Mutter, Tupper, Rebellion

von Eva Biringer

Berlin, 21. August 2014. In "Taksim forever", Nicole Oders erster Regiearbeit an der Neuköllner Oper, werden Gewissenskonflikte und retardierende Momente mit einem bedrohlichen Brummton unterlegt. Kerem Can (Text) und Can Erdogan-Sus (Komposition) verarbeiten in ihrem Stück die Istanbuler Geschehnisse des vergangenen Sommers. Dem auf Theaterbühnen inflationär eingesetzten Kunstnebel kommt zur Abwechslung einmal die Bedeutung von Tränengas zu. Später, als der die Bühne überspannende Gazevorhang gefallen ist, geben Leyla (Pinar Erincin mit überwiegend glaubhaftem Revolutionsfuror), Ben (Johannes Hubert als Soundfrickler mit Glaubwürdigkeitsproblem) und das übrige Ensemble eine Rockstarshow. Dazu wird der Bühnennebel wieder seiner ursprünglichen Funktion zugeführt, auch wenn die sich weder Rockkonzertbesuchern noch Theatergängern jemals vollständig erschließen wird.

Dämmern

Was sich dem Theatergänger schnell erschließt, ist der Generationenkonflikt, um den es auch geht in "Taksim forever." Leylas Mutter Nur (Hürdem Riethmüller) dämmert seidenpyjamatragend auf der Chaiselongue weg, während draußen die Revolution ihr Kind frisst. Kurzzeitig aus dem Schlaf aufgeschreckt, stopft sie Tupperware mit Vorgekochtem in dessen Rucksack. Bens Vater (Alexander Ebeert) muss für's Gegenteil herhalten, ein desillusionierter Ex-Birkenstockler, der Protestsongs in die Gitarrensaiten haut, ironisch natürlich.

taksimforever muratdikenci 280h matthiasheyde uMurat Dikenci mit der Maske von Ministerpräsident Erdoğan © Matthias Heyde

Musik

Völlig unironisch hingegen agiert das sechsköpfige Orchester, dessen Sound das Laienohr als Folklore zu erkennen glaubt. Gesungen wird auf Türkisch, die Übersetzung erfolgt per Videoprojektion. Das Türkische, heißt es, sei eine sehr viel bildgewaltigere Sprache als das Deutsche, was erklären würde, warum viele der Metaphern in der Übersetzung holpern. Einmal wird zu dieser schönen, da unironischen Musik ausgelassen getanzt, ein schön-bunter Fatih-Akin-Moment. Meist jedoch überwiegt das Pathos der Liedtexte.

Ironie

Dabei gibt es Momente zaghafter Ironie, wie die zum Symbol umgemünzte Türkeiflagge (Ausstattung: Yvonne Kalles). Aus dem Halbmond wird ein Pacman mit aufgerissenem Maul, in dem das Twitter-Vögelchen flattert, als Referenz an die Macht der digitalen Crowd (an die auch der Hashtag im Titel des Stücks gemahnt). Ebenso die Pinguinsequenz, über die auch nur die schlaftrunkene Pyjamamutter staunt – wobei sich deren Infamie bekannterweise aus der Realität speist. Es gibt aber auch den Moment, wo Flugblätter ins Publikum segeln, darauf steht der Text des Liedes, das gerade auf der Bühne gesungen wird. Das ist, weil das Publikum mitsingen soll.

taksim-forever 560 ensemble matthias heyde uPinar Erincin (Mitte) und das rockende Ensemble im Bühnen-Rockkonzert-Nebel
© Matthias Heyde

Agitprop

Dabei werden selbst jene, die stumm bleiben, dem Stück nicht seine politische Dringlichkeit absprechen. So ist man gewillt, zwei Augen zuzudrücken, wie wenn man beim Durchzappen aus Pflichtgefühl bei der Tagesschau hängenbleibt und sich wirklich Mühe gibt, dem Weltgeschehen zu folgen, obwohl man nur auf das Ende des Werbeblocks wartet. Allein: es hilft nichts. Der an sich brisante Stoff gerät zu einer Flut an Parolen, Worthülsen, Überbleibseln aus vier oder fünf Jahrzehnten Agitprop-Blabla: "Glaub nicht alles, was in den Zeitungen steht", "Keine Macht für Niemand", "Wir sind das Volk." Ja, es weht ein unverkennbar roter wind of change über die Neuköllner Opernbühne.

