Alle wollen Chilly

von Falk Schreiber

Hamburg, 6. August 2014. Praktisch alle deutschsprachigen Theater rissen sich darum, etwas mit Chilly Gonzales zu machen, erzählt András Siebold, künstlerischer Leiter des Internationalen Sommerfestivals Hamburg. Ob die Geschichte stimmt oder nicht: Gonzales, 1970 unter dem Namen Jason Charles Beck in Kanada geboren und mittlerweile in Köln heimisch, ist das perfekte Theaterfutter, ein Grenzgänger zwischen begnadetem Rampensautum, klassischer Virtuosität und clubgestählter Coolness, der mühelos zwischen Lecture, Comedy, HipHop und E-Musik zu wechseln weiß. Allerdings ist Gonzales auch ein reizender Querkopf, der sich ungern an ein Projekt binden lässt – weswegen alle Versuche, sein Talent fürs Theater nutzbar zu machen, scheiterten.

Hip mit Puppetmastaz

Bis jetzt. Denn "The Shadow", eine Musiktheaterperformance nach Hans Christian Andersens "Der Schatten", ist nun tatsächlich Theater, das auch wirklich zur Aufführung kommt, eine Produktion des Kölner Schauspiels (Premiere am Rhein: 11. September) gemeinsam mit dem Internationalen Sommerfestival, dessen Eröffnung die Uraufführung darstellt. Sehr zur Freude von Siebold, der damit erstens seinen Ruf als Möglichmacher stärkt und zweitens den Sommerfestival-Leitsatz "Off-Theater ist over" aufs Schönste bestätigt: ein quer zum Theaterbetrieb stehender Künstler im Rahmen eines Off-Festivals in Kooperation mit einem Stadttheater, was will man denn mehr?

Die Uraufführung im Kulturzentrum Kampnagel jedenfalls ist geprägt von hohem Hipnessfaktor. Regisseur ist Adam Traynor, von Haus aus Filmregisseur und Musiker bei den Puppentheater-HipHoppern Puppetmastaz, Kostüme kommen vom Hamburger Szenecouturier Bent Angelo Jensen (Herr von Eden), und für Schattenspiel zeichnet der französische Zauber- und Schattenkünstler Philippe Beau verantwortlich. Was eindrucksvoll klingt, aber verschleiert, dass "The Shadow" auf der Theaterebene verhältnismäßig wenig hergibt.

Vorlagentreu mit Texttafeln

Im Grunde erzählen Traynor und Gonzales nämlich Andersens 1847 erschienenes Kunstmärchen "Der Schatten" recht vorlagengetreu nach: Der Schatten eines Gelehrten macht sich selbstständig, dringt in die intimsten Bereiche der Menschen ein und wendet sich am Ende gegen seinen ehemaligen Herrn. Die Geschichte, in der das zu Zeiten Andersens populäre Doppelgängermotiv ebenso auftaucht wie die Sehnsucht nach einem anderen, nicht von Moral oder Gewissen angekränkelten Leben, setzt Traynor mit den Mitteln des Stummfilms, des Scherenschnitts und des Schattenspiels um: Meist agieren die Figuren als Schlagschatten hinter durchscheinenden Wänden, und wenn die Handlung voranschreitet, wird das durch altertümliche Texttafeln angezeigt.

shadow4 560 thomas aurin hLinks unscharf im Hintergrund: Chilly Gonzales am Klavier © Thomas Aurin

Für die Schauspieler, darunter Niklas Kohrt als Gelehrter und die wunderbare Melanie Kretschmann als Schatten, ist das ein wenig unbefriedigend – ihr Talent können sie kaum ausspielen, wo sie auf ausholende Bewegungen und weit aufgerissene Augen reduziert werden, irgendwo zwischen Biedermeier und Expressionismus. Wenigstens die auch für die Choreografie zuständige Sabina Perry kann die strenge Ästhetik des Abends ein wenig dehnen, indem sie als gemeinsames Love Interest von Schatten wie Schattenwerfer aufs Aparteste über die Bühne tanzt. Für die sinnlichen Elemente ist ansonsten allerdings Gonzales verantwortlich. Der sitzt am Piano und spielt, unterstützt von einem Streichquartett und zwei weiteren Musikern, einen wahnwitzigen Score, der innerhalb von Sekunden zwischen perlendem Jazz, Vaudeville, minimalistischer E-Musik und süßlichen Streicherharmonien wechselt, der die Handlung kommentiert, konterkariert, doppelt und ironisiert.

