Diskurstheater XXX

von Wolfgang Behrens

Berlin, 13. September 2014. Nein, es bedarf keines besonderen Scharfsinns, um aus den Bildern, die von überall her auf uns eindringen – aus dem Film, dem Netz, der Werbung, den Modemagazinen –, den Schluss zu ziehen: Sex ist Erfolg! Hast Du Sex (und trinkst am Ende noch dieses spritzige Mineralwasser dazu), dann hast Du allen Grund fröhlich zu sein. Ist Dein Sexleben erfüllt (und siehst Du dabei auch noch so rasend geil aus wie dieses ranke und schlanke Paar hier), dann hast Du es zu etwas gebracht. Du kannst davon erzählen, ohne rot zu werden. Du wirst geachtet, Du bist wer!

Und, nein, es bedarf auch keiner herausragenden analytischen Fähigkeiten, um zu erkennen, dass mit diesen Bildern ein enormer Druck aufgebaut wird. Ihre Omnipräsenz fordert zum ständigen Vergleich: Hast Du auch so heißblütige Partner wie diese Filmschauspielerin? Ist Dein Sex so gut wie der von diesen bestens bestückten Pornodarstellern? In diesem Umfeld macht sich jemand mit dem Satz "Äh, was ich noch sagen wollte, ich persönlich habe gar keinen Sex!" zur peinlichen Witzfigur. Kichernd wendet man sich ab.

eroticcrisis1 560 ute langkafel uFrisch aus dem Dessous-Shop: Thomas Wodianka, Orit Nahmias, Aleksandar Radenković,
Anastasia Gubareva © Ute Langkafel

Es mutet fast seltsam an, dass in all der Flut des uns umgebenden gelungenen Sexes zwar immer wieder das komische, selten genug aber das tragische Potential des scheiternden Sexes ausgelotet wird. Insofern war es geradezu eine Tat, als Michel Houellebecq vor zwei Jahrzehnten in Romanen wie "Ausweitung der Kampfzone" oder "Elementarteilchen" die Leidensfigur der männlichen Jungfrau mit einigem Ernst betrachtete. Am Berliner Maxim Gorki Theater hat die israelische Regisseurin Yael Ronen – die leichtfüßigste Erzählerin komplexer, auch komplexbeladener Geschichten im deutschsprachigen Theater – nun einen anderen Weg beschritten. In ihrer neuen Produktion "Erotic Crisis" zeigt sie keine leidenden Jungfrauen, sondern Paare, die keinen Sex mehr haben. Oder schlechten.

Dem Boulevard die Komik abgelauscht

Yael Ronen wäre aber nicht Yael Ronen, wenn sie an den komödiantischen Verheißungen eines solchen Stoffes achtlos vorüberginge. Die Dialogtechnik ihrer mit dem Ensemble gemeinsam entwickelten Stücke wurzelt ja oft genug im Boulevard, dem sie die charmant verplauderte Oberfläche und die traumwandlerisch sicher getimten Pointen ablauscht. Der Unterschied ist freilich, dass Ronen den Schalter auch urplötzlich umzulegen vermag: Dann leuchtet sie in die dunklen Nischen und allereinsamsten Winkel ihrer Figuren hinein, und beschämt schluckt man sein Lachen herunter. Nur um kurz darauf den nächsten bösen Gag um die Ohren gehauen zu bekommen.

In "Erotic Crisis" also wähnt man sich anfangs in einer losen Folge schneller Sketche. Anastasia Gubareva (als Kumari) und Aleksandar Radenković (als Rafael) stöhnen in Mikrofone, Thomas Wodianka (als Jan) liegt derweil züchtig neben Orit Nahmias (als Maya), von der Geräuschkulisse schwer beeindruckt und genervt. Dann entfalten die Vier, nun in mehr als bizarren Fetisch-Klamotten steckend, voreinander ihre ultimativen sexuellen Fantasien: Orit Nahmias tut dies, ostentativ hüftkreisend, auf Hebräisch – die sonst allzeit hilfreich zur Seite springende Übertitelungsanlage foppt dabei mit der Übersetzung "XXX". Die des Hebräischen Unkundigen verstehen Wörter wie "Hamas", "CIA", "BBC" und denken sich ihr Teil: tatsächlich sehr komisch!

