Es kann ja nicht immer so bleiben

4. November 2014. Heute vor 25 Jahren hat das Theater gezeigt, was es vermag. Es waren Theaterleute, die die große Demonstration am 4. November 1989 am Alexanderplatz vorbereiteten und die Verantwortung für ihren Ablauf übernahmen. Und nicht zuletzt sie waren es, die schließlich bei der großen Kundgebung vor – noch immer unglaublichen – 500.000 Menschen sprachen: die Schauspieler Annekathrin Bürger, Steffie Spira, Ulrich Mühe, Thomas Neumann, Johanna und Ekkehard Schall, der Bühnenbildner Henning Schaller, die Dramatiker Heiner Müller und Christoph Hein. Keiner kann wissