Theater gegen die Mcdonaldisierung der Welt

von Esther Slevogt

Budapest, April 2014. Putin-Witze machen die Russen am liebsten selber: Es sei natürlich nur eine Frage der Zeit, bis Wladimir Putin sich auch Alaska zurückholen werde, sagt ein junger Dramaturg vom St. Petersburger Bolschoi Drama Theater und grinst: "Putin's Ice-Krim" sozusagen. Die Halbinsel wäre schließlich 1867 vom dummen Zaren zu einem Schleuderpreis an die USA verhökert worden und natürlich von extremer strategischer Bedeutung. Er ist im Gefolge von Andrej Mogutschis St. Petersburger Lewis-Caroll-Abend "Alice" nach Budapest gekommen, eines der Highlights der ersten Ausgabe des neuen Theaterfestivals M.I.T.E.M. am Nationaltheater.

nationaltheater 280h zsoltszaboeoeri uVor dem Budapester Nationaltheater
© Zsolt Szabó Eöri
Ja, wenn man erst einmal anfangen würde, die Grenzen der Ukraine in Frage zu stellen, dann könnte auch Ungarn Begehrlichkeiten entwickeln, sagt ein anderer beim Pausen-Smalltalk in der Abendsonne vor dem Budapester Nationaltheater. Und das ist dann kein Witz mehr. Die ukrainische Oblast Transkarpatien, bis 1918 Teil der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, sei schließlich einmal ungarisches Kernland gewesen. 1920 kam Transkarpatien mit dem Trianon-Vertrag zunächst an die Tschechoslowakei. Zwischen 1939 und 1944 gehörte sie zu Miklós Hortys Ungarn. Erst 1945 verleibte sich die Sowjetunion Transkarpatien ein und ordnete die Region der ukrainischen Sowjetrepublik zu.

Nationaltheateridee

Attila Vidnyánszky, seit dem vergangenen Jahr Intendant des Nationaltheaters in Budapest, ist als Angehöriger der ungarischen Minderheit 1964 selbst in der Ukraine geboren. Er ist der Initiator des neuen internationalen Theaterfestivals in Ungarn. Schwerpunkt der ersten Edition: das postsowjetische Theater. Sein Handwerk hat Vidnyánszky in den letzten Lebensjahren der Sowjetunion an der Theaterhochschule in Kiew gelernt. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR gründete er als junger Regisseur in seiner ukrainischen Heimatstadt Berehove ein Theater für die ungarische Minderheit. Dessen Arbeit ist nun auch von dem geplanten Sprachengesetz der neuen nationalistischen Übergangsregierung in der Ukraine betroffen. Die ungarische Sprache darf nur noch auf der Bühne benutzt werden, und zwar ausschließlich in Form des Textes des aufgeführten Dramas. Bereits Regieanweisungen, Proben- und andere Gespräche müssen in ukrainischer Sprache stattfinden.

In einer Zeit, da überall in Europa der wieder erstarkende Nationalismus sein gefährliches Janusgesicht zeigt, fand nun in Budapest das nach dem ungarischen Nationaldichter Imre Madách benannte Madách International Theater Festival (M.I.T.E.M.) statt – unmittelbar vor den ungarischen Parlamentswahlen, die am ersten Aprilwochenende erwartungsgemäß die nationalkonservative FIDESZ-Partei unter Ministerpräsident Viktor Orbán für sich entschied.

alice mogutschi 560 bolschoidramatheatre uAndrej Mogutschis Lewis-Caroll-Adaption "Alice" vom St. Petersburger Bolschoi Drama
Theatre © Bolschoi Drama Theatre

Zwei Wochen lang, vom 26. März bis zum 7. April, zeigte das Budapester Nationaltheater explizit Produktionen von Nationaltheatern, um damit auch die Bedeutung dieser Institutionen als Träger nationaler Identitäten zu behaupten. "Ein 'nationales' Theater muss die Charakteristika des Landes und der Nation, für die es steht, auf der Bühne darstellen und ausformen", formulierte in seinem Grußwort der für die Kultur zuständige Minister Zoltán Balog den Auftrag eines Nationaltheaters. "Es soll historische Errungenschaften und Verfehlungen einer Nation reflektieren." Zu seinen "noble tasks" gehöre jedoch auch die Würdigung der Theatersprachen anderer Nationen.

Wichtige westöstliche Plattform

Die Mehrzahl der eingeladenen Produktionen kam aus Ländern des einstigen Ostblocks, die erst in den letzten beiden Jahrzehnten Erfahrungen mit nationaler Unabhängigkeit gemacht haben. Aus ehemaligen Sowjetrepubliken wie Moldavien, Litauen oder Georgien. Oder einstigen Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes wie Bulgarien, Rumänien und nicht zuletzt aus Ungarn selbst. Aber auch die Theater aus der Türkei, Frankreich und Norwegen waren vertreten. Hauptgastland war Russland. Denn das inhaltliche Dach, das sich über das gesamte Festival spannte, bestand in der Befragung des Erbes des russischen Theaterreformers Konstantin Stanislawskis und seiner unterschiedlichen postsowjetischen Ausformungen. So war die Krise in der Ukraine auf dem Festival mit den vielen postsowjetischen Nationaltheatern zwar als Gesprächsthema dauerpräsent. Gleichzeitig wurden das gemeinsame kulturelle Erbe beschworen. Gutes Russland, böses Russland?

Das M.I.T.E.M.-Festival ist auch das Festival, zu dem Matthias Hartmanns Burgtheater eingeladen war, das seine Teilnahme jedoch frühzeitig abgesagt hatte, weil Hartmann sich von der ungarischen Kulturpolitik nicht instrumentalisieren lassen wollte, die, so die Wahrnehmung, nur politisch konforme Künstler fördere und in zentrale Positionen bringe, politisch und künstlerisch missliebigen Freien Theatern dagegen finanziell das Wasser abgraben würde. So wurde dieses Festival von der liberalen ungarischen Presse dann auch weitgehend ignoriert. Es hatte lediglich im Vorfeld scharfe Angriffe gegeben, weil seine Alimentierung Orbáns politischen Widersachern nun als abermaliger Beleg für die ideologisch einseitige Kulturpolitik seiner Regierung galt.

moewe1 560 zsoltszaboeoeri u"Die Möwe" vom Serbischen Nationaltheater Novi Sad © Zsolt Szabó Eöri

Intendant Attila Vidnyánszky müsse eben dafür sorgen, so ein junger russischer Theatermacher, dass er den Ruch des Regierungsgünstlings loswürde. Vidnyánszky sei doch ein bedeutender Regisseur und habe das gar nicht nötig. Man könne nun mal entweder ein guter Politiker oder ein guter Künstler sein. Dieses Festival habe als westöstliche Plattform außerdem ein Riesenpotenzial und sei daher zu wichtig, um, kaum geboren, sofort wieder in den ungarischen Kulturkämpfen unterzugehen. Denn es mache eine europäische Theaterszene (und einen Diskurs) sichtbar, die in dem von westeuropäischer Ästhetik und westeuropäischem Geld dominierten Festivalzirkus bislang eher ignoriert würde. Die Wiener Festwochen zum Beispiel, geografisch auch gut in der Mitte Europas platziert und als westöstliches Schaufenster eigentlich prädestiniert, seien viel zu abhängig von Geschmack und Sehgewohnheiten eines westlich orientierten, gut zahlenden bürgerlichen Publikums. Die Länder Osteuropas aber hätten nun mal eine andere Geschichte, die im gesamteuropäischen Diskurs bisher nicht angemessen vertreten sei.

Reflexionen über die Verschwundenen

Serbien, das einmal zu Jugoslawien gehörte, ist eines dieser Länder. Jugoslawiens Gründervater Tito suchte in den späten 1940er Jahren einen von Stalin unabhängigen Weg zum Kommunismus. Titos Abkehr von Stalin hatte mörderische Parteiäuberungen und Schauprozesse in Bulgarien, Ungarn und der Tschechoslowakei zur Folge, womit die kommunistischen Kader brutal auf Moskauer Kurs eingeschworen wurden. Er widme diese Vorstellung den Verschwundenen, den Opfern der stalinistischen Säuberungen, sagte in Budapest nun der slowenische Regisseur Tomi Janežič vor Beginn seiner siebenstündigen szenischen Übermalung von Tschechows "Die Möwe" (Serbisches Nationaltheater, Novi Sad). Alle Figuren des Stückes seien schließlich ebenso Verschwundene wie die Opfer des Stalinismus.

moewe 560 zsoltszaboeoeri u"Die Möwe" vom Serbischen Nationaltheater. Der letzte Akt, das Wiedersehen von Nina und
Kostja, findet als Videoprojekton statt. © Zsolt Szabó Eöri

