Das doppelte Charlottchen

von Thomas Rothschild

Salzburg, 28. Juli 2014. Man muss den Weggang Alexander Pereiras aus Salzburg nicht bedauern, um anzuerkennen, dass die Vergabe von Kompositionsaufträgen zu seinen Verdiensten zählt. Derlei versteht sich ja leider nicht von selbst. In Bregenz hat David Pountney eine ähnliche Strategie der Arbeitsaufträge und Wiederentdeckungen verfolgt. Seine Nachfolgerin Elisabeth Sobotka will in Zukunft darauf verzichten.

Die Stoffwahl der diesjährigen Salzburger Uraufführung dementiert das Vorurteil, dass Oper und politisches Engagement nicht zusammengingen. Und wieder darf man an Bregenz denken. Mit der Ausgrabung von Mieczysław Weinbergs "Passagierin" hat Pountney nicht nur einen Höhepunkt seiner Intendanz gesetzt, sondern auch überzeugend nachgewiesen, dass selbst ein so diffiziles Thema wie die Erinnerung an die Konzentrationslager der Nationalsozialisten auf der Opernbühne seinen Platz hat, dass dies weder in Peinlichkeit, noch in ästhetisierende Verharmlosung des Schreckens münden muss. Mit der nun von Marc-André Dalbavie für Salzburg komponierten "Charlotte Salomon" wird diese Erfahrung erneuert. Und mit Barbara Honigmann als Librettistin und Luc Bondy als Regisseur hat Salzburg gewiss ein adäquates Team zusammengestellt.

Notwendigkeit des Singens

Es klingt so pauschal einigermaßen verwegen, wenn Dalbavie erklärt, es sei wichtig, für eine Oper eine Geschichte zu wählen, die mit Musik zu tun hat. Man brauche, sagt er, eine Notwendigkeit zu singen. Sonst könnte man das Ganze ja auch im Kino erzählen. Genau das geschieht zurzeit landauf landab: Im Theater wird gezeigt, was man auch im Roman oder eben im Kino erzählen kann. Und die Notwendigkeit zu singen drängt sich, beispielsweise, bei Woyzeck oder bei Moses und Aron, auch bei Julius Cäsar, Lucio Silla, Othello oder den schwindsüchtigen Violetta und Mimi nicht gerade auf.

charlotte salomon1 560 salzburger festspiele ruth walz uGedoppelt: vor Charlotte Salomons Gouache singt Marianne Crebassa und spricht
Johanna Wokalek © Ruth Walz

Aber sei's drum. Die historische Charlotte Salomon jedenfalls hat ein eigentümliches, aus Hunderten von Gouachen bestehendes Buch mit dem Titel "Leben? oder Theater?" geschaffen (die Schreibweise des Titels schwankt in der Sekundärliteratur), das sie selbst als "Singespiel" bezeichnet, und es ist überliefert, dass sie tatsächlich viel gesungen hat. In dem Buch zitiert Salomon zahlreiche Musiktitel, von Arien aus dem "Freischütz" oder aus "Carmen" über Volks- und Kunstlieder bis zu Operettenschlagern und sogar dem "Horst-Wessel-Lied", und Dalbavie zitiert seinerseits Musikfetzen, die aus diesem Zusammenhang stammen.

Tod in Auschwitz

Zu einer Geschichte oder vielmehr zum dramatischen Stoff wird die Lebensgeschichte vom Selbstmord der Mutter über die Liebe zur Stiefmutter, die Reise nach Rom, das Kunststudium in Berlin, die Machtergreifung der Nazis und die Gründung des Kulturbunds der Juden (in Anwesenheit eines singenden Goebbels) bis zur Liaison mit dem Geliebten der Stiefmutter durch den Tod der jungen Frau in Auschwitz. 

Peter Zadek und George Tabori wären vielleicht vor der melodramatischen Rührseligkeit zurückgeschreckt, die als Gefahr stets lauert, wo eine Heldin im KZ ermordet wird, zumal wenn es sich nicht um Fiktion handelt. Aber Zadek und Tabori sind tot. Luc Bondys Zugang zum Theater, das wissen wir, wie zur Geschichte der Juden, die im Schicksal der Charlotte Salomon eine paradigmatische Repräsentation findet, ist ein anderer. Er inszeniert behutsam, diskret, zurückhaltend. Grelle Farben oder gar Humor sind nicht seine Stilmittel.

