Reißt Eure Papierträume ein!

von Christian Rakow

Dresden, 4. Oktober 2014. Menschen in auskömmlichen Verhältnissen hocken ein wenig zu eng beieinander, philosophieren über die Zukunft, als sei sie die Vergangenheit, verlieben sich in die, die nicht zurücklieben, nehmen Abschied, wenn sie bleiben müssten, und im Wesentlichen vergeht viel Zeit. Das ist Tschechow. Mancher sagt: Das ist das Leben. Dieses Leben ist fraglos schwer, aber doch nur so schwer, wie die Schultern schmal sind, die es tragen sollen. Und Regisseur Tilmann Köhler ist sicher kein Mann für schmale Schultern.

Eigentlich hat er in seinen Inszenierungen noch immer mit den aktiven Typen sympathisiert, mit den Aufbegehrenden, nicht mit zögerlichen Schwärmern. Also nicht mit Menschen vom Schlage der Tschechow'schen drei Schwestern, die sich "nach Moskau, nach Moskau" sehnen, aber so recht nicht vom Fleck kommen.

Einmal an diesem Abend lässt Köhler seine Schauspieler an die Saaltüren hämmern, wie Vorzeichen eines kommenden Sturms, wie ein Beben der ausgeschlossenen Arbeiterschaft. Es ist, als wollte er Tschechow mit der Sozialkritik Maxim Gorkis kontern, als fühlte er ein Unbehagen mit der Enge des Bürger- und Adelsmilieus der "Drei Schwestern". Und wenn ihn dieses Unbehagen tatsächlich umgetrieben haben sollte, dann hat es seiner Inszenierung gut getan. Es hat ihr Feuer gegeben.

Starkes Schwesterntrio

Nichts Jammervolles oder Klagendes haftet an diesen drei Schwestern, die nach dem Tod ihres Offiziersvaters in einer mauen Provinzstadt hängen geblieben sind und nun regelmäßig Offiziersbesuch empfangen. Angehende Verehrer sind auch darunter. Nein, das Leben von Olga, Mascha und Irina ist nicht schwer und pathetisch, sondern ätzend. Sie verzweifeln nicht, sie spucken ihre Frustration aus – ein fabelhaftes Trio. Im Zentrum die Mascha von Yohanna Schwertfeger, die vermutlich letzte überzeugte Kettenraucherin. Mit robustem Charme und hauchzarter Berliner Zunge lässt sie Komplimente wie Brotkrumen unter den Tisch fallen, verteilt Spitzen nach Scharfzünglerart.

dreischwestern3 560 matthias horn uMascha (Yohanna Schwertfeger) und ihr Gymnasiallehrer (Holger Hübner)
© Matthias Horn

An gelenkigem Sarkasmus steht ihr Ina Piontek als ältere Schwester Olga nicht nach, den Alte-Jungfer-Touch in ihrer Lehrerinnenrolle verströmen allenfalls noch die erlesen mausgrauen Kostüme (Kostümbild: Susanne Uhl). Lea Ruckpaul durchmischt derweil die scheinbar naive Moskau-Sehnsucht der Jüngsten, Irina, mit einer tiefen Abgeklärtheit. Unter den Zudringlichkeiten der anrückenden Offiziere biegt sie sich weg wie eine Gliederpuppe.

Polyphones Panorama

Köhler rückt die Handlung nah ans Publikum, also, was er gern tut, nah an die Rampe. Seine Akteure treten aus der ersten Sitzreihe auf, leger gekleidet wie Studenten, alimentierte Denker. Sie arbeiten viele der monologisierenden Gespräche konsequent zur Publikumsansprache um und kosten es dabei aus, wenn sie die Dresdner im Saal durch den Tschechow-Schleier als maues Provinzvölkchen adressieren können. "Nach Moskau!" – der Sachse dürfte tendenziell wohl eher "Nach München!" sagen, aber man versteht's schon.