Janežič ist in seiner Eigenschaft als Regisseur die ganze Zeit auf der Szene anwesend. Die Inszenierung legt Schicht um Schicht des Dramas frei, die Beziehungen der Figuren untereinander, ihr Verhältnis zur Kunst. Dies führt im 3. Akt zu einem Exzess, wenn die Akteure mit Farbrollen Marc-Rothko-artige Riesengemälde auf große Plexiglasscheiben auftragen. Ja, hatte man gedacht, als anfangs die Rede auf die Opfer der stalinistischen Schauprozesse kam, die "Möwe" ist eigentlich ein idealer Stoff, um die Frage zu untersuchen, inwieweit die Forderung Kostjas nach dem "Neuen" eben auch die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts mit ausgebrütet hat.

Doch die Inszenierung Tomi Janežičs geht einen anderen Weg. "Hier bist du – Das Theater!" ist der erste Akt überschrieben, der als offene Probensituation (mit über Tonband eingespielten Aufnahmen tatsächlicher Proben) den Aneignungsprozess des alten Stoffes für die heutigen Schauspieler zwar offenlegt, aber ein Bekenntnis zur Illusion des Theaters bleibt, wenn auch ein hochreflektiertes. Bereits im zweiten Akt ist die Inszenierung bei der Frage nach der Illusion angelangt: der Illusion, die sich Menschen voneinander machen (etwa Nina von Trigorin), aber eben auch bei der Reflexion jener Illusionen, die das Theater selbst produziert. Akt drei gräbt sich bei der Suche nach einer Antwort tief ein in die Figuren und ihre Sehnsüchte. Immer wieder werden die Fragen nach Liebe, Sehnsucht und Intimität mit Szenen des Stückes durchgespielt. Aus Motiven, einzelnen Worten destilliert Janežič ganze Akte. Ein Wort des Arztes Dorn ("Verwunschener See") dient als Absprung in Meditationen über Romantik und Sehnsucht, "Jemand kommt" führt tief in die fatale Dynamik der Mutter-Sohn-Beziehung von Kostja und Arkadina.

Wie ohne Gedächtnis überleben?

Die Frage nach dem Totalitarismus stellte stattdessen Attila Vidnyánszkys Inszenierung "Fabulous Winged Men" (Mesés Férfiak Szárnykkal). Dabei handelt es sich um fast reines Bildertheater. Das Publikum sitzt auf einem Gerüst in der Mitte der Bühne und dreht sich um sich selbst. Es fährt dabei an den Szenen der Inszenierung vorbei, die alle rund um den Traum des Menschen gebaut sind, fliegen zu können. Mit Kinderstimme singt eine Frau im weißen Kleid die Erzählung des Abends. In dessen Verlauf treten Diktatoren wie Stalin auf, und immer wieder Menschen, die aberwitzige Flugmaschinen basteln. Angefangen von Leonardo da Vinci bis zu Juri Gagarin, dem ersten Menschen im All.

Doch wozu will man in den Himmel fliegen, fragt diese Inszenierung, wenn Gott von der Vernunft daraus vertrieben wurde. Vidnyánszky erzählt auch die Verlustgeschichte der Moderne, deren gottverlassene Kehrseite den Totalitarismus ausgebrütet hat. Zu einem ähnlichen Befund sind in den frühen 1940er Jahren in ihrem berühmten Buch "Die Dialektik der Aufklärung" bereits die marxistisch geschulten Philosophen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno gekommen. Und der Befund gilt. Doch die drängende Frage lautet: Welche Schlüsse ziehen wir daraus? Auch für die Gegenwart.

fantastischemaennermitfluegeln 560 andrassmathe u"Fabulous Winged Men" von Attila Vidnyánszky © András Máthe

Von dieser Gegenwart war immer wieder in Rahmenveranstaltungen des Festivals die Rede, wo die Globalisierung als Mcdonaldisierung der Welt thematisiert wurde: "Wir erleben gerade eine historische Verschiebung, einen ungeheuren Kulturverfall, der einem Gedächtnisverlust gleichkommt", sagte beispielsweise Valerij Fokin, Direktor des traditionsreichen St. Petersburger Alexandrinsky Theaters und Gründer des Moskauer Meyerhold Centers, auf einem Podium, das "Erinnern und Vergessen" überschrieben war. Wie aber könne man ohne Gedächtnis und damit ohne Identität überhaupt überleben?