eroticcrisis2 560 ute langkafel uLiebesleben per SMS: Orit Nahmias und Thomas Wodianka. Im Hintergrund: Aleksandar
Radenković © Ute Langkafel

Doch schon in dieser Szene kippt erstmals die heitere Parlando-Stimmung: Kumari macht ihren Partner Rafael zum Gegenstand ihrer Fantasie und verletzt diesen damit empfindlich in seiner Intimsphäre: "Ist das", fragt er, "zu einer Therapiesitzung geworden, die nur mich behandelt?" Es ist damit das Hauptmotiv angeschlagen, dem Yael Ronen und ihre Darsteller fortan folgen: Der nicht stattfindende Sex (Maya und Jan) und der schlechte, zumindest als schlecht empfundene Sex (Kumari und Rafael) werden beredet und beredet und beredet. Und zuweilen auch – vorzugsweise von den Männern – beschwiegen. Aber was sie auch tun, den Sex macht es – und das ist die traurige Botschaft – nicht besser.

Am Herzen gezogen

Nach und nach schießen die Fäden der vermeintlich nur locker gefügten Sketche so doch zu einer bzw. zu zwei Geschichte(n) zusammen. Vor allem für das Paar ohne Sex (aber mit Kind) hat Yael Ronen dabei gleichermaßen komische wie beklemmende Bilder gefunden: Während Maya ihren Jan nach allen Regeln der Kunst zu verführen sucht, tippt dieser – geradezu schmerzhaft unbeteiligt – auf seinem Smartphone herum. Sie erreicht ihn überhaupt nur, indem sie ihm, direkt im Bett neben ihm liegend, eine SMS schreibt: "Did you masturbate at work today?" ("Masturbation hall is being renovated" lautet die immerhin schlagfertige Rück-SMS.)

Das Eigenartige ist, dass sowohl Orit Nahmias als auch Thomas Wodianka die Liebe für den jeweils Anderen eindringlich zu beglaubigen verstehen, und trotzdem werden sich die beiden am Ende – in einer ganz und gar trostlosen Liebesszene (ja, es ist eine Liebesszene!) – trennen: sich anziehende Elementarteilchen, die nicht mehr miteinander reagieren. Ihre Beziehung scheitert am Sex, den sie braucht und den er nicht geben kann. Es sind Szenen wie diese, die – bei aller mitunter auch wohlfeilen Komödienoberfläche – den Abend weit über den Boulevard hinausheben. Und spätestens wenn Anastasia Gubareva mit Kurt Cobains "Where did you sleep last night" den Einsamkeits-Soundtrack des Abends ins Mikrofon strömen lässt, dann kann es einem schon einmal ordentlich am Herzen ziehen.


Erotic Crisis
von Yael Ronen & Ensemble
Uraufführung
Regie: Yael Ronen, Bühne: Magda Willi, Kostüme: Amit Epstein, Musik: Nils Ostendorf, Licht: Jens Krüger, Dramaturgie: Irina Szodruch.
Mit: Mareike Baykirch, Anastasia Gubareva, Orit Nahmias, Aleksandar Radenković, Thomas Wodianka.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.gorki.de


Kritikenrundschau

Stückentwicklungen, das zeigten die beiden Gorki Saison-Eröffnungsabende, "sind ein Risiko – aber eines, das selbst beim Misslingen spannender ist, als Schauspielern beim bloßen Textaufsagen zuzuschauen", schreibt Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung (15.9.2014). Yael Ronen, die sich sonst mit dem Nahostkonflikt oder dem Balkankrieg beschäftige, mache diesmal das Privatleben zum Kriegsschauplatz. "Ein Abend, wie er typisch ist fürs Gorki Theater. Man lacht viel und schämt sich zwischendurch ein wenig – weil die Schauspieler keine Peinlichkeit scheuen und auch mal im silbernen Borat-Kostüm auftreten." Fazit der Kritik: Fazit: "Bei den Eröffnungspremieren ist nicht alles gelungen. Aber die Versuchsanordnung, die stimmt schon mal."

