Voll Karacho aus dem Ruder

von Eva Biringer

Hamburg, 1. April 2014. Für Herbert Fritsch bedeutet der Wechsel von der Probebühne auf die große Bühne ein Vielfaches an Laufweg. Wenn er, selten genug, auf seinem Platz in der fünften Reihe sitzt, dann in Erdmännchenhaltung, pfeilgerade auf der Sesselkante, die Hände auf dem Vordersitz. Wenn er, wie meistens, nicht auf seinem Platz sitzt, rast er durchs Parkett. Gäbe es so etwas wie "Kilometergeld", Fritsch wäre ein reicher Mann.

In Kurzform lautet Fritschs Inszenierungsprinzip: Trampolin – Klamauk – Karacho. Für das Hamburger Schauspielhaus inszeniert er Molières "Die Schule der Frauen." Die Handlung geht so: Ein seniler Alter mit Namen Arnolphe zieht im Verborgenen die Waise Agnès auf, um aus ihr eine möglichst dumme Ehefrau zu machen. Horace, ein Freund Arnolphes, verliebt sich in Agnès und gemeinsam tricksen sie den Ziehvater aus, um am Ende vor den Altar zu treten. Der Regisseur sorgt für Figuren im Dauerwahn, der allenfalls kurzzeitig gedeckelt werden kann, bevor er sich wieder Bahn bricht.

schule-der-frauen-i 560 thomas-aurinHat gut lachen: Herbert Fritsch, hier mit Martin Pawlowsky als Chrysalde © Thomas Aurin

Rummspräsenz und Kaugummienglisch

Entsprechend heißt die Probengrundstimmung "Kindergeburtstag", mit Fritsch als Zauberkünstler und Geburtstagskind in Personalunion. Die anderen "Gäste" tragen jeder nach seiner Façon zur Heiterkeit bei: Bettina, von allen nur Stucky genannt, als Arnolphes Dienerin Georgette, deren kehliges Mundwerk diverse Dialekte anzubieten hat und den ganzen Raum beschallt. Josef Ostendorf, der dieselbe Rummspräsenz erzielt mit einer bräsigen Märchenonkelstimme und bedächtigen Bewegungen. Ostendorf / Stucky als frankophones, sich mit Tierkadavern bewerfendes Dienerpaar könnten das Bühnengeschehen problemlos allein bestreiten. Karoline Bär spielt Agnès wie eine lebende Spieluhrenfigur, die Pirouetten dreht, bis sie das Gleichgewicht verliert. Dass sie nicht erst siebzehn ist, erinnere ich erst wieder am Tag ihres dreißigsten Geburtstags, für den Andreas Grötzinger eine sagenhafte Marzipantorte bäckt. Sonst beeindruckt Andreas mit seinem transeuropäischen Akzentrepertoire. Sein Enrique, der in die USA ausgewanderte Vater von Agnès, dessen Funktion im Stück keiner versteht, am wenigsten Fritsch selbst, spricht ein grandioses Kaugummienglisch.

Dramaturgin Sabrina Zwach hat die Molière-Vorlage neu übersetzt und wacht über wenigstens ansatzweise Integrität ihres Textes. Gegen Textänderungen von "der Mann ist sehr geschickt" zu "der Mann, der so gut fickt" ist sie machtlos. Und wenn aus "Möbel, Hausrat, Häuser" das "Möbelhaus Rathäuser" wird, hat sich Fritsch zufolge die Probe schon gelohnt.

schule-der-frauen-ii 560 thomas-aurinZwei Meister: Joachim Meyerhoff und Herbert Fritsch © Thomas Aurin

Da sind ein paar Schrauben locker

An der Wand der Probebühne in Altona hängen Figurinen mit löchrigen Perücken und zerfetzten Miedern, man kann die Mottenkugeln knistern hören. Die Kostümbildnerin Viktoria Behr nennt das "Rokoko shabby chic." Die Schauspieler haben zu kämpfen. Karolines Sichtfeld versperrt eine blonde Wallemähne, Bettina und Josef stolpern über ein Reifrockungetüm. Dabei handelt es sich hier um Prototypen, die eigentlichen Kostüme sind erst zur sogenannten AMA ("alles mit allem") vollendet, einer Art Generalprobe der Generalprobe. Ein schön abgerocktes Bild geben Arnolphes lockere Knöpfe ab, als Äquivalent zu den Schrauben in seinem Kopf. Bei Joachim Meyerhoffs Spieltempo verwundert es nicht, dass ständig Teile des Kostüms über die Bühne kullern.

