Die komische Maske des Rigorismus

von Anne Peter

Potsdam, 3. Februar 2008. "In Ihrem Kampf gegen die menschliche Natur / Wurden Sie selbst schon zur komischen Figur." Philinte, Pragmatiker der Umgangsformen, reimt diese Wahrheit zusammen. Er will Alceste das menschliche Maß lehren. Denn Alceste, der Molièresche "Menschenfeind" , ist in der Tat maßlos in seiner idealen Heuchelfreiheit, ein Extremist der Ehrlichkeit, ein Authentizitäts-Apostel. Ein Wahnsinniger, wenn man so will.

Als solchen spielt ihn auch Pierre Besson in der Inszenierung seines Halbbruders Philippe Besson. Er gibt den Alceste nicht als Zyniker, der lässig den weit unter ihm Stehenden ihre Verfehlungen vor die Füße kippt. Er knallt sie ihnen vor den Lügen-Latz, als gelte es das ganze echte, unverfälschte Leben.

Grundsatzwucht und Aufrichtigkeitsanstrengung

Von Anfang an spielt Pierre Besson einen, der durchdreht, hochgespannt zitternd vor Wut auf das ihn umgebende Menschenpack. Ein versteifter Körper mit vor Ansichhalten angelegten oder verschränkten Armen und geballten Fäusten, die abrupt ausscheren, um Zeigefinger in die Luft zu spießen oder raufend ins Haar zu fahren. Ein Körper, der schwitzt vor Aufrichtigkeitsanstrengung. Das Gesicht verkrampft sich zur Grimasse, in der die Brauen sich arg zusammenziehen über rollenden Augen und in der der Mund sich zum Spalt presst oder angehaltenen Atem entweichen lässt. In diesem Körper gerinnt der Rigorismus zur Maske des nur äußerst mühsam Beherrschten.

Von Anfang an einer, der kämpft. Von Anfang an einer, der ob dieses Kampfes komisch ist. Weil seine Grundsatzwucht sich an winzigen Anlässen entzündet. Schon mit den ersten herausgepressten Sätzen, den Kopf starrsinnig vom Gesprächspartner in die Höhe weggewendet gen Rang, macht er das Potsdamer Publikum lachen. Das sitzt nicht im neu gebauten Hans Otto Theater an der Havel, sondern dort, wo schon Friedrich II. gern französische Schauspieler auftreten ließ: Im 1768 vollendeten Rokoko-Theater innerhalb des Neuen Palais am Westende von Park Sanssouci.

Frontalangriff auf die Society

Dieser U-förmige Gold-und-Samt-Raum mit der kleinen Guckkastenbühne scheint wie gemacht für das gut hundert Jahre zuvor entstandene Molière-Stück, diesen als Komödie getarnten Großangriff auf das verlogene Sich-Spreizen und Sich-Bebalzen der Society.

Die Frontalkritik hat, und darauf setzt auch Philippe Bessons Inszenierung, an Aktualität wenig eingebüßt. Besson lässt Molières Personal in heutigem Schick auftreten und die Reime der Übersetzung von Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens eher umschiffen als hervorheben. Von der Decke baumelt der Schickeria-Glamour in Form von unzähligen Lichterketten, die Alceste ärgerliche Durchwurschtelgesten abnötigen. Am Ende, als aller zwischenmenschliche Schwindel um Alcestes Angebetete Célimène auffliegt, wird das Geleuchte aus dem Schnürboden heruntergefahren.

Célimène ist der Inbegriff jener "menschlichen Natur", die Alceste eigentlich verabscheut – die herzgroße Lindenblattstelle dieses Sagen-wie-es-ist-Siegfried, durch die sich die Unvernunft im Vernünftigen selbst Bahn bricht. Er glaubt an Erziehung, während sie ihn als überall umarmende Anführerin einer sektseligen Partygesellschaft doch wie alle anderen nach Strich und Faden an der Nase herumführt.

Alles, was Mann will: Augenaufschlag und Schmollmund

Gestalt verleiht ihr Muriel Baumeister, die hier zum ersten Mal auf der Bühne (und nicht wie sonst vor Film- und Fernsehkameras) steht. Und so wie sie die Menschennatur spielt, spricht tatsächlich einiges dafür, ihr mit wildem Windmühlenrudern entgegen zu kämpfen. Diese Célimène ist nicht, wie vorstellbar wäre, als starke Frau auf dem Weg der Selbstverwirklichung angelegt. Keine, die sich einfach nimmt, was sie will. Sondern eine, die den anderen zum Fraß vorwirft, was denen eben schmeckt. Ein Augenaufschlagwunder. Ein Schmollmundvollblut. Eine Hüftschwenkakrobatin. Ein ganz und gar geschmeidiges Weib im grünen Seidenkleid. Vor allem auch ein gickerndes Girl, die sich ihr hübsches Maul über jeden zerreißt, der gerade nicht anwesend ist. Das, was Mann will?

Alle wollen sie, Alceste will sie ja auch. Spielen tut Pierre Besson das allerdings kaum. Sein virtuoser Masken-Körper kennt kein Weichwerden, kein temporäres Sich-Lösen aus der Wutstarre. So bleibt seine Leidenschaft auf schauspielerischer Ebene ebenso behauptet wie Célimènes Liebesschwüre. Das verkleinert hier den Selbstwiderspruch, der Alceste zerreißt. Auch dessen Anklage, wiewohl im Grunde berechtigt, tut in dieser kurzweiligen, aber letztlich allzu karikaturesken Inszenierung, nicht wirklich weh. Denn die Maske dieses Menschenfeindes lässt keine Ambivalenzen, nichts momentan Ernsthaftes durch, sondern zeigt eben nur ein Gesicht. Es bleibt ganz bei der komischen Figur.


Der Menschenfeind
Von Jean Baptiste Molière
Deutsch von Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens
Regie: Philippe Besson, Bühne und Kostüme: Henrike Engel. Mit: Muriel Baumeister, Rita Feldmeier, Nicoline Schubert, Harald Arnold, Pierre Besson, Frank Bettinger, Dirk Hartmann, Andreas Herrmann, Christian Klischat, Philipp Mauritz, Henrik Schubert.

www.hot.potsdam.de

 

Kritikenrundschau

Eine so "komische wie intelligente Inszenierung" hat Frank Dietschreit für die Märkische Allgemeine Zeitung (5.2.2008) gesehen. Regisseur Besson hole "das Rokoko-Personal" in die Gegenwart: "Aus dem alten Text wird eine böse Farce über die Bussi-Bussi-Gesellschaft, eine Persiflage auf das Geschnatter in den Party-Lofts, eine Satire auf die Kultur-Schickeria, in der Schein mehr bedeutet als Sein, in der die Intrigen blühen und die Selbstsucht." Nur eines werde in dieser Kurzversion vernachlässigt, nämlich "der subversive politische Aspekt des Stückes". Der "Menschenfeind" sei schließlich "auch eine Abrechnung mit der geistigen Armut und moralischen Verlotterung der herrschenden Klasse". Und das komme "entschieden zu kurz". Dennoch sei Pierre Besson "als Alceste ein großartiger verbaler Wüterich und moralinsaurer Intellektueller, der an sich selbst irre wird". Überhaupt sei jede Rolle "treffend und plausibel besetzt".

Die Zurückhaltung von Philippe Bessons Regie offenbare "durchaus wohltuendes Vertrauen in die Textvorlage", meint Lena Schneider in den Potsdamer Neuesten Nachrichten (5.2.2008). Aus dem "etwas sperrigen Molière" werde so "ein Fest der kauzigen Kalauer und erdigen Endreime. Das tut nicht nur der Verständlichkeit gut, sondern auch dem Humor. Der Text, so griffig, pfiffig und selbstironisch, ist denn auch die treibende Kraft dieses Abends." Er scheine sich geradezu "von selbst zu sprechen". Vor allem Pierre Besson als "wunderbarer" Alceste "ist ein von den Versen regelrecht Getriebener". Aber alle Kritik Alcestes, die "eigentlich durchaus auch auf die – unsere – Gesellschaft jenseits der Bühne zutreffen dürfte" verpuffe "auf dem Weg ins Parkett (...) als Lachsalve". Denn "die Anspielungen ins und ans Publikum sind mehr Geste denn wirkliche Kritik. Um über die Komödie hinaus in die Realität zu greifen, ist dieser Alceste zu sehr Komödiant, zu wenig zornig". Auch die Regie sei für's Kritische "einen Tick zu zart". Und "so ist das Ganze zwar insgesamt kein überwältigendes Theater, dafür aber ein Abend in guter, sehr komischer Gesellschaft".

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