Die politische Dimension des Erinnerns

Warschau, 30. Mai 2014.

Von Anna R. Burzyńska

Warschau, 30. Mai 2014. Vor fünfzehn Jahren entdeckte das polnische Theater, maßgeblich beeinflusst durch das deutsche Theater und insbesondere Frank Castorf, die Politik neu für sich. Ein großes Problem für die Theaterschaffenden war allerdings das Fehlen einer entsprechend aktuellen Dramatik, die Regisseure hofften sehnsüchtig auf einen polnischen Mark Ravenhill, Marius von Mayenburg oder Nikolaj Kolada. In der Zwischenzeit bereiteten sie klassische, dem Publikum wohlbekannte Texte für die Gegenwart auf. Man übersetzte die alten Stücke in eine zeitgemäße Sprache und ergänzte sie um populärkulturelle Zitate aus Videoclips, Computerspielen oder Kultfilmen.

Dieses Vorgehen war als Geste vergleichbar mit der Praxis bildender Künstler, die den Figuren auf alten, mehrfach restaurierten Gemälden Bärte anmalten. Inszenierungen in diesem Geiste waren Jan Klatas "Orestie" des Aischylos (Stary Teatr Krakau, 2007), die ein Bild Amerikas nach den Anschlägen vom 11. September 2001 zeichnete und Fehlentwicklungen im demokratischen System thematisierte, indem sie etwa das Gericht über Orest als Fernsehshow zeigt, oder Maja Kleczewskas "Macbeth" (Kochanowski-Theater Oppeln, 2004), ein Kommentar zur organisierten Kriminalität in Polen, in dem zu Musik aus Filmen von Quentin Tarantino die Protagonisten in Trainingsanzügen um die Vorherrschaft in provinziellen Mafiastrukturen kämpfen.

Parallelen ziehen

Die Regisseuren wollten Parallelen und Analogien aufspüren: zwischen den Gesellschaftsbildern der tradierten Stücke und heutigen Fernsehnachrichten, zwischen den Leidenschaften der Figuren in klassischen Tragödien und im Gegenwartsfilm, zwischen der Verssprache der alten Dramen und den Texten von Rocksongs. Für Unterschiede und Differenzierungen war kein Platz – im Zentrum stand eine eindeutige, unmittelbare Botschaft.

Die Blüte der gesellschaftlich engagierten Gegenwartsdramatik aus der Feder von Autoren wie Paweł Demirski, Małgorzata Sikorska-Miszczuk, Andrzej Stasiuk oder Dorota Masłowska führte dazu, dass Regisseure heute nicht mehr unbedingt auf klassische Texte zurückgreifen müssen, wenn sie sich mit aktuellen Fragen auseinandersetzen wollen – es gibt zahlreiche neue, mitunter eigens für ein bestimmtes Theater oder einen bestimmten Regisseur geschriebene Stücke. Manche Theatermacher verzichten ganz auf fiktionale Texte und schöpfen direkt aus der Wirklichkeit. Im Grenzbereich von visuellen und performativen Künsten agiert etwa Wojtek Ziemilski, dessen Arbeiten, wie es der Titel eines seiner Werke nahelegt, der Prolog zu echtem Handeln sind, eine Ermunterung, im Sinne von Beuys' Konzept der Sozialen Plastik die Wirklichkeit zu verändern.

Wider die bequeme Botschaft

In den jüngsten Zeit sind Inszenierungen alter Stücke zwar seltener geworden, zudem ist die Herangehensweise eine andere als vor zehn Jahren. Aber bei Regisseuren wie Michał Zadara oder Barbara Wysocka ist eine erneute Hinwendung zum Text zu erkennen, wenngleich keinesfalls als demütige und brave Lektüre in der Tradition des bürgerlichen Theaters. Man versucht vielmehr, wie von alten, oft gesehenen Gemälden Schicht für Schicht den Firnis abzutragen, bis in leuchtenden Farben ihr kompromissloser, revolutionärer Charakter zum Vorschein kommt.

Michał Zadaras Regiekonzept ist von der Idee her einfach: Er liest die klassischen Stücke gründlich, streicht kein einziges Wort und ignoriert alle früheren Interpretationen. Er inszeniert etwa die berühmteste Tragödie der polnischen Romantik, Adam Mickiewiczs "Ahnenfeier" (Teatr Polski Breslau, 2014), ungekürzt und unter Beibehaltung ihrer wahrlich postdramatischen Form. Und entdeckt, dass – entgegen der in der Schule verbreiteten Deutung – nur in einem der vier Teile des Schauspiels das Wort "national" vorkommt. Die übrigen Teile sind metaphysisches Theatrum mentis in der Art von Strindbergs "Nach Damaskus". Auch die im Text entworfene Vision des Polentums stimmt ganz und gar nicht mit nationalistischen Vorstellungen überein, es ist die Vision eines heidnischen, nicht-katholischen, multiethnischen, anarchischen und von Sonderlingen und Verrückten bewohnten Polen.