Auf einen riesigen weißen Papiervorhang zeichnen die Akteure mit schwarzem Edding eingangs die Koordinaten ihres Hoffens: Umrisse ihrer selbst, dazu Musiknoten, Sehnsuchtsbilder. Am Schluss wird dieser Vorhang zerrissen sein, zerknüllt zum großen Papierhaufen. Ein Müllberg der unerfüllten Wünsche.

dreischwestern2 560 matthias horn uAnnähern, abstoßen: Irina (Lea Ruckpaul) und Tusenbach (Jonas Friedrich Leonhardi)
© Matthias Horn

Als lausche er mal hierhin, mal dorthin im großen Bürgerpanorama, so zügig lässt Köhler Auftritte und Dialoge wechseln, unterlegt sie mit minimalistischer Xylophon- und Percussion-Musik von Florian Lauer und Georg-Wieland Wagner. Für einen Hauch tragikomischer Melancholie sorgt der bestechende Albrecht Goette als Arzt Chebutykin, wenn er mitunter wie ein Shakespeare'scher Narr mit leicht sächsischem Timbre einstreut: "Die Einsamkeit, da kannst du philosophieren, so viel du willst, die Einsamkeit ist schrecklich." Um ihn herum aber haben sich alle, so scheint's, im Schrecken der Einsamkeit schon leidlich eingerichtet. Zumindest sind sie gut gerüstet gegen jegliche Aufstockung des Ich zum Wir.

Stagnierendes Intellektuellen-Milieu

Und hier entsteht denn auch ein kleines, in der zweiten Hälfte etwas größer werdendes Problem dieser Tschechow-Modernisierung. Wenn die Zukunftserwartungen der Schwestern immer schon mit Fragezeichen oder mit ironischen Anführungszeichen versehen sind, dann schrumpft auch der Spielraum für Empfindungen gegen die Offiziere, die Tschechow aufbietet, um diese Zukunft mit Liebesglühen auszumalen. Letztlich braucht Werschinin (Matthias Reichwald) eine gute Portion kraftvolle Zudringlichkeit, um überhaupt durch die Coolness-Rüstung von Mascha zu dringen, prallt der zaghafte Philosoph Tusenbach (Jonas Friedrich Leonhardi) allzu leicht an der souveränen Entsagungsbereitschaft von Irina ab.

Das Gefälle sorgt für manche Überzeichnung, für Durchschaubarkeit und Längen in der – bei Tschechow ja stets nur hingehauchten – Konfliktentfaltung. Grobe Striche à la Thalheimer wären bei dieser Deutung womöglich das probatere Mittel gewesen. Sei's drum. Köhler hat in einem monochromen Setting die kraftvolle (Selbst-)Kritik eines stagnierenden Intellektuellen-Milieus inszeniert, eines Milieus, das poetisch tönt, aber wirkungslos bleibt, das Leben sucht, nur größer und schwerer, als es schultern kann. "Meine Seele ist wie ein wertvolles Klavier, das man abgeschlossen hat, und der Schlüssel ist verlorengegangen", sagt Irina einmal. Und es klingt, als meinte sie: Such nicht den Schlüssel, hol den Hammer.

Drei Schwestern
von Anton Tschechow
Deutsch von Angela Schanelec
Regie: Tilmann Köhler, Bühne: Karoly Risz, Kostüm: Susanne Uhl, Musik: Jörg-Martin Wagner, Licht: Michael Gööck, Dramaturgie: Janine Ortiz.
Mit: Thomas Braungardt, Antje Trautmann, Ina Piontek, Yohanna Schwertfeger, Lea Ruckpaul, Holger Hübner, Matthias Reichwald, Jonas Friedrich Leonhardi, Kilian Land, Albrecht Goette, Lukas Mundas, Jochen Kretschmer, Brigitte Wähner, Musiker: Florian Lauer, Georg Wieland Wagner.
Dauer: 3 Stunden 15 Minuten, eine Pause

www.staatsschauspiel-dresden.de

 


Kritikenrundschau

Die "eine oder andere Kürzung" wäre "durchaus sinnvoll gewesen" und auch die "Musik als Emotionsverstärker fürs Publikum" hätte es für Torsten Klaus von den Dresdner Neuesten Nachrichten (6.10.2014) nicht gebraucht. Eindrucksvoll aber findet der Kritiker, wie "vehement und doch verletzlich" das Schauspielerinnen-Trio in der Titelpartie "die Bühne dominiert". Von den Männern biete einzig Albrecht Goette durch komödiantische Einsprengsel "Paroli". Im Ganzen zeige die Inszenierung das Bild "eines tatsächlich immer mal ins Heitere kippenden, aber nicht aufzuhaltenden Niedergangs."

