Die ruhelosen Seelen

von Simone Kaempf

Berlin, 9. September 2014. Da ist er wieder, der krisengeschüttelte Mensch. Eine von den eigenen Ansprüchen erschöpfte Großstadt-Existenz. Sich biegend zwischen Sehnsüchten, Bindungswillen und regressiven Bindungsängsten. Er redet – wie der von seinen smartphone-fixierten Studenten frustrierte Hochschullehrer – monologisch auf einen leeren Stuhl ein, aber gibt den Übungsversuch eines Liebesgesprächs bald türknallend wieder auf. Oder er zählt – wie der verlassene Familienvater – seine Verluste auf: Frau, Kind, Türschlüssel, Festplatte, alle Daten futsch.

Oder auch die Therapeutin, die sich in eine Patientin verliebt hat, durchaus ihres Distanzproblems bewusst, und verzweifelt ihre Mutter anruft. Die wiederum demenzkrank die Tochter schon längst nicht mehr erkennt. Auch ein Fall von Selbstverlust, der sich hier zu den anderen reiht.

Beziehungsphobiker auf Kontaktsuche

Autor und Regisseur Falk Richter lässt in seinem neuen Stück "Never Forever" wieder selbstgequälte notorische Beziehungsphobiker auftreten. Es ist das Thema, in dem er zuhause ist: die Zerreißprobe des Menschen im virtuellen Zeitalter, in dem andere Menschen leicht zu kontaktieren sind und doch unerreichbar bleiben. Während die Schauspieler die Wortkaskaden des Textes zum Leben erwecken, zeigen die Bewegungen der Tänzer, welche wallenden Kräfte in den Körpern stecken.

never forever4 560 arno declair uDer Hochschullehrer redet sich seinen Frust von der Seele: Kay Bartholomäus Schulze
© Arno Declair

Wieder hat Falk Richter an der Berliner Schaubühne mit einem Choreografen zusammengearbeitet. War es in Trust und Protect me die Niederländerin Anouk van Dijk, sind nun der Choreograf Nir de Volff und vier Tänzer seiner Companie Total Brutal mit dabei, die wache Kraft mit in den Abend tragen. Immer wieder wischen die Körper über den Boden, trudeln in Bodenschrauben aus. Bei aller Dynamik wirkt das auch weich und passt sich den Schauspielern an.

Bühnencoolness und Besinnung

Reduzierter ist dieser Abend, als man es von Falk Richter zuletzt gewohnt war. Leer die Bühne. Ein schlichtes Metallgestell, in dem sich Zimmerzellen andeuten, ausgestattet mit wenigen Stühlen und Tischen, ein Klavier, sonst nichts. Und weil auch die Wutmonologe, die in Falk Richters jüngeren Arbeiten immer launig im Zentrum stehen (wie in Small Town Boy am Gorki Theater), zurückhaltender ausfallen, gerät "Never Forever" inhaltlich und formal wie aus einem Guss. Mit wenigen Ausnahmen jedenfalls.

never forever5 280h arno declair uIlse Ritter spricht "Faust"-Verse
© Arno Declair
Nach der Hälfte des Abends werden Bäume auf die Bühne geholt. Die ruhelosen Seelen sucht die Inszenierung für einen kurzen Moment im Romantischen. Stickstoffnebel bedeckt den Boden, ein elektrisierend schönes Bild, wie der Dunst sich dicht über dem Boden schiebt. Ilse Ritter zitiert Gretchens Worte am Spinnrad: "Die Ruh ist hin, mein Herz ist schwer" und "Mein armer Kopf Ist mir verrückt, Meiner armer Sinn Ist mir zerstückt". Wirkt die Schauspielerin anfangs mit ihrer solitären Aura fast wie ein Fremdkörper inmitten der Bühnencoolness, ist sie es, die die Selbstauflösung ins Morbide treibt, in das Thema Tod.

Wabernd werden am Ende auch die Elektro-Sounds von Malte Beckenbach, dessen Kompositionen die Inszenierung teils mit poppigen, meist mit gedämpften Stimmungen unterlegen. Der Abend wagt sich in traurigere Höhenlagen vor, die er auch auszuhalten schafft. Dann lässt Falk Richter das Licht hart aufdrehen, alle Illusionen zerplatzen. "Ihr müsst auch die langweiligen Parts aushalten. Es gibt nicht nur Highlights. Es gibt auch Momente, in denen nichts Außergewöhnliches passiert", schleudert Kay Bartholomäus Schulze ins Publikum. Da läuft die Satire wieder heiß, und trägt doch echten Schmerz mit sich. Ein Abend, in dem Richter den Verzweiflungsfuror noch einmal variiert und auch ohne Anspielung auf die Finanzmärkte vom Leiden an den Verhältnissen erzählt. Kein ganz großer Wurf wie einst Trust, aber in sich stimmig und gelungen.


Never Forever
von Falk Richter und Nir de Volff / Total Brutal
Uraufführung
Text und Regie: Falk Richter, Choreographie: Nir de Volff / Total Brutal, Bühne: Katrin Hoffmann, Kostüme: Daniela Selig, Musik: Malte Beckenbach, Dramaturgie: Nils Haarmann.
Mit: Florian Bilbao, Katharina Maschenka Horn, Johanna Lemke, Ilse Ritter, Chris Scherer, Kay Bartholomäus Schulze, Tilman Strauß, Regine Zimmermann.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.schaubuehne.de

 


Kritikenrundschau

Für Rüdiger Schaper vom Tagesspiegel (11.9.2014) hat Falk Richter den nicht ganz neuen Befund, dass "Big Data unsere sozialen, sexuellen Instinkte plattmacht", inszeniert. Richters Texte "können scharf sein in der Detailbeobachtung, auch der Regisseur Richter ist nicht ohne Witz. Er hat Schauspieler, die umzugehen wissen mit diesen knapp umrissenen Typen in der Welt der Kamikaze-Kommunikation." So schaffe Richter eine "unkomische Großstadtkomödie". Nur Ilse Ritter, die der Kritiker eingehend würdigt, falle aus dieser Gegenwart der "Kamikaze-Kommunikation", sie "spielt sich selbst, wunderbar zart, aber auch klar und bestimmt".

Doris Meierhenrich würdigt in der Berliner Zeitung (11.9.2014) Richters "wohltuende Skepsis gegenüber der eigenen Sprache" und den Versuch, "einen neuen, unverbrauchteren, vielleicht direkteren Ausdruck zu finden: eine Sprache, die in dem alles vereinnahmenden Netzwerk des neoliberalen Kapitalismus noch (oder wieder) eine Ausdruckskraft jenseits des nur Manipulativen oder Verwertbaren findet". Doch: "Mittlerweile wird man den Eindruck nicht los, dass sich die Suche thematisch und methodisch auf der Stelle dreht." Richters an den Philosophen Byung-Chul Han angelehnte Gegenwartsdiagnostik sei "sehr richtig und wichtig", aber auch "sehr eindimensional eingeschlossen in den Totalitarismus dieser durchprogrammierten Psychowelt."

Richters "Diagnose einer Gesellschaft, in der Freiheit nur Zwang ist", liefere "leider auch kaum mehr als Kitschbilder", winkt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (14.12.2014) ab. Das Stück spiele "in einer toten Geschmackswelt aus Aluminiumbögen und Polstern", die "kinetisch illustriert" werde "mit Choreografien, die aufzeigen, wie der Körper zappelt, wenn man das Denken und die Selbstkontrolle löscht". Diese "Voodootänze", die "wohl ein Bild für die nervöse Leere der Postingwelt wie für die rebellierenden Psychomuster der Vereinsamten liefern sollen", ergäben "häufig leider nicht viel mehr als Verzweiflungskitsch".

In frühren Tanzabenden von Falk Richter und Anouk van Dijk, ging es "um marktökonomische Dogmen und ihre Nebenwirkungen auf menschliche Beziehungsgeflechte"; diesmal liefere Richter "eine Diagnose der Digital Natives", schreibt Barbara Behrendt in der taz (11.9.2014). "Härter, mechanischer sind die Soli und Paartänze" von Nir de Volff, "weniger fließend als bei van Dijk, aber auch mit größeren Gesten, expressionistisch." Richters Stück ähnele früheren, die Einzeltexte würden "wie immer etwas eklektisch, disparat und am Ende mit deutlichen Redundanzlängen" aneinandergereiht. "Und doch ist dem Zeitgeistdidaktiker hier eine Spielvariante in melancholisch-ironischerem Tonfall gelungen."

Richters neues Stück zeigt „die Krisenkörper des Neoliberalismus", berichtet Tobi Müller in der Sendung "Fazit" auf Deutschlandradio Kultur (9.9.2014). "Schön ist, wie sich die Sparten lässig, manchmal nachlässig verschränken. Die Schauspieler werden stark choreografiert, die Tänzer kriegen viel Text. Das verhindert zuviel Kunstgewerbe." Eingehend wird Ilse Ritters Rolle "in diesem Gegenwartsinferno" gewürdigt. Ihr Blick mit Goethe in die "Nacht des Digitalen und der neoliberalen Regierungstechniken" dringe "zum eigentlichen Thema vor, der verdrängten Todesangst, die hinter der Hyperaktivität steckt". Bei aller Wertschätzung wendet der Kritiker allerdings gegen den Abend ein: "Die Ermüdungsdiagnose hat selbst etwas Raunendes und bleibt im Dunkeln der Begriffe. (...) Nichts steht der Klage im Weg, die These bleibt rein. Müsste Widerstand nicht auch im Ästhetischen beginnen?"

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