Nach dem Umzug ins große Haus zieht das Tempo weiter an. Schuld daran trägt der Live-Musiker Ingo Günther, mit dessen permanenten Störgeräuschen die Darsteller arbeiten müssen. In Trainingsjacke und mit Fliegerbrille auf der Stirn beugt er sich über bunt blinkende Gerätschaften, lässt es in aberwitzigem Tempo wabern und dissonieren. Damit die Sprechgeschwindigkeit der Schauspieler sich jener von hochgepitchten Comicfiguren annähert, hilft eine Sprachtrainerin beim "Text reinkloppen". In Einzelsitzungen.

Herbert Fritsch versteht "Die Schule der Frauen" als theatergewordene Pathologie des menschlichen Wahns. Im Sinn von Realitätsverlust wie bei Ulrich Hoeneß, dessen Schicksal Fritsch offenbar sehr nahe geht. Realitätsverlust wie bei den Wiener Kollegen, wo sinkende Kapitäne das ganze Schiff in die Tiefe reißen, weil sie zu hoch gepokert haben. Fritsch hat ein Herz für Spieler, spricht von den Casinos in Baden Baden, erzählt von italienischen Matriarchinnen, die sich beim Sprung vom Roulettetisch beide Beine brechen. Er ermuntert uns, Filme von Louis de Funès, Laurel und Hardy und Jerry Lewis anzuschauen, zitiert Rammsteinvideos und "Tatort"-Kommissare. Nur ganz selten einmal soll Bastian Reiber als Horace mit großer Geste von der Rampe herab deklamieren, auf dass später "ein Raunen vom 'großen Schauspieler' durch die Kantine" gehe.schule-der-frauen 560 thomas-aurinVorspiel, Nachspiel: Herbert Fritsch und Joachim Meyerhoff © Thomas Aurin

Wenn der Löffel zweimal klingelt

Und wie springt der Fritsch-Funke auf das Ensemble über? Joachim Meyerhoff in der Hauptrolle muss nicht erst entzündet werden, eher gedimmt, denn er brennt lichterloh. In den wenigen Momenten, wo Fritsch die Puste auszugehen droht, übernimmt Meyerhoff, dessen Wahnsinnspräsenz keinen Unterschied macht zwischen Probebühne, großer Bühne und Theaterkantine. Meyerhoff ist die personifizierte pochende Halsschlagader, er strampelt am Boden, rennt gegen Wände. Wenn Meyerhoff in Aktion ist, klingelt in manchen Momenten, das ist kein Scherz, der Löffel in der Kaffeetasse. Wenn Meyerhoff nicht in Aktion ist, harrt er in Lauerstellung, beißt in sein Halstuch, knetet seine Perücke, wartet, dass die Spielwut wieder ausbrechen kann, seine Mimik ist auch für die Leute auf den billigen Plätzen gut einsehbar.

Von den anderen Schauspielern adaptieren einige das Fritsch-Tempo bereitwilliger als andere. Bastian hat schon mehrmals mit dem Augsburger Spielmeister zusammengearbeitet, kein Wunder, dass er wirkt wie ein Ureinwohner des Fritschs-Universums. In seinen ersten Szenen auf der Probebühne werfen ihn unsichtbare Briefe zu Boden, auf Kollegenkörpern spielt er Klavier. Ich habe das Gefühl, er hat schon heimlich geübt.

Sinnsuche auf allen vieren

Am saubersten schnurrt das Fritsch-Rädchen natürlich beim Meister selbst, der eigentlich alle Rollen eigenhändig spielen müsste. Gewiss werden die Regisseurshemden jeden Tag gewechselt, anders ist deren Waschmittelwerbungweiß gar nicht zu erklären – wälzt sich ihr Träger doch bei jeder Probe auf dem schmutzigen Bühnenboden.

Einen willkommenen Anlass, alles vollends aus dem Ruder laufen zu lassen, bietet der Stückschluss. Entsprechend den "entgleisenden Gesichtszügen" in der Vorlage, die jetzt völlig ins Abseits gerät. Alle radebrechen drauf los, Deutsch, Denglisch, Finnisch, es blüht der multilinguale Kauderwelsch. Martin Pawlowsky sucht auf allen vieren "den Sinn", Michael Weber prüft die Echtholzqualität des Bühnenbilds, Stucky / Ostendorf poussieren ihre Tierchen – das ist der Irrsinn, auf den ich gewartet habe.

 

biringer kleinEva Biringer schreibt für nachtkritik.de oder Die Zeit oder den Standard, wenn sie nicht gerade einen Milchmädchenmonolog hält. Zuletzt hatte sie sich entschlossen, das Theater, das sie sonst vom Kritikerinnensessel aus begutachtet, auch einmal als kopierende Hospitantin zu erleben. Sie ging zu Herbert Fritsch und wurde eingesogen.

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