Weniger wohlwollend ist Irene Bazinger (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.9.2014) mit "Erotic Crisis". Es gehe zu wie im Kabarett. Ob Weiblein und Männlein nackt zu Boden sinken oder ein Dildo an die Wand geklebt werde, "alles erscheint gestelzt, spröde, im luftleeren Raum, ohne jede gesellschaftliche Anbindung – und bald ermüdend privat und egozentrisch". Fazit: Eine sinnfreie Aufführung aus der biedersten Ratgeberecke, die nichts Neues über Paare in der Krise oder Menschen in Sexualnöten mitzuteilen habe.

Es gehe "um den Sex der anderen, der scheinbar immer besser als der eigene ist. Der Sex der Promis mit den Promikörpern in den omnipräsenten Hochglanzmagazinen. Der Sex in den Pornofilmen sowieso", schreibt Esther Slevogt in der taz (15.9.2014) über den Abend, der ins "erotische Krisengebiet großstädtischer Thirtysomethings" aufbreche. Der weder besonders originell noch überraschende Szenen destilliere, und doch sei es ein starker Theaterabend. Weil mit "eisigem Kalkül an den boulevardesken Rändern der Allgemeinplätze entlang" erzählt werde, "um in tragische Einsamkeitsabgründe zu stürzen".

"Dass sich Yael Ronen betont komödiantisch von Klischees abstößt", gehöre zur Methode. findet Christine Wahl im Tagesspiegel (15.9.2014). "Seit ihrem bahnbrechenden Abend 'Dritte Generation' vor fünf Jahren an der Berliner Schaubühne lässt die Regisseurin dezidiert schonungsfrei Stereotype ineinandercrashen, hinter denen sie dann zu Schmerzpunkten vordringt, die tatsächlich nicht viele Regisseure erreichen." Dass der Erkenntnisgewinn diesmal deutlich geringer ausfalle als bei den Abenden, dürfte in der Natur des Sujets liegen.

Ulrich Seidler warnt in der Berliner Zeitung (15.9.2014) Paare vor den Nebenwirkungen des Theaterbesuchs. "Denn bei Yael Ronen erfährt man auf das Erbarmungsloseste und Komischste, dass zu viel Reflexion und Sinnsuche einem das Sexualleben vermasseln kann." Der hexenhaft kichernde Humor der Menschendurchschauerin Yael Ronen ist schwarz und einfühlsam zugleich. "Mit überrumpelnden, pointierten Dialogsprints reißt sie die Figuren herab in die Ausweglosigkeit scheinbar tragischer Situationen − dann verweilt sie ein wenig in der Tiefe der Krise, und siehe da, irgendwie lassen sich diese Dinger doch überwinden."

Yael Ronen ist die Traumatherapeutin des deutschen Theaters, schreibt Tobias Becker auf spiegel online (15.9.2014). "Erotic Crisis" beschäftige sich mit dem letzten sexuellen Tabu der Spaßmetropole Berlin: keinen Sex zu haben. Ausstaffiert mit Fetisch-Fummeln, erzählen die Paare sich ihre sexuellen Fantasien. "Das alles ist amüsant, natürlich ist es das," aber die Erkenntnisse taugen für eine Kolumne, "für einen Theaterabend sind sie zu dünn", so Becker. "Größer als der inhaltliche Anspruch ist der sprachliche Anspruch des Abends: Die Schauspieler sprechen einen großen Teil des Textes auf Englisch", weil sie keine gemeinsame Muttersprache mehr haben. Das ist Programm am Gorki, auch wenn es so extrem wie in dieser Produktion noch nie zu beobachten war.

"Wer redet schon gern über seine Beischlafzyklen?", fragt Tobi Müller im Tagesanzeiger (18.9.2014). Ronen mache das ohne Umwege und trotzdem hochkomisch, dabei very undeutsch. "In 'Erotic Crisis' sehen wir die wuchtige Spielerin Oriat Nahmias auf Hebräisch eine Sexfantasie erzählen, von der die meisten nur Schlagworte wie 'Hamas' und 'BBC' verstehen, während die deutschen Superbody-Schauspieler Namen wie Wodianka und Radenkovic tragen. Soweit Berlin today."

 

 

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