Anklagegesänge

von Friederike Felbeck

Bochum, 28. August 2014. Vielleicht ist die Aufführung auch eine perfide Falle. Zu Beginn werden schwarze Kisten, die wie Särge oder schwarz getünchte Überseekisten aussehen, geheimnisvoll von rechts nach links geschoben und verschwinden hinter einer riesigen Wand. Vorne lamentiert ein elegant in Schwarz gekleideter Sänger in einer unbekannten Sprache, begleitet von Gesten, die an die Signale erinnern, die sich Seeleute mit zwei Flaggen geben. Vielleicht ist die Aufführung eine Zauberkiste, aus der sich maorische Gesänge in europäische Veranstaltungssäle schmuggeln lassen, die nur so tun, als seien sie fremdes Liedgut – wobei sie tatsächlich Beschwörungsformeln sind und magischen Ritualen dienen.

Sie klingen nach einer späten Anklage für die gefallenen Samoaner und Aborigines, die auf den Nebenschauplätzen des ersten Weltkrieges im pazifischen Ozean der Hybris ihrer sich bekriegenden Kolonialherren zum Opfer fielen. Oder sie sollen die Schädel und Gebeine zurückführen, die noch heute in den Kellern der europäischen Museen und in Archiven lagern, um den Nachfahren der Maori, die auf Weltausstellungen exponiert wurden und deren mumifizierte Köpfe auf Handelsschiffen nach Europa kamen, endlich die Trauer zu ermöglichen, die ihnen zusteht.

Mit Deutschlandlied ins Kaiser-Wilhelm-Land

Der neuseeländische Regisseur und Choreograf Lemi Ponifasio beginnt seine im
Rahmen der Ruhrtriennale erstaufgeführte Theater-Tanz-Performance "I am" mit einer kratzenden alten Tonaufnahme des Deutschlandliedes. So hebt die Aufführung in der Bochumer Jahrhunderthalle gleich ab in ein Fest der Erinnerung an den 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges und visualisiert eine ritualisierte Klage über sinnlose Kriege, die weit streuen: 1914 bis 1918 erreichte er sogar die deutschen Kolonien im pazifischen Ozean, die u.a. als Deutsch-Samoa (Ponifasio selbst ist gebürtiger Samoaner), Deutsch-Neuguinea und als Bismarck-Archipel zusammen Kaiser-Wilhelm-Land waren, und wo Menschen Nationen repräsentierten und für diese kämpften, die sie nicht kannten und von denen sie selbst erobert worden waren.

Nur wenige Aufführungen haben sich hierzulande der wenig bekannten deutschen Kolonialgeschichte in Afrika und im Pazifik gewidmet – zuletzt war es die andcompany&Co mit ihrem Black Bismarck. Und so ist das Gastspiel von Ponifasios ambitionierter wie düsterer Choreografie ein wichtiger Beitrag und eine Herausforderung.

Wasserfälle und Panzer

Indes fällt es nicht leicht, die mehr als entschleunigten Szenen, die sich zu einem manchmal langatmigen Ritornell in einem dreidimensionalen Bilderrahmen addieren, als Zuschauer zu entern. Ponifasio orientiert sich an den Word Paintings des neuseeländischen Malers Colin McCahon, dessen mit Schrift übersäte, auf schwarz-weiß beschränkte Bilder "I am", "I applied my mind" und "Victory over Death 2" der Aufführung nicht nur den Titel leihen sondern auch als Videoprojektionen direkt zitiert werden. Darunter legt Ponifasio Soundcluster, die mal donnernde Wasserfälle, rollende Panzer oder mörderische Maschinen assoziieren und mit expressiv vorgetragenen Sprechgesängen von traditionellen Moteateas, maorischen Trauergesängen und Gebeten, gekreuzt werden.

i am 560 ruhrtriennale joergbaumann uChristusfigur auf schwarz-weißem Grund – eines der stärksten Bilder des Abends. © Jörg Baumann

Seine Akteure ringen im Gegenlicht, gehen sich an die Gurgel, geißeln sich selbst oder werfen die Arme fassungslos gen Himmel. Eine Frau posiert und tanzt aufreizend mit einem Gewehr, als würde sie sich wie Niki de Saint Phalle gleich an ein "Schießbild" begeben. Ein glatzköpfiger androgyner und ganz in Weiß gekleideter Engel der Geschichte wird mit Blut bespuckt und mit Blumen geschmückt.

Kulturen-Mix

Ponifasio, der bereits 2012 für die Ruhrtriennale "Prometheus" in einem stillgelegten Stahlwerk eingerichtet hat, bezieht sich auf Antonin Artaud und Heiner Müller und versammelt Darsteller aus Neuseeland, Europa, Australien, Kanada, der Türkei, Neukaledonien und Samoa, die er "Community" und nicht "Company" nennt und die den Namen MAU trägt.

Die 31 Beteiligten dirigieren ihre synchronisierten Bewegungsabläufe mit kehligen Brunstschreien. Eines der stärksten Bilder zeigt eine ans Kreuz genagelte Christusfigur, die sich mit heftigen, Mikrofon verstärkten Bewegungen loszureißen sucht. Ein Mensch, der sich wie ein Affe auf allen Vieren nach vorne schiebt, bewirft ihn mit rohen Eiern, während "Allahu akbaru" ("Gott ist groß") gesungen wird. Das Nebeneinander von samoanischen, europäischen und arabischen religiösen Elementen, die in einer ausgestellten und oft klischierten Körperlichkeit zelebriert werden, manövriert die Aufführung in eine paradoxe Double-Bind-Konstellation und in einen Kulturen-Mix, der sie leider oft genug an den Abgrund der Beliebigkeit bringt.

 

I am
von Lemi Ponifasio / MAU
Konzept / Design / Choreografie / Regie: Lemi Ponifasio, Licht / technische Leitung: Helen Todd, Komposition / Sound: Marc Chesterman, Klangregie: Sebastian Schottke, Moteatea (traditioneller Gesang): Ria Te Uira Paki, Kostüme: Kasia Pol.
Mit: Arikitau Tentau, Bainrebu Tonganibeia, Charles Koroneho, Gabriel Castillo, Halim Rahmouni, Helmi Prasetyo (Teater Ruang), Ioane Papali´i, Kasina Campbell, Maereke Teteka, Mere Boynton, Muagututia Fu'a, Nina Arsenault, Peter Saena-Brown, Ria Te Uira Paki, Rosie TeRauawhea Belvie, Susana Lei'ataua, Teateki Tamango und Statisterie der Ruhrtriennale
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause.

Eine Produktion der MAU Company in Koproduktion mit der Ruhrtriennale, Festival d'Avignon, Edinburgh International Festival, Auckland Arts Festival.

www.ruhrtriennale.de
www.mau.co.nz

 


Kritikenrundschau

Eine "eigenartige Fusion aus Bilderstrom, Tanz und Ideentheater" hat Edda Breski vom Westfälischen Anzeiger (29.8.2014) in Bochum erlebt. Ponifasios "schwarzfahles Körper-Ideen-Theater" sei "politisch informiert, im Kern aber mythisch". Seine Arbeit orientiere sich an "einer modernen Bild- und Collagentechnik". Seine Figuren erschienen als "ferne Verwandte des Sisyphos, schieben in der ersten Szene schwarze Klötze in einer feierlichen Prozession vor sich her. Die Kinetik von I AM erinnert an eine langsam wechselnde Dia-Serie." Fazit: "Es ist ein wuchtiges Werk, manchmal quälend langsam in seinem Nichtfortgang, geformt durch gewaltige Bilder."

Bei Ponifasio gehe es um das "Fließen in der Natur, um ein endloses Fallen und Werden", berichtet Christiane Enkeler für "Fazit" auf Deutschlandradio Kultur (28.8.2014). "Was hier und da 'Gott' genannt wird, ist hier vielleicht: ein Übergang. Und somit die Gegenwart. Die hier eine Ausdehnung bekommt zur Ewigkeit: in Lemi Ponifasios Sound und seinen sich gegeneinander bewegenden Gestalten vor Helen Todds Licht-Horizont."

Ein "Requiem von archaischer Größe" mit Tänzern "in unerschütterlich präzis durchgehaltenen Zeitlupentempi" hat Pedro Obiera von der Neuen Osnabrücker Zeitung (29.8.2014) in Bochum erlebt. Zwar könne "die Kreation aus der Dunkelkammer zähe Längen nicht immer vermeiden", doch ist in der Kritik zugleich von einer "genialen Choreografie", die Szenen in "geradezu magische Größe" führe, die Rede.

"Trauer und Totenklage dominieren die mythischen Bilder, mit denen Lemi Ponifasio an die mörderischen Auswüchse des Ersten Weltkriegs erinnern will", schreibt Michael-Georg Müller für das Onlineportal der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung derwesten.de (29.8.2014). Ponifasio finde an diesem Abend "zu tiefgründigen, aber rätselhaften Tableaus, in denen er westliche Tanztheater-Tradition mit der Kultur seiner Heimat vereint." Fazit: "Sehenswert ist das manchmal langatmige Requiem, getanzt von dem Maori-Ensemble Mau, besonders wegen der ungewöhnlichen Mischung der Kulturen, der Sog-Kraft der Bilder."

Was bei der "Ruhrtriennale in der Bochumer Jahrhunderthalle über die karg ausgestattete Bühne ging, ist schlicht sinnentleerter Mist, der zwei Stunden lang die Nerven strapaziert", steht ruppig am Anfang des kurzen Berichts von Kulturredakteurin Julia Gaß für die Ruhrnachrichten (29.8.2014).

 

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