Später Generationenkonflikt

In einem gewissen Sinne sind Zadaras Arbeiten Uraufführungen, die bis zu den Ursprüngen des Textes zurückreichen. Das gilt auch für seine Inszenierung von Schillers "Die Räuber" (Teatr Narodowy Warschau, Premiere am 8. Mai 2014), eines in Polen kaum gespielten Stückes (bezeichnenderweise inszenierte Jan Klata den Text kürzlich nicht in Krakau oder Breslau, sondern in Bochum). Das liegt vor allem daran, dass in Polen, wo in den letzten zweihundert Jahren die Söhne oft ohne ihre in Kriegen gefallenen, nach Sibirien deportierten oder in Gefängnisse gesperrten Väter aufwuchsen, das Thema des Generationenkonflikts nie in größerem Maßstab relevant wurde. Schwer zu vermitteln war auch, dass der Feind hier nicht in Gestalt eines fremden Staates erscheint, sondern unter den Reichen und im Klerus des eigenen Volkes zu suchen ist.

zbojcy2 560 teatrnarodowyProbe zu Schillers "Die Räuber" ("Zbójcy"), zweiter von rechts: der Regisseur Michał Zadara © Teatr Narodowy

Zadara (ein eifriger Brecht-Leser) nimmt die älteste polnische Übersetzung und stellt den Text in einen evident theatralischen Raum. Die zeitgenössischen Kostüme und Möbel, die von Theaterarbeitern auf die Bühne gebracht werden, sind eben das: Kostüme und Dekoration, die weniger Wirklichkeit simulieren als vielmehr ein bestimmtes Wirklichkeitsmodell vor Augen führen. Ein Modell, in dem die Differenz zwischen dem damaligen und dem heutigen Verständnis von Begriffen wie Freiheit, Gleichheit und Solidarität offenbar wird. Und in dem jedes Wort schwer wiegt wie Blei.

Schillers Lektionen

Das Anliegen von Zadaras "Räubern" besteht nicht darin, eine große These zu illustrieren, die Inszenierung will ganz im Gegenteil möglichst viele Themen, Sinnebenen, Emotionen und Schattierungen des Dramas freilegen. Auf der Bühne mischen sich die Konventionen – von der mit melodramatischem Impetus dargestellten Szene in der Bildergalerie bis zur im Stil einer Gangsterfilmparodie gehaltenen Szene, in der die Räuber in einem alten BMW durch die Stadt fahren. Es scheint, als wolle der Regisseur im Eiltempo alle Versäumnisse des polnischen Theaters nachholen, das Schillers Lektion bis heute nicht ausreichend durchgearbeitet hat. Schiller ist auf polnischen Bühnen nicht präsent, obwohl er eine Schlüsselstellung in der Entwicklung der polnischen Romantik einnimmt: Die "Räuber" waren – eben in der von Zadara genutzten Übersetzung – eine der wichtigsten Inspirationen für Mickiewiczs "Ahnenfeier".

Zadara scheint einer Feststellung Walter Benjamins aus dem "Passagen-Werk" zu folgen: Benjamin schreibt, unsere Gegenwart werde vor allem dadurch bestimmt, was wir von unserer individuellen und kollektiven Vergangenheit in welchem Maße zu rekonstruieren und zu begreifen vermögen. Politisches Theater in Polen heißt heute nicht mehr, dass man die Zuschauer in den Warschauer Zentralbahnhof führt (wie es vor zehn Jahren Grzegorz Jarzyna tat), damit sie echte Obdachlose zu sehen bekommen. Es ist auch kein Kabarett mehr, in dem man auf aktuelle Ereignisse reagiert und die Schauspieler wie bekannte Politiker aussehen lässt.

Kampf um historische Wahrheiten

Das Politischste in Polen sind derzeit Fragen des Erinnerns und der Geschichte. Auf diesem Feld tobt ein Kampf. Auf der einen Seite der Barrikade stehen Politiker des rechten Lagers und das Institut für Nationales Gedenken, das die Sicherheitsdienst-Akten der Volksrepublik Polen verwaltet und nur politisch genehmen Historikern Zugang gewährt. Auf der anderen Seite engagieren sich polnische Künstler, die auch an das Unbequeme, Verdrängte und Verbotene erinnern wollen.