Ganz sei Tilmann Köhler der Gefahr der Langeweile nicht entgangen, aber "er hat einen intensiven Zugang zum Stück gefunden, nähert sich dem Ideal beachtlich an", schreibt Rainer Kasselt in der Sächsischen Zeitung (6.10.2014). Der Regisseur nehme die Figuren "weder zu schwer noch zu leicht"; vielleicht sei "manchmal eine Träne, ein Aufschrei, ein Zornausbruch zu viel im Spiel". Im Zentrum des Abends sieht der Kritiker die Mascha von Yohanna Schwertfeger eine "große Liebende und groß Verzweifelnde". Köhler finde viele "einprägsame Bilder" und führe die Figuren "an jenen schmerzlichen Punkt des Lebens, den Tschechow herbeiwünschte".

Bei diesem Tschechow "packt die sonst so sichere Hand des Regisseurs" Köhler "nicht richtig zu", befindet Guido Glaner in der Dresdner Morgenpost (6.10.2014). Manche Szene gerate "recht zähflüssig", verschiedene Charaktere lieben "recht blass". Ausnahmen: die Mascha von Yohanna Schwerfeger (auch wenn "selbst ihr Leiden" an den Verhältnissen mitunter "zu demonstrativ" ausfalle) und der Militärarzt Chebutykin von Albrecht Goette.

Köhler vermeide den "schwelgerisch-wemütigen Ton" überkommener Tschechow-Aufführungstraditionen, meint Volker Trauth im Gespräch für "Fazit" auf Deutschlandradio Kultur (4.10.2014, hier in der Audio-Datei). Stattdessen gibt es bei ihm "den direkten, den brutalen Ton", einen sehr "heutigen" Ton. Köhler betone "das ständige Aneinander-Vorbeireden". Die Inszenierung sei "ein Talentbeweis" des jungen Regisseurs.

 

Kommentare  
Drei Schwestern, Dresden: Gute Beobachtung
Lieber, sehr geehrter Christian Rakow – ich bin immer wieder erstaunt über dieses nk-Engagement für das Sie und Ihre Kollegen landauf landab unterwegs sind und dann so schnell – und in sehr vielen Fällen m.E. wirklich gute – über die Nacht Kritiken schreiben, die sich dann die weniger mobilen Theaterleute und Theaterinteressierte dann prompt zu Gemüte führen und damit auch irgendwie arbeiten können.
Interessant an dieser 3SCHW-Betrachtung ist mir besonders Ihre Aussage, dass nach Ihrem Empfinden des Abends Köhler Tschechow sozialkritisch mit Gorki kontern wolle und sie den Verdacht gehabt hätten, dass Köhlers Motiv dafür ein Unbehagen gewesen sein könnte an dem Bürger- und Adelsmilieu. Und dass Sie denken, dass, wäre dem so gewesen, dieses Regie-Unbehagen am Tschechow-Text dieser Inszenierung gut getan habe, weil genau dies „ihr Feuer gegeben“ habe.
Das finde ich eine sehr gute Beobachtung und eine sehr gute Beschreibung des Beobachteten. Warum? – Nun, ich denke wir leben eben jetzt und nicht zu Zeiten Tschechows. Dass Tschechow so viel gespielt wird liegt m.E. an den literarisch zeitlos hochwertigen Texten, die tiefe menschliche Wahrheiten auf einem kustsprachlichen Niveau verklausulieren. Und zum anderen daran, dass diese Warteschleifen-Personage, die seine Stücke durchzieht, diese ewig an ihrem Unvollendetsein scheinverzweifelnden Figuren, die es sich in ihrem Unbehagen an der eigenen Starre eigentlich zwar nölend aber bequem bürgerlich eingerichtet haben, dass diese Figuren dadurch beinahe allesamt „schwebende“ Charaktere sind, so wie es Shakespear’sche Charaktere generell sind. Und schwebende Charaktere sind eine wundervolle schauspielerische Herausforderung und damit ist Tschechow IMMER ein herausforderndes Regie-Lehrstück in Schauspielführung.
Nun muss man sich als Intendanz oder als Kritiker entscheiden, ob man zeitgenössisches Theater oder zeitgenössische Dramatik-Umsetzungen anschauen, genießen und beurteilen will oder Regie-Ausbildungs-Übungen.
Und als Dramatiker muss man sich entscheiden, ob man nun nur Sozialkritik oder nur Sprechblas oder Figurenperformance-Stützkorsett oder Sprachkunstwerke in Form von Dramatik verfertigen möchte, die das Theater der Zeit, der wohlgemerkt eigenen Zeit, mit ihren sozialen und gesellschaftspolitischen Bedingtheiten, herstellen möchte. Das ist ja nicht leicht. So eine Entscheidung. Und dann ist ja auch noch die Frage, ob man das das auch kann, wenn man sich für letzteres entschieden hat. Und die nächste Frage ist dann: weiß das jemand professionell einzuschätzen solange man selbst, als DramatikerIn, lebt? Es ist dann gut, sich innerlich schon einmal auf ein „nein“ als Antwort auf diese Frage einzurichten und ansonsten etwas praktisch dafür zu tun, dass man hier eventuell Zeit seines Lebens doch noch ein „ja“ sagen könnte. Das heißt, man muss irgendwie die Lebenskunst zuwege bringen, wenn man also in einer solchen seltsamen Lage sich befindet, dass man in einen Nihilismus einen Prinzipfunken Hoffnung eingewebt hat und diesen hütet wie seinen Augapfel…
Ich bin wohl vom Thema abgekommen – Sie werden mir verzeihen, verehrter Herr Rakow, es ist ja auch Sonntag-
Drei Schwester, Dresden: Was hat nicht gestimmt?
Oh, eine interessante Kritik.
ich hätte gedacht, dass doch etwas mehr kritische Worte fallen würde. Denn erstmals, nach mehreren Köhler Inszenierungen, die mich doch so oft vom sitz abgeholt haben und mich mit einem guten oder energetisierten Gefühl den Theatersaal verlassen ließen, war ich erstmals eher vollgestopft voller fragen. die Frage nach dem: was hat da nicht gestimmt? Warum diesmal nicht? Ich glaube nicht, dass es an dem Tschechow selbst lag, denn wie ich dem stoff während der inszenierung folgte, hatte ich stets das gefühl: schade, da ist so etwas drin und ich erlebes aber gerade nicht.

Ich hatte manchmal das gefühl, dass zu gunsten bestimmter szenenbilder gedanken und haltungen zu schnell technisch vearbeiter und somit verworfen wurden, so dass man kaum die chance hatte, sich dem nochmal zu ergeben, nochmal nachzufühlen, sich dem unvermögen irinas zu lieben nahe zu kommen, das tägliche leid der arbeit olgas für voll zu nehmen und die vorherrschende melancholie maschas irgendwie wirklich entgegen zu kommen. Ich dachte irgendwie oft: ja, dass ist traurig, aber das ist mir grad zu fern. da kam mir maschas zusammenbruch bei wershinins fortgang zu abrupt und es wurde zu technisch wieder los gelassen. Wie gesagt, für mich eine überraschung, da ich köhler stehts mit leichter spielfreude und immer so natürlich hervorgezogenen haltungen erlebt habe, die immer mit punktladungen im text überzeugt haben.
Großes manko diesmal auch: das kostüm. nichts gegen alltäglichkeit, aber hier hats irgendwie sehr geklappert. warum war eine mascha so exakt gezeichnet und auch natascha in ihrer dörflichen übertriebenheit so klar und die anderen so stark modisch reduziert, so dass konkrete militärzitate wie stiefel bei wershinin am ende irgendwie so unvermittelt auftraten.

aber um nicht nur zu meckern, es streuten sich auch stets schöne momente ein. mal ganz abgesehen von den verträumten musiklaischen klängen, genoss ich zumeist die auftritte antje trautmanns, für mich die konstanteste im stück, hatten auch alle 3 schwestern, für mich vor allem ina piontek, starke momente, auch die anhaltende anteilnahme der schauspieler in der ersten reihe war sehr schön und die bühnenbilder, angefangen mit dem zaubermoment am anfang mit der wabernden papierwand, der schönen raumöffnungen, dem licht und die dekonstruktion im 2. teil.

Irgendwie schwer zu resumieren, es empfiehlt sich für die bilder es zu besuchen, aber diesmal blieb die liebe aus.
Kommentar schreiben