Nach dem Showdown, als der Theaternebel sich zu lichten beginnt und die Zuschauer tief Luft holen, begegnen sich die Tupperdosenmama und der Klampfenpapa auf dem Trümmerfeld. "Ich weiß nicht, ob es sich noch zu kämpfen lohnt", sagt der Vater. Im Hintergrund brummt der bedrohliche Brummton.

 

Taksim Forever – #Rüyalar parkı 
Regie: Nicole Oder, Musikalische Leitung: Bijan Azadian, Ausstattung: Yvonne Kalles, Video/Sound: Vincent Stefan, Dramaturgie: Bernhard Glocksin. 
Band: Bijan Azadian/Dominik Walenciak, Christin Dross/Philippe Perotto/Sibylle Strobel, Anja-Susann Hammer/Susanne Wohlleber, Max Nauta/Omar Ibrahim;Sidney Pfnür / Karola Elssner; Malte Weberruss /Johannes Haage; Jörg Trinks/Kilian Blum. 
Mit: Murat Dikenci, Johannes Hubert, Alexander Ebeert, Pinar Erincin, Hürdem Riethmüller.
Dauer: 2 Stunden, eine Pause. 

www.neukoellneroper.de

 

 
Kritikenrundschau

"Gut gemeint, aber nicht sonderlich gut gemacht", findet Manuel Brug vom rbb Kulturradio (22.8.2014) diese "Songfolge, die sich lose und mit vielen Klischees überladen mit dem Aufstand am Istanbuler Taksim Platz vor über einem Jahr auseinandersetzt." Die Lieder "klingen routiniert folkloristisch mit viel Klarinettengeblubber und sind noch hochpathetischer als die Texte".

Nicht minder kritisch berichtet Ute Büsing im Inforadio des rbb (22.8.2014) von diesem "doch etwas schwerfälligen Singspiel", das kaum "ein emotionales Verständnis für die Gemengelage" in der Türkei vermittle – "auch wenn immer wieder hektisch gesampelte Protestfetzen eingeblendet werden". Selbst die "Einführung von für das unterhaltende Musiktheater, wie es an der Neuköllner Oper gepflegt wird, typischen Figuren, bringt 'Taksim Forever' nicht voran."

In den Deutsch-Türkischen Nachrichten (22.8.2014) schreibt ein anonymer Rezensent: "Durch eine beachtliche Leistung stach die Hauptdarstellerin Pinar Erincin ... hervor." Ihr Spiel sei "souverän und authentisch" gewesen, "vielleicht, weil die junge Schauspielerin mit eigenen Augen gesehen und erlebt hat, was in Istanbul vor einem Jahr geschehen ist." Murat Dikenci lasse den "Literatur studierenden Paradiesvogel" Deniz "liebevoll" zum "guten Geist Taksims" werden. "Bedeutend" sei auch, die von Can Erdogan-Sus komponierte und von Bijan Azadian umgesetzte Musik. Sie gehe "wunderbar ins Ohr", sei "mitreißend" und habe auch die nicht-türkischsprachigen Zuschauer überzeugt. "Taksim forever" sei ein "schöner", "leicht verdaulicher" "Versuch die Geschehnisse auf dem Taksim-Platz in einen historischen und gesellschaftlichen Rahmen einzubetten", auch wenn das Stück an mancher Stelle "etwas plakativ und vorhersehbar" erscheine.

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