Drehbühne durch die Zeit

von Anne Phillips-Krug

Buenos Aires, Juni 2010. Mariano Pensottis Stück "El pasado es un animal grotesco" (Die Vergangenheit ist ein groteskes Tier) beginnt mit Szenen in Buenos Aires am 22. Juni 1999: Mario schaut sich mit seiner Freundin ihre Lieblingsszenen aus den Filmen von Jaques Demy an. Laura spricht in einem Vorort von Buenos Aires eine Abschiedsbotschaft für ihre Familie aufs Tonband, bevor sie sich mit den Ersparnissen ihres Vaters auf den Weg nach Paris macht. Pablo findet eine Kiste mit einer abgeschnittenen Hand vor seiner Tür, die sein Leben bis zum Ende beeinflussen wird, und Vicky erfährt von der zweiten Familie ihres Vaters, - mit einer ihr zum Verwechseln ähnlichen Tochter.

Während sich die Bühne durch die Ereignisse der letzten Dekade dreht, entfalten und rekonstruieren die vier Schauspieler die Geschichten ihrer Figuren: ineinander verschachtelte Fragmente, die sich nur insofern überschneiden, dass jeder der Schauspieler zuweilen zum Erzähler der Erlebnisse der anderen wird. Gezeigt werden Alltagssituationen, mal banal, mal schrill. Sie werden durch eine Stimme aus dem Off beschrieben und kommentiert.

Montage und Fragment

Die Methode, Gedanken und Gefühle, zukünftige und vergangene Erfahrungen der Figuren in eine narrative und geschichtliche Dimension einzubetten und Fiktionen zugleich einen realen Rahmen wie einen geschichtlichen Kontext zu geben, hat Pensotti bereits in mehreren site-specifics realisiert, bei denen Mietshäuser zu Spielstätten, Badezimmer und Bürgersteige zu Bühnen wurden. In "El pasado es un animal grotesco" setzt er sie mithilfe digitaler Jahreszahlen, einer Stimme aus dem Off und einer konstant rotierenden Drehbühne erstmals auch innerhalb eines Theatersaals um.

Der 1973 geborene Mariano Pensotti studierte Film und visuelle Künste, bevor er vor zehn Jahren zum Theater wechselte. Seine Stücke montiert er aus einer Vielzahl fragmentierter Geschichten. Durch eine nonlineare Erzählweise und die Verwendung verschiedenster literarischer und kinematographischer Elemente bewegen sie sich zugleich auf mehreren Ebenen. "Auf diese Art ist es mir möglich, vieles gleichzeitig zu erzählen: kleine, private Geschichten, die sich mit den großen Themen der Gegenwart und philosophischen oder politischen Ideen vermischen. In meinen Geschichten verbinden sich reale Ereignisse mit biographischen Anekdoten meiner Bekannten und einer Menge Fiktion."

400 versteckte Theater

An die Kunst als Verbreitungsmedium für politische Ideen glaubt er nicht. "Für mich ist unabhängige Theaterarbeit immer auch politisches Handeln - vor allem in einer Stadt wie Buenos Aires und besonders angesichts der Struktur der hiesigen Off-Szene. Wenn sich Leute für ein gemeinsames Projekt entscheiden, wollen sie etwas bewegen, bei sich und bei den anderen, sie wollen eine Verbindung zwischen Zuschauern und Stück herstellen. Politisch sind meine Stücke aufgrund ihrer Entstehungs- und Produktionsgeschichte und der möglichen Veränderungen, die sie bei uns und unseren Zuschauern bewirken."

Obwohl "El pasado es un animal grotesco" in einem der offiziellen, staatlich finanzierten Theater von Buenos Aires uraufgeführt wurde, sieht Pensotti seinen Platz prinzipiell innerhalb der unabhängigen Theaterszene der Stadt. Diese Szene wird bestimmt durch ungewöhnliche Produktionsformen und heterogene Spielorte. In Buenos Aires gibt es über 400 unabhängige und eine Vielzahl illegaler Theaterräume - sogenannte teatros clandestinos (versteckte Theater). Gespielt wird oftmals in Kellern, auf Dachböden oder in Wohnzimmern.

Mit sehr wenig viel erzählen

Das nahezu völlige Fehlen von Subventionen hat Auswirkungen auf die Ästhetik der Arbeiten. Geprobt wird meist einige Tage pro Woche und über einen sehr langen Zeitraum, wodurch man viele unterschiedliche Spielweisen ausprobieren kann. Wegen des fehlenden Budgets sind die Bühnenbilder und die technische Ausstattung oft wenig aufwändig - und was erwirtschaftet wird, wird für die Bezahlung von Spielstätte und Ensemble genutzt. Der Schwerpunkt liegt vor allem auf dem Spiel und der Erzählweise. "Das sind Stücke mit großem erzählerischem Ehrgeiz", betont Pensotti. "Mit sehr wenig wird versucht, sehr viel zu erzählen." Für das aktuelle Stück hat er eineinhalb Jahre probiert. Vier Schauspieler verkörpern 40 Figuren, und das rotierende Bühnenbild erlaubt es, eine Vielzahl verschiedener Räume zu schaffen.

In "El pasado es un animal grotesco" zeichnet Mariano Pensotti anhand von Momentaufnahmen zehn Jahre aus dem Leben einer Gruppe von Angehörigen einer spezifischen Generation und bestimmten Bonarenser Mittelschicht nach. "Der Altersabschnitt zwischen 25 und 35 ist eine sehr spannende und stark identitässtiftende Lebensphase, in der man immer wieder die Erfahrung macht, erneut bei Null anfangen und sein ursprüngliches Lebenskonzept umdefinieren zu müssen", meint Pensotti. "Das gilt besonders für Argentinien, wo wir speziell in jenen Jahren gemerkt haben, dass es wenig Sinn hat, langfristige Projekte zu haben."

Rückzug

Im Verlauf der Inszenierung wandern die vier Protagonisten auf der Drehbühne von einer Lebenssituation in die nächste, die gelebten Jahre werden in Form von Pappkartons am Bühnenrand archiviert. Die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Ereignisse der vergangenen Dekade, die Einfluss auf das Leben der Figuren haben, setzen die dargestellten Situationen in Beziehung zur argentinischen Wirklichkeit.

Diese Erzählweise, immer auch die Realität ausserhalb des Theaters zu thematisieren, findet nach Meinung Pensottis gegenwärtig in der Off-Theaterszene kaum noch statt. Sie hat sich in den letzten Jahren immer weiter in familiäre, minimalistische oder selbstreferentielle Geschichten zurückgezogen. Ihn interessiere dagegen die Arbeit an den Grenzen: zwischen Realität und Fiktion, Theater und Kino, Performance und Literatur, sagt Pensotti. Insgesamt ist er dennoch zuversichtlich: "Viele jüngere argentinische Regisseure fangen an, Elemente anderer Disziplinen in ihre Arbeiten zu integrieren. Dadurch entstehen Inszenierungen, die bizarrer und experimenteller sind und nicht mehr so sehr das typische Stück des unabhängigen argentinischen Theaters nachempfinden. "