Fokins Adaption von Dostojewskis Roman "Der Spieler", "Zero Liturgia", formulierte zur Eröffnung des Festivals fast programmatisch seinen eigenen, aber gleichzeitig den Blick des Festivals auf die Gegenwart: Die Welt als ein dem Glückspiel verfallener Ort, das Leben als Spiel entwurzelter Einzelner, die dem Sog des Spiels hilf- und haltlos ausgeliefert sind. In der Mitte der Bühne von Alexander Borowsky ein klassizistischer Heilbrunnen mit strandkorbartigen Sitzmöbeln drum herum. Darin kauern die Darsteller, zunächst in kukluxklanartige Bademänteln, später in eleganten Abendgarderoben. Statt der obligatorischen Skulptur steht auf dem Brunnen ein Croupier, in Gestalt eines Countertenors, der seltsam monotone Arien, aber immer wieder auch Roulettezahlen singt. Sein Gesang setzt jedes Mal die drei wie ein Roulettekessel gegeneinander rotierenden Drehbühnen in Bewegung. Alexander Bakschi, einer der herausragenden Vertreter des zeitgenössischen russischen Musiktheaters, komponierte für diesen Abend eine fast amorph tönende Musik für Violine, Akkordeon, Tuba und Schlagzeug. Die Musiker spielen live im Dunkel der Hinterbühne, während die Spieler in ihren Sesseln permanent an die Rampe gedreht werden, ihre Szenen spielen, bevor sie wieder im Nichts verschwinden.

liturgiazero 560 ekaterinakravtsowa u"Zero Liturgia" nach Dostojewskij von Valerij Fokin © Ekaterina Kravtsowa

Theater muss den Zynismus zerstören

"Europa ist Tschechows Kirschgarten!" hatte Attila Vidnyánszky auf dem Podium "Erinnern und Vergessen" konstatiert, wo er mit Valerij Fokin, Festivalkuratorin Nina Kiraly und dem russischen Regisseur Viktor Riszakow vom Moskauer Künstlertheater (das einmal von Konstantin Stanislawski gegründet wurde) den Auftrag des Theaters angesichts des gegenwärtigen Bedeutungsverlustes der Kultur diskutierte. Wohin man schaue, würden identitätsstiftende Werte, kulturelle Besonderheiten, nationale und nicht zuletzt religiöse Traditionen nivelliert und zerstört – abgeholzt, wie die alten Bäume im Kirschgarten der Ranjewskaja, weil sie dem Profitdenken im Wege stünden: den Plänen Lopachins, der das altehrwürdiges Gut erwarb und parzellieren und verwerten will. Denn auch in Mittel- und Osteuropa ist das Theater unter ökonomischem Druck. "Censorship by Economy" brachte Fokin seine Sicht auf dem Punkt und blickte nicht ohne Wehmut zurück auf die Zeiten, als in der UdSSR der Kulturminister die Förderung der Theaterlandschaft als Auftrag angesehen habe. "Wir müssen dieses Theatersystem wieder aufbauen!"

maskarade 560 obshh u"Maskerade" von Michail Lermontow, inszeniert von Rimas Tuminas, Kleines Staatstheater
Vilnius © Martynas Sirusas

Und so trat das Festival auch mit dem Anspruch an (und auf), diesem düster gezeichneten Bild der Gegenwart einen Theaterbegriff entgegenzusetzen, der mit Entschiedenheit auch das institutionelle Theater als Hüter kultureller Identität und Bollwerk gegen die nivellierenden Kräfte des globalen Kapitalismus in Stellung bringt. Doch für den Zustand der Gegenwart und die verschwindende Bedeutung, die das Theater darin hat, sind, diesem Befund zufolge, nicht zuletzt auch zeitgenössische Theaterströmungen mitverantwortlich, die nur noch, so Attila Vidnyánszky, zynisch und zerstörerisch seien und die leere Provokation zum künstlerischen Selbstweck erhoben hätten. "Es gibt keine Prinzipen, nur noch Motive", so Valerij Fokin. "Doch das Theater muss den Zynismus zerstören, statt ihn zu schüren!"

Respiritualisierung?

