Jammerlappen und Motorradhelden

von Claude Bühler

Winterthur, 31. Mai 2014. Hat nun das erste Schweizer Theatertreffen den "Berliner Deutungsanspruch" (des Berliner Theatertreffens) angegriffen, wie es die Berliner Zeitung schrieb? Wohl kaum. Gibt es überhaupt genügend Theater in der kleinen Schweiz für eine regelmäßige, relevante Leistungsschau, wo die beiden bestimmenden Schauspielstädte Zürich und Basel, die mit Karin Henkels Amphitryon und Christoph Marthalers Das Weiße vom Ei präsent waren, nur eine Zugstunde auseinander liegen? Das wird sich mit den nächsten Jahrgängen erweisen. Eher bescheidene 2130 Eintritte wurden dieses Mal in Winterthur verzeichnet. Die mehrsprachig zusammengesetzte Kritiker-Jury hat aus 200 Vorschlägen sieben Produktionen ausgewählt, davon zwei französisch- und eine italienischsprachige. Letztere wurden mit Übertitelungen übersetzt.

Das Theatertreffen soll denn auch den Austausch über die nur schwer überwindlichen Sprachgrenzen hinweg fördern, die die Schweiz auch in verschiedene Theaterkulturen hinsichtlich Stil und Produktionsweise aufteilen. Darum soll das Festival ab 2016 (2015 nochmals in Winterthur) im Turnus abwechselnd auch in der französischen und der italienischen Schweiz stattfinden.

Tempo- und Bilderrausch

Den Ruf, dass es den West- und Süd-Schweizern eher als den deutschsprachigen um elegisch stimmende Bilderräusche denn um gesellschaftliche Deutungen gehe, hat am Freitag Abend der Lausanner Massimo Furlan bestätigt. Sein multimediales Projekt "Giacomo" über die italienische Motorrad-Legende der sechziger und siebziger Jahre, Giacomo Agostini, setzt dem Publikum einen tiefen, schwarzen, meist spärlich beleuchteten Bühnenraum vor, in dem verschiedene Realitätsebenen ineinander übergehen. Die wortlose Geschichte kann man als die Erinnerungen eines Theaterkünstlers lesen, der die Faszination für den Helden seiner Jugend mit Zeitlupenbewegungen und der Zelebrierung exemplarischer Gesten und Szenen auslebt, wie man sie auch aus dem Fernsehen kennt: Giacomo, der im Siegesrausch gerührt den Kopf schüttelt, Giacomo, der an der Startlinie wartend (frontal ins Publikum) am Gasdrehhebel reißt, hungriger als die drei Konkurrenten neben ihm.

giacomo 560 bohumil-kostohryzAuf dem Motorradbock: Massimo Furlans "Giacomo" © Bohumil Kostohryz

Das geht so weit, dass man sich fragt, ob die öfters ins Metaphorische gesteigerten Erlebniswelten, in die Giacomo versetzt wird, nicht eher denen eines Künstlergemüts als des handfesten Rennfahrers entsprechen. Der Temporausch etwa wird zum metaphysischen Durchbruch: Giacomo (Gianfranco Poddighe) auf einsamer Strecke, reitet sein Motorrad wie ein Tier, kippt heftig nach links, nach rechts. Das Video (Bastien Genoux) hinter ihm spult die Strecke ab, aufgelöst in ausgefranste Farbpartikel. Die Tonspur dröhnt, dass der Boden zittert. Da plötzlich, wie im Rausch, steigt Giacomo ab, begegnet einem Zentauren (Anne Delahaye) und Ruth-Elizabeth Childs schwenkt barbusig die Schachbrettflagge als wäre sie wie auf Delacroix' Gemälde die Freiheit, die das Volk führt. Nach Freiheit strebt der Mann und findet wieder nur Sehnsucht: In einer Toncollage vermischt sich heller Sirenengesang mit dem giftigen Wespengebrumm sich entfernender Maschinen.

Große Kinder

Die poetische Leder-, Macho- und Motorenlärm-Show ohne eigentliche Story würde über die eine Stunde Dauer nicht tragen, wenn Furlan sie nicht hin und wieder mit anrührender Komik gebrochen hätte. Die Boliden, auf denen die Fahrer auf der Bühne die Rennen nachstellen, sehen wie Kinderspielzeuge aus. Der wiederkehrende Auftritt eines Jungen (Romeo Furlan), dem Motorradheld am Ende seinen Helm überreicht, macht klar, dass Giacomos Welt die eines großen Buben ist.