Tonaler Kosmos

Der 1961 geborene Franzose Marc-André Dalbavie, der das Mozarteumorchester Salzburg selbst dirigiert, wird der Spektralmusik zugerechnet. Er hat unter anderem bei Tristan Murail studiert, einem der Hauptvertreter dieser Richtung, die die Möglichkeiten des Klangs auszuloten bemüht ist. 2010 wurde in Zürich unter der Intendanz Pereira (man kennt sich) seine erste Oper "Gesualdo" uraufgeführt. In "Charlotte Salomon" allerdings stößt Dalbavie, nachdem sich die musikalischen Zitate erschöpft haben und er die Erweiterung des tonalen Kosmos durchexerziert hat, aus dem diese Zitate zehren, bald an die Grenzen seiner Erfindungskraft. Am Schluss steht der Kanon, mit dem die Oper auch eröffnet wurde: musikalisch eher schlicht, aber dramaturgisch effektvoll.

charlotte salomon2 560 salzburger festspiele ruth walz uSzenen eines Lebens: "Charlotte Salomon" © Ruth Walz

Honigmann, die sich weitgehend an den Wortlaut von Salomons Buch hält, auch mal die Passage über den Pass als edelstem Teil von einem Menschen aus Brechts "Flüchtlingsgesprächen" einfügt, und Dalbavie haben die Figur der Charlotte Salomon, die sich in ihrem Buch Charlotte Kann nennt, verdoppelt. Sie wird von einer Schauspielerin (mit bewundernswerter Sprechdisziplin: Johanna Wokalek) und einer Sängerin (der stimmlich wie schauspielerisch bestechenden Mezzosopranistin Marianne Crebassa) verkörpert. Während die redende Charlotte in der dritten Person und in deutscher Sprache von sich erzählt, spricht ihr fiktionalisiertes alter ego, die singende Charlotte, in der ersten Person und vorwiegend französisch.

Projizierbare Panoramabühne

Doppelung ist überhaupt ein Prinzip dieser Oper. Der Text beschreibt, was man auf einer von Charlotte Salomons Gouachen sieht, und zugleich sieht man die auf die Rückwand projizierte Gouache. Johannes Schütz hat vor die Logen der Felsenreitschule eine niedrige weiße Panoramabühne gebaut, die Räume neben einander reiht, in denen bescheiden ein paar Betten, Tische, Stühle, ein Klavier stehen. Sie ermöglichen eine Szenenfolge, die den Phasen eines Comicstrips ähnelt. Die Türen gestatten Auftritte von hinten und ersparen so den Personen lange Wege. Die Zwischenwände können entfernt werden und so den Querraum vergrößern. Die zugleich schwierigen wie verführerischen Vorgaben der Felsenreitschule nützt diese Inszenierung nicht.

Alles in allem also: ein Versuch, der das Risiko gelohnt hat, den jeder Auftrag enthält, wenngleich nicht die Sensation, als die Weinbergs "Passagierin" gelten durfte. Das Publikum spendete freundlichen, nicht überschwänglichen Applaus. Buhs, wie am Vorabend bei "Don Giovanni", blieben aus.

                                                                                                               

Charlotte Salomon
von Marc-André Dalbavie
Regie: Luc Bondy, Musikalische Leitung: Marc-André Dalbavie, Bühne: Johannes Schütz, Kostüme: Moidele Bickel, Dramaturgie: Konrad Kuhn.
Mit: Johanna Wokalek, Marianne Crebassa, Jean-Sébastien Bou, Géraldine Chauvet, Anaïk Morel, Frédéric Antoun, Vincent Le Texier, Cornelia Kallisch, Michal Partyka, Eric Huchet, Annika Schlicht, Wolfgang Resch.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.salzburgerfestspiele.at

 

Kritikenrundschau

"Ja, man kann ohne Übertreibung sagen: Knapp zweieinhalb Stunden lang wurde das Publikum in Bann geschlagen", schreibt Eleonore Büning in der der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (30.7.2014). Hier sei ein "feines, äußerst fragiles Frage-und- Antwort-Spiel" entstanden, "eine enge, ausdrucksreiche Korrespondenz aus schnellen Echos, die zwischen Darstellern, Orchester und Bühne hin und her flitzen". Ein derart zartes Gesamtkunstwerk wäre leicht zerstörbar gewesen durch grobe Regiehände – "was bei Luc Bondy und seinen Leuten nicht der Fall ist".