Welche Wege zu diesem Zweck beschritten werden könnten, wurde dann als Suchbewegung auf einem zweitägigen Symposion in der ersten Festivalwoche deutlich, das mit "Identität, Sakralität, Theatralität" überschrieben war. Unter anderem war es Jerzy Grotowski und Eugenio Barba, zwei Heroen der Theateravantgarde des 20. Jahrhunderts, gewidmet, bestand allerdings im Wesentlichen aus fast ehrfürchtigen Berichten ehemaliger Schüler oder Kenner ihrer Arbeiten. Eine Filmaufzeichnung der programmatischen Barba-Performance von 1985 "The Gospel According to Oxyrhynchus" (hier ein Ausschnitt auf YouTube) wurde gezeigt, eine Art theatralisches Manifest für ein kultisches Theater, dass sich aus den Ursprüngen und Archetypen der europäischen Kultur speist und die Ausübung von Kunst mit einer Art messianischer Mission versieht.

erinnernundvergessen 560 zsoltszaboeoeri uDas Gespräch "Erinnern und Vergessen": Valerij Fokin, Nina Kiraly, Moderator András Kozma
und Attiila Vidnyánsky. Auf dem leeren Stuhl nahm später noch Viktor Riszakow Platz.
© Solt Szabó Eöri

Der seit Mitte der 1980er Jahre in Polen arbeitende Johann Wolfgang Niklaus stellte in einer von großer Gelehrsamkeit getragenen Präsentation die Arbeit der von ihm und seiner Frau Małgorzata Dżygadło-Niklaus geleiteten Scholą Teatru Węgajty vor. Dort beschäftigt sich das Paar mit der Erforschung der Zusammenhänge von Drama und Liturgie. Und zwar wesentlich durch die Rekonstruktion und Aufführung liturgischer Dramen aus dem Mittelalter, wie sie – lange bevor sich das säkularisierte Drama in der Renaissance in Europa durchzusetzen begann – im Rahmen von Gottesdiensten aufgeführt wurden. Etwa 3000 Texte dieser untergegangenen Musiktheatervorlagen haben sie inzwischen in Europa aufgespürt. Darunter Dramen, so Niklaus, die einst in Europa berühmt und verbreitet waren, wie später nur noch die Texte William Shakespeares.

Márta Tömöry sprach über das von ihr gegründete Internationale Laientheater-Festival für Krippenspiele. Doch es trat auch Arwad Esber auf, Direktorin des Pariser Maison des Cultures du Monde und Leiterin des Festivals de l'Imaginaire, die sich in ihrem Vortrag zur eigenen internationalen Verwurzelung in den Kulturen der Welt bekannte und sich unter anderem auf Ariane Mnouchkine als künstlerische Referenzfigur berief. 

jwniklaus 560 zsoltszaboeoeri uJohann Wolfgang Niklaus, im Hintergrund:
Nationaltheaterdramaturg Zsolt Szász
© Zsolt Szabó Eöeri
Doch das Symposion formulierte seine Denkanstöße und Suchbewegungen leider nicht zu Thesen aus. Dabei hätte es die Chance geboten, einmal die Begriffe zu klären, mit denen Attila Vidnyánsky und seine Nationaltheateridee nicht nur Teile der ungarischen Kulturszene provoziert: die Vorstellung von einem Theater, das den diagnostizierten Krankheiten einer vom globalen Kapitalismus kannibalisierten Gegenwart (und bestimmten, diesem Befund zufolge davon korrumpierten Formen des Gegenwartstheaters) mit einer Rückbesinnung auf Werte wie Religion, kulturelle und nationale Identität, aber eben auch auf die radikale Theateravantgarde des 20. Jahrhunderts zu begegnen versucht. Doch die Chance, offensiv die Begriffe und Fragen zu erläutern und zu diskutieren, die seinen bemerkenswerten Theaterbegriff grundieren, haben Vidnyánszky und das Festival nicht wirklich genutzt. Das ist zu bedauern. Denn von der Art der Beantwortung dieser Fragen wird nicht unwesentlich unsere Zukunft abhängen.

 

Madach International Theatre Meeting – Madach Nemzetközi Shínhazi Találkoztó
Budapest 26. März bis 7. April 2014.

www.nemzetishinhaz.hu

 

Offenlegung: Esther Slevogt war auf Einladung des M.I.T.E.M.-Festivals vom 26.-31. März 2014 in Budapest. Das Festival hat Reise- und Übernachtungskosten übernommen.