Chaos & Naivität

von Falk Schreiber

Hamburg, 22. August 2014. Das Reich der Zeichen ist ein Irrgarten. Oder: ein unübersichtliches Knäuel von Verweisen, bei denen man nicht einmal im Ansatz versteht, auf was sie sich beziehen – bis man nur noch Lärm wahrnimmt, Lärm und Dunkelheit. Willkommen bei "Noise and Darkness", dem neuen Stück der japanischen Radikaltheatergruppe Miss Revolutionary Idol Berserker beim Internationalen Sommerfestival Hamburg.

Apokalyptische Kunstphilosophie

Vor einem Jahr tauchte die Tokioter Gruppe um Regisseurin Toco Nikaido erstmals in Europa auf: Ebenfalls beim Sommerfestival präsentierte sie auf Kampnagel ihre Performance "Ms. Berserker Atttttacks!! Elektro Schock! Luv! Luv! Luv! Shout!!!!!" Und schon dort zeigten sich die Grundprinzipien dieses Theaters: eines Theaters, das das gesamte Instrumentarium der japanischen Popkultur nutzt, von ritualisierter Gewalt über fetischisierte Sexualität bis zu dem raumgreifenden Niedlichkeitskonzept "Kawaii" (japanisch für "süß"). Mittels konsequenter Reizüberflutung schaffen Miss Revolutionary Idol Berserker so die Illusion des absoluten Chaos, der Zuschauer wird bombardiert mit Eindrücken, Videos, Gesang, Tanz, aber auch ganz konkret mit Flüssigkeiten und Lebensmitteln. Bis er nicht mehr anders kann und sich einem dröhnenden Nichtverstehen hingibt.

noiseanddarkness missrevolutionary 560 peterhoennemann uDie japanische Radikaltheatergruppe "Miss Revolutionary Idol Berserker" 
© Peter Hönnemann

Auf den ersten Blick macht "Noise and Darkness" nicht den Eindruck einer signifikanten Weiterentwicklung. Auch hier bevölkern über 20 Performer die Bühne. Auch hier weiß man nicht, auf was man sich konzentrieren soll, weil ständig mehrere Aktionen in ohrenbetäubender Lautstärke parallel ablaufen. Auch hier muss man immer darauf gefasst sein, einen Eimer Wasser über den Kopf geschüttet zu bekommen. Oder Tofureste. Oder Algen. Aber etwas hat sich verändert: Man realisiert plötzlich, dass das entstehende Chaos einzig ein Chaos im Kopf des Zuschauers ist. Auf der Bühne hingegen läuft eine strenge Choreografie ab, die Nikaido im Programmheft gar in die Nähe von militärischem Drill rückt.

Auf der Inhaltsebene freilich bleibt "Noise and Darkness" so unverständlich wie "Ms. Berserker Atttttacks!!", zumindest bei einem Publikum ohne Japanischkenntnisse. Zwar gibt es einige inhaltliche Fixpunkte: Kurz tauchen Motive einer apokalyptischen Kunstphilosophie auf, immer wieder werden japanische Kriegsflaggen geschwenkt, und manche Massenchoreographien wirken beunruhigend totalitär. Aber ob das mehr ist als nur ein hohldrehendes Zeichensystem, in dem faschistoide Bezüge sofort vom nächsten J-Pop-Video abgelöst werden? Kawaii!!!

Ein alternder Roboter verliebt sich

Der Nachtkritiker jedenfalls ist im Wortsinne überrollt. Und geht erst einmal bis auf die Haut durchnässt in die Nachbarhalle, wo der kanadische Musiker und Comiczeichner Eric San alias Kid Koala sein Stück "Nufonia must fall" zeigt. Das ist ein roter Faden im Sommerfestival: kanadische (Pop-)Künstler, die die Grenzbereiche des Musiktheaters ausloten, angefangen mit Chilly Gonzales, dessen The Shadow als Schattenspiel eine mittlere Katastrophe war, über den Rapper Socalled mit dem zauberhaften Puppentheater "The Season", bis jetzt zu Eric San, dessen liebenswert-naive Lovestory sich als musikuntermalter Live-Film mit Stabpuppen entpuppt.

Inszeniert wird das Ganze von K.K. Barrett, hauptberuflich Setdesigner im US-Edel-Indiekino zwischen "Being John Malkovich", "Lost in Translation" und "Her" – und über das Setdesign funktioniert auch "Nufonia must fall". Im Grunde ist die Story (alternder Roboter verliebt sich in Roboterkonstrukteurin und kriegt sie nach einigem Hin und Her auch) Boy-meets-Girl-Konvention, die, um ehrlich zu sein, streckenweise auch gehörig langweilt. Barrett aber baut solch perfekte Schuhkartonsettings, in denen liebevoll designte Puppen einander finden, verlieren und wiederfinden, dass man über die Handlung gnädig einen Mantel des Schweigens breiten möchte.

kid koala s nufonia must fall  560 aj korkidakis u.jpgThe same old Story als virtuoses Puppenspiel: Boy meets Girl. © AJ Korkidakis

Die vierte Wand steht

Zumal die Inszenierung auf einer weiteren Ebene durchaus einigen Reiz entwickelt: Sie spielt zwar mit der Illusion des Films, bricht diese Illusion allerdings immer wieder, indem sie ihren Herstellungsprozess offenlegt. Die Puppenspieler etwa sind ständig zu sehen, man sieht auch, wie neue Bühnenbilder herangeschafft und alte entsorgt werden, man vollzieht die Bewegungen der Kameras mit – und ist ziemlich schnell gefesselt von der Virtuosität, mit der diese Theatermaschinerie arbeitet. Die vierte Wand wird dabei gleichzeitig thematisiert wie auch überspielt, etwa wenn sich San zu Beginn ans Publikum wendet und ein (ein wenig läppisches) Bingospiel mit seinen Comiczeichnungen moderiert oder wenn Barrett mit den Zuschauern plaudert.