"Fast zweieinhalb mehr und mehr ermüdende Stunden lang hört und sieht man viel Lauteres, wenig wirklich Kreatives, kaum musikdramatisches Eigenleben", findet hingegen Manuel Brug in der Welt (30.7.2014). Das "problematische Konstrukt, das immerzu alles erzählen will, statt sich auf signifikante Schlaglichter und Schlüsselmomente zu beschränken", ereigne sich in der Felsenreitschule "im völlig falschen Raum". Bondy fädele dort "simultan und sich überlagernd über die ganze Breite, aber eng gedrängt großbürgerliches Leben am Flügel im Musiksalon, Rückzüge im Schlafzimmer, Fluchtbewegungen auf Stühlen" auf. "Die als Videos über die Wände wandernden Bilder der Charlotte Salomon bringen Farben und Bewegung, aber keine Spannung. Sie steigern nur noch mit ihrer zeigefingernden Authentizität den pädagogischen Ansatz, der sich nie zur wirklich bannenden Bühnenexistenz verlebendigt."

"Die Aufführung wurde von Luc Bondy zu bedeutender, auf sachlich-unsentimentale Professionalität gestützter Wirkung gebracht", resümiert wiederum Hans-Klaus Jungheinrich in der Frankfurter Rundschau (30.7.2014). Die bildliche Attraktivität und Authentizität seiner Inszenierung zehrten von den reichlich projizierten Malereien Charlotte Salomons, die cartoonartig ganze Geschichten erzählen.

"Niemand klagt an in dem Stück, es gibt eine Lakonie", sage Luc Bondy, berichtet Wolfgang Schreiber in der Süddeutschen Zeitung (30.7.2014). Dem entspreche Bondys "handwerklich bedachtsame, einfühlende Regie, die mit lebhaften Gruppierungen bürgerlicher Familienpantomimik eine greifbare Bewegungssprache schafft". Wobei er in den fast zweieinhalb pausenlosen Stunden auch Längen in Kauf nehme und nicht vor sentimentalen Bildern zurückschrecke. Es dauere eine Weile, bis die dekonstruierte Geschichte als Collage von Erinnerungen und Szenen, von Gegenwart und Vergangenheit, Sprechen und Singen ihren Sog entfalte. "Daran hat das exzellente, virtuos agierende und sängerisch großartig engagierte Ensemble seinen Anteil."

Eigenartig harmlos findet Peter Hagmann in der Neuen Zürcher Zeitung (online: 29.7.2014) das Projekt. Bondys Inszenierung nähere sich dem Stoff "mit blendender Virtuosität" und kompensiere über weite Strecken, was die Musik verpasst. Bondy nutze die szenische Anlage "für den Ausbau jener Synchronität, die im Libretto angelegt ist. Vieles läuft hier stumm auf Nebenschauplätzen ab und sichert den Geschehen damit bedrückende Gegenwärtigkeit."

Regisseur Luc Bondy habe diese Kammeroper "immerhin fein wie mit dem Silberstift inszeniert", schreibt Regine Müller in der taz (12.8.2014). Ansonsten krankt das Projekt aus ihrer Sicht an an formalen Schwächen: Bondy habe erst spät den Librettisten austauschen lassen, "nun hat die Schriftstellerin Barbara Honigmann an die originalen Salomon-Sätze Zitate von Kant, Brecht und Rilke montiert, was sprachlich holpert und im Gestus akademisch belehrend bleibt." Auch stellt sich für die Kritikerin bei der Aufteilung der Titelrolle auf eine Sängerin und einer Schaupielerin "die erwünschte Spannung der Ego- und Alter-Ego-Konstellation will sich nicht recht ein".

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