Hat Furlan den Mann an sich und seine Träume gewissermaßen schön eingerahmt und aufgehängt, so hat die freie Zürcher Gruppe kraut_produktion am Abschlussabend gestern das Bild von der Wand gerissen, es auf den Boden geknallt und die Schnipsel nicht ohne Häme dem Publikum hingestreckt. Vor allem geht es um den einen Schnipsel. Herwig Ursin führt seinen Kollegen etwa die "arabische Schwanzmassage" vor, um den Erektionswinkel, der natürlich nicht mehr der sei, den man mit 24 Jahren gehabt habe, wieder steiler hinzukriegen, indem er sein entblößtes Teil an zwei Fäden anbringt und dieses über die Ohren hochzieht. Einige lachten, andere verließen das Auditorium.

Zeitgemäßes Dilemma

"Woher die kleinen Kinder kommen" könnte auch so heißen: "Wie lächerlich kann der Mann noch werden". Die Welt des Mannes ist hier ein psychedelisch geratenes Kinderzimmer ohne große Raumtiefe voller menschengroßer Stofftiere mit langem Rüssel und vielen Ballonen. Die vier Typen auf der Bühne bedürfen von Beginn an keiner Demontage mehr: Nils Torpus gibt den gemütvollen Komplexhaufen mit Wampe und in Militärhose. Michael Wolf ist der Softie mit bis zum Bauchnabel offenen T-Shirt. Herwig Ursins Dauerstirnfalten unter der Nerd-Brille betonen den Zwangscharakter und Ilja Komarov ganz in Orange würde man den Tantra-Workshop zutrauen.

woher-die-kleinen-kinder-kommen 560 sava-hlavacekEine Art Klapperstorch: "Woher die kleinen Kinder kommen" © Sava Hlavacek

Nicht weniger sonderbar die Dame: Sandra Utzinger zeigt einen Verschnitt aus Lene Lovich und forscher Manager-Kurs-Animatorin, die den Herren schon mal in den Schritt langt. Wenn sie vom Mann fordert, er müsse Macho, Patriarch und animalisch einerseits, gleichzeitig aber gut zuhören können und sich um die Kindern kümmern, so reißt das zwar das oft kolportierte Dilemma des heutigen Mannes auf, aber wie das hier gemeint ist – fies oder ernst oder ironisch – wird nicht klar.

Im Selbstbild eingerichtet

Jurorin Daniele Muscionico hatte dem Publikum eine "Gratwanderung" zum Thema Mann versprochen. Nun ist die Truppe aber selbst vom Grat in Zynismus abgerutscht und stellt allein die Schande eines zum Jammerlappen degenerierten Mannes aus, der sich nichts mehr traut. Sie hat dazu kaum mehr anzubieten, als den realen Trash in einer Trash-Vorführung zu verdoppeln. Etwa in den einer Casting-Live-Übertragung für die Mister Schweiz-Wahlen, oder den der Feminismus-Debatten in den Social Media, deren Kauderwelsch sie nachbrüllt. Daneben die üblichen Männerbilder: Männer zertrümmern E-Gitarren, Männer sitzen melancholisch zu Country-Musik ums Lagerfeuer, Männer saufen Bier, das sie wieder herauskotzen.

Die Inszenierung von Michael Schröder wartet alle zwei Minuten mit einem neuen Einfall auf. Aber trotzdem ziehen sich die zwei Stunden. So richtig frech ist der Abend bei aller Bemühung nicht geworden. Eine Ausnahme: Thomas Bernhard ruft vom Band, dass sich jeder in seinem Betrug, also in seinem verlogenen Selbstbild "sauwohl" fühle. Danke. Von solcher thematischer Durchdringung hätte dieses oberflächliche Männerbildhopping mehr vertragen.

 

Giacomo
von Massimo Furlan und Claire de Ribaupierre
Ko-Produktion: La Bâtie – Festival de Genève, Arsenic Lausanne, Théâtre Benno Besson Yverdon-les-bains, Théâtres de la Ville Luxembourg
Regie: Massimo Furlan, Dramaturgie: Claire de Ribaupierre, Bühne und Licht: Antoine Friderici, Kostüme: Cécile Delanoë, Musik: Stéphane Vecchione, Video: Bastien Genoux, Le Flair.
Mit: Emilie Charriot, Ruth-Elizabeth Childs, Anne Delahaye, Géraldine Dupla, Massimo Furlan, Romeo Furlan, Hervé Jabveneau, Gianfranco Poddighe.
Dauer: 1 Stunde, ohne Pause

Woher die kleinen Kinder kommen
kraut_produktion, Rote Fabrik Zürich
Regie: Michael Schröder, Bühne: Silvia Buonvicini, Severin Hofmann, Kostüme: Nic Tillein, Video: Roland Schmidt.
Mit: Ilja Komarov, Nils Torpus, Herwig Ursin, Sandra Utzinger, Michael Wolf.
Dauer: 2 Stunden, ohne Pause

www.schweizertheatertreffen.ch

 

Mehr dazu: Mit Beginn des Festivals wurden die mit 100.000 Franken dotierten Preise des Schweizer Theatertreffens vergeben, zum Abschluss die Publikumspreise.

 

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