Der Umgang mit der vierten Wand ist ein klein wenig der Missing Link zwischen den beiden ansonsten extrem unterschiedlichen Premieren dieses Abends: Wird die vierte Wand von "Nufonia must fall" mit Charme und Virtuosität überspielt, so wird sie von "Noise and Darkness" mit roher Gewalt überrannt. Was nichts daran ändert, dass sie da ist. Aber beide Inszenierungen lassen einen mit ihren hochvirtuosen Tricks glauben, sie sei eingerissen.

 

Noise and Darkness
von Miss Revolutionary Idol Berserker
Konzept, Musik, Regie: Toco Nikaido, Licht, Company Manager: Ryo Kabasawa, Stage Manager: Junichi Takahashi, Video: Ryuta Yaguchi, Sound: Floz Klotz.
Mit: Masami Kato, Amanda Waddell, Eri Takamura, Yukari Ando, Ayana Ito, Ako Itani, Toshiro Dynamite-bady-Oh Ogwa, Tetsuya Koma, Arisa Kobayashi, Motoki Saga, Sayumi, Momo Suzuki, Ikumi Suzuki, Ayaka Someya, Yukiko Takeda, Taishi Dekimoto, Daisuke Tobita, Kosei Hashimoto, Shun Hirose, Ichiyo Fujita, Kazuya Horii, Issei Mori, Midori Mori, Takayuki Yamaoka
Dauer: 40 Minuten, keine Pause


Nufonia must fall

von Kid Koala
Kreation, Musik: Eric San (Kid Koala), Regie: K.K. Barrett, Bühne: Benjamin Gerlis, Puppendesigner/-spieler: Clea Minaker, Patrick Martel (nur Design), Félix Boisvert, Karina Bleau, Kamera: AJ Korkidakis, Musikalische Leitung, Ton: Vid Cousins, Live Musik: Kid Koala and The Afiara Quartet, Produzentin: Ryhna Thompson, Tour Manager: Patrick Hamou, Produktionsleitung, Inspizienz: Olivier Gaudet-Savard, Video Editor: Ben Knight.
Dauer: 1 Stunde 5 Minuten, keine Pause


www.missrevodolbbbbbbbberserker.asia
www.kidkoala.com
www.kampnagel.de



Kritikenrundschau

Unter der Überschrift "'Miss Revolutionary' macht sie alle nass" berichtet Daniel Sprenger für den NDR (online 22.8.2014). "Man kann sich fragen, was das alles eigentlich soll – oder sich der Suche nach einer allzu tiefen Bedeutung des orgiastischen Reigens verweigern und stattdessen staunen über die schnellen Verwandlungen der Protagonisten." Das Programm von Miss Revolutionary Idol Berserker wirke "wie ein völlig außer Kontrolle geratener Kindergeburtstag", das heißt: "Die 28 Darsteller dürfen tun, was Menschen – wenn sie tief in sich hineinhorchen und Konventionen über Bord werfen – in jedem Lebensalter wohl gerne mal machen würden: wild tanzen, laut singen und für lebhaftes Chaos sorgen. Ob mit Konfetti schmeißen, in Vuvuzelas blasen oder mit Luftschlangen das Publikum fesseln: Erlaubt ist, was Spaß macht – und nass."

"Japanisches Überfalltheater lädt zur Materialschlacht" betitelt das Hamburger Abendblatt (online 23.8.2014) den Beitrag von asti (Annette Stiekele). Die Abende von Miss Revolutionary Idol Berserker seien "Überfallkommandos auf alle Sinne. Ebenso diffuse wie großartige Zeichenstürme aus Musik, Film, Aktion, auf hohem Dezibelniveau, Farbenmeer, Konfetti, zig Dosen Haarspray – und etlichen Eimern Algenwasser, die auf die sich unter Regencapes duckenden Zuschauer niedergehen." Fazit zum Kampnagel-Gastspiel: "Schön."

Allein für diesen Abend habe sich "der erstmals von der Finnin Virve Sutinen so souverän wie locker kuratorisch verwalteten Reigen", also das Festival "Tanz im August" 2014 in Berlin, wo Miss Revolutionary Idol Berserker von Kampnagel aus hinzog, gelohnt, schreibt Manuel Brug in seinem Festivalrückblick in der Welt (1.9.2014) und bezeichnet "Noise and Darkness" als "verpeilt farbiges Paralleluniversum" und "so etwas wie ein krawalliges Spaßpurgatorium der besonders schrillen Art. Sinnlos, absurd komisch, knallig, grell, feucht." Am Ende hätten alle, Performer wie Publikum, gleichermaßen nass dagestanden, "mit Meeralgen, Konfetti und Papierschlangen beklebt", und sich über den erlebten, "eigentlich total sinnfreien Blödsinn" gefreut, der "sich gerade infernoartig ereignet und ergossen hatte".

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