Zwanzig Jahre zurück

"The Shadow" ist geprägt von einer stillen Ästhetik, die vollkommen aus der Zeit gefallen zu scheint: Alles an dieser Produktion passt zusammen, aber trotzdem stimmt etwas nicht. Festivalchef Siebold wünscht sich ein Theater, bei dem verschiedene Stile, Medien und Genres aufeinanderprallen; aber dass bei diesem Aufeinanderprallen ein Bildertheater entsteht, das in erster Linie ob seiner technischen Virtuosität begeistert, formal jedoch noch hinter Robert Wilson vor zwanzig Jahren zurückfällt, hätte er sich wohl kaum träumen lassen. Aber klar: Man kann die stille, verrätselte Ästhetik von "The Shadow" schätzen. Man kann die Uneindeutigkeit des Schlusses interessant finden. Man kann auch anerkennen, dass Traynor ein Theater entwickelt, das sich vor allem als Verzauberung versteht.

Und schließlich kann man nicht genug loben, dass sich dieses künstlerische Leitungsteam aus Quereinsteigern den Erwartungen verweigert, indem es nicht etwa frischen Wind ins Theater bringt, sondern den alten Theatermuff noch einmal so intelligent bebildert, als ob er neu wäre. Am Ende aber steht trotzdem eine handwerklich unglaublich anspruchsvolle Petitesse, die es sich wohlig eingerichtet hat in ihrer bis ins Letzte durchdachten Irrelevanz.

 

The Shadow
Von Chilly Gonzales und Adam Traynor nach Hans Christian Andersen
Regie: Adam Traynor, Textadaption: Adam Traynor & Chilly Gonzales, Komposition: Chilly Gonzales, Beratung Schattenbilder: Philippe Beau, Bühne: Jens Kilian, Kostüme: Bent Angelo Jensen (Herr Von Eden), Choreografie: Sabina Perry, Licht: Freddy Niss, Dramaturgie: Michaela Kretschmann.
Mit: Chilly Gonzales, Kaiser Quartett & Friends (Musik), Niklas Kohrt, Melanie Kretschmann, Sabina Perry, Philipp Plessmann, Statisten: Daniel Calladine, Jana Jungbluth, Till Klein, Torsten Matzke.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.kampnagel.de
www.chillygonzales.com
www.schauspielkoeln.de

 

Kritikenrundschau

"Der Protagonist dieses Abends ist: Gonzales' Musik", meint Kristin Haug auf Spiegel Online (7.8.2014). Regisseur Traynor und Komponist Gonzales begäben sich auf eine Achterbahnfahrt durch Genres und Zeiten. "Ebenso wie Traynor mit der Zeitlichkeit spielt, spielt Gonzales mit den Musikstilen." Am Ende überspannten Traynor und Gonzales das Märchen leider zu sehr, "der Zuschauer ist erschlagen, von all den Schattenspielen und den vielen Genres."

"Während Gonzales sich mit seinem vorzüglichen Hamburger Kaiser Quartett & Friends auf einem Rondell verschanzt und seine selbst komponierte, schwelgerische, bisweilen zuckrige, Hollywood-verliebte Kammermusik abliefert, bleibt das Spiel der Darsteller in Stummfilm-Manier auf der Bühne eigenartig gekünstelt", gibt Annette Stiekele im Hamburger Abendblatt (8.8.2014) zu Protokoll. Wo die Faszination, der Stummfilmkunst im Kinohit "The Artist" gekonnt wiederbelebt worden sei, wirke sie hier seltsam langatmig und überholt. "Ein allzu kulinarischer Auftakt eines ausdrücklich als solches ausgewiesenen Avantgarde-Festivals."

Zwei Stunden lang kombinieren Gonzales und Traynor Heil ein ständiges Zuviel an falschem Ausdruck mit einem ständigen Zuwenig an Inhalt, Idee und Inspiration, schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (8.8.2014). "Bereits nach wenigen Minuten ist klar: Wenn Naivität Schatten werfen könnte, wäre die Bühne den Abend lang schwarz." Die an Symbolik so reiche Geschichte über die Zwillingsgestalt von Gut und Böse bleibe trotz zweistündigem Szenenstreckbett aufs dürftigste verkürzt. "Die völlige Abwesenheit von Originalität wird potenziert durch die Ausdauer, mit der sie zelebriert wird."

Von einer "wahrhaft berauschenden Eröffnungspremiere" schreibt Alexander Kohlmann in der taz (8.8.2014). Gonzales vertraue ganz auf die Kraft seiner Musik. Im Gegensatz zum Märchen lasse der Abend bewusst offen, ob mit dem Schatten tatsächlich das Böse gewinnt, oder aber hier im Schattenspiel eine Persönlichkeit zu sich selbst findet, die auch das Sinnliche, Leidenschaftliche und Brutale zu integrieren weiß. "Ein unheimlich-schöner Stoff ist das, für Diskussionen bis in die Nacht."

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