Wojtek Ziemilski unternimmt in "Mała narracja" (Kleine Erzählung, Teatr Studio Warschau, 2010) den Versuch einer Gegenprüfung der Sicherheitsdienstakten seines der Spitzelei beschuldigten Großvaters. Paweł Demirski und Monika Strzępka demonstrieren in "Bitwa Warszawska 1920" (Schlacht um Warschau 1920, Stary Teatr Krakau, 2013), wie gänzlich unfromm das Ereignis ausgesehen haben könnte, das man offiziell als "Wunder an der Weichsel" feiert, in dem das "katholische Polen" (unterstützt von der am Himmel erscheinenden Mutter Gottes) Europa vor dem Ansturm der bolschewistischen Truppen bewahrt habe.

Und Michał Zadara schließlich öffnet in seinen Inszenierungen immer wieder die bronzenen Sarkophage der großen Literatur und prüft nach, was sich wirklich darin befindet. Er selbst formuliert seinen Ansatz so: Gewiss könne man die nationalen Mythen, das Erinnern und die Geschichte ignorieren und sich statt dessen mit privaten Dingen befassen. Freilich müsse man dann damit rechnen, dass jemand anderes sie aufgreift und – durch bewusste Verfälschung oder Zensur – für Propagandazwecke nutze.

Bildet eigene politische Lager

In seiner "Räuber"-Inszenierung sieht man zwar Maximilian von Moor in einem eleganten Büro mit einer Hochhaus-Skyline hinter dem Fenster, Karl führt ein Gespräch mit einem lethargischen jungen Arbeitslosen. Und doch meidet der Abend politische oder moralische Erklärungsmuster. Die Anfangsszenen öffnen Assoziationen an "Occupy Wall Street" und den Dualismus eines old-school Kapitalismus versus jungen Revoluzzertums. Dann aber ändert Zadara die Ästhetik, auf einen Michael-Moore-Stil folgt ein Melodram mit theatralischen Gesten und Betonungen der Schauspieler. Franz tritt in schwarzen Skinnys auf, verpackt seinen Hass am Mikrofon in einen Sprechgesang. Immer wenn man denkt, man hat Zadaras Haltungen begriffen, zwingt er uns wieder neu hinzuschauen.

zbojcy3 560 teatrnarodowy Vater Moor (links) und Franz Moor mit dem Brief, der den Bruder verunglimpft
© Teatr Narodowy

Eine Zuschaueremanzipation, die am irritierendsten in der Pause wird. Nach der Ankündigung, dass die Schauspieler währenddessen weiterspielen würden, aber man durchaus gehen könne und alles, was für die Handlung wichtig ist, sowieso später passiere, verlassen tatsächlich viele Zuschauer den Saal. Dabei sind es die provokantesten, komplexesten Monologe des Stückes, die in der Pause gezeigt werden. Die Zuschauer können also frei wählen, was sie sehen wollen: Ernst oder Unterhaltung? Die abgespeckte Version oder quasi den "Director's cut"? Ein Vater-Sohn-Drama samt Liebesunglück, die philosophische Abhandlung über Freiheit und Moral oder das Sozialdrama über ökonomische Abhängigkeiten?

Regisseure haben in der polnischen Öffentlichkeit eine wichtige Stimme. Krystian Lupa and Jan Klata beispielsweise werden von den Medien regelmäßig gebeten, politische Ereignisse zu kommentieren. Es wird von Regisseuren auch erwartet, dass sie die Stücke dem Publikum erklären und starke, klare Thesen formulieren. Wichtige Arbeiten geben deshalb auch für Jahre die "offizielle" Interpretation eines Stücks vor. Zadara unterläuft die klare Interpretation jedoch, entzieht sich politisch rechts oder links positionierten Argumenten, denen viele andere Künstler folgen. Seine Versuche, das Publikum zu emanzipieren und ihrer Intelligenz zu vertrauen, sind in Polen eine völlig neue Art politischen Theaters.

Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann

Anna Roza BurzynskaAnna R. Burzyńska geboren 1979, Redakteurin der Theatermonatsschrift "Didaskalia". Dozentin am Lehrstuhl für Drama und Theater an der Krakauer Jagiellonen-Universität. Buchpublikationen: "Mechanika cudu" (Die Mechanik des Wunders, 2005 – über metatheatralische Konstruktionen im polnischen Avantgardedrama), "The Classics and the Troublemakers" (2008 – Porträts zeitgenössischer polnischer Regisseure), "Maska twarzy" (2011 – Maske des Gesichts) und "Małe dramaty" (2012 – Kleine Dramen; die zwei letzten Bände des literarischen Werks von Stanisław Grochowiak).