligen Abend zusammenspannt.

gluecksritter 560 reginabrocke uÜberraschung hinter freistehenden Türen: Das junge Paar und das Babypaket. 
© Regina Brocke

Der Alltag sollte den Autoren den Stoff liefern – und die inhaltlich wie formal ganz unterschiedlichen Beiträge kreisen lose um die Themen Freiheit, Arbeit, Familie sowie die Frage, wie sich das Glück gegen die Banalitäten des Seins verteidigen lässt. Die Geschichte des jungen Paares, das plötzlich mit einem Kind konfrontiert ist, bildet das Gerüst des Stückes, das die Reise mal in eine Kneipe führt und mal nach Indien zur spirituellen Selbstfindung, mit einer Mitfahrgelegenheit ans Meer geht und einkehrt in die enge Schreibstube eines Literaten.

Andreas Altmann hat eine etwas platte Parodie auf Deutsche auf dem Erleuchtungstripp verfasst, während Anna Bronsky ein Casting für die Supermama inszeniert – und dabei die Tristesse einer vom Alltag zerrütteten Familie skizziert. Bei Markus Orths wird deutlich, dass Blogs geduldiger als die Bühne sind und ein Bombardement an tiefschürfenden Sentenzen wie "Egal, was wir tun, am Ende lauert der Tod" auf dem Theater schnell zum hohlen Gefasel wird.

Experiment gelungen

Der Regisseur Oliver Dominique Endreß und das multikulturelle Theaterhaus-Ensemble bekommen aber auch hier die Kurve und treiben mit viel Humor und Lust am Spiel durch literarische Fantasiewelten, die auf der Bühne doch eigentlich gar nicht darstellbar sind. Einer der schönsten Momente des Abends ist, als Yavuz Köroglu, der den frisch gebackenen Vater spielt, in dem Beitrag von Lutz Hübner googelt und dazu auf der Bühne durch freistehende Türen schreitet und in immer neuen – fiktiven – Räumen landet. Hier wird das Surfen durch virtuelle Welten plötzlich greifbar.

Experiment gelungen. Befreit von der Notwendigkeit des zielgerichteten Vorwärtvorwärts des Dramas, gleiten die Szenen leichtfüßig dahin, sind reines Theater, obwohl die im Netz entstandenen Texte ihren spezifischen Charakter bewahren, mal erzählerisch, mal essayistisch sind. Am Ende des Abends übergibt Feridun Zaimoglu einer Schriftstellerin das Wort, denn hinter allen Kommentaren und Szenen steht die kritische Selbstbefragung der Autoren zur Produktion von Literatur an sich. So schreibt die Schriftstellerin (Larissa Ivleva) dann in der letzten Szene den Text "Wir Glücksritter", der im Theaterhaus Stuttgart mit einer Podiumsdiskussion beginnt, als plötzlich der Postmann mit einem Baby im Paket vor der Tür steht ...

 

Wir Glückkinder 
Schauspiel auf der Grundlage der Blogbeiträge von Andreas Altmann, Alina Bronsky, Lutz Hübner, José F. A. Oliver, Markus Orths, Tina Müller, Nellja Veremej, Feridun Zaimoglu und den Kommentatoren von www.blogbuehne.de
Projektleitung: Thomas Richhardt, Regie: Oliver Dominique Endreß, Ausstattung: Astrid Noventa.
Mit: Larissa Ivleva, Aron Keleta, Yavuz Köroglu, Stephan Moos, Anne Osterloh, Ema Staicut und Katja Schmidt-Oehm.
Dauer: 1 Stunde, 15 Minuten, keine Pause

www.theaterhaus.de
www.blogbuehne.de

 

Mehr lesen? Am Beginn des Projekts hat nachtkritk.de auch schon mal einen Blick auf die Blogbühne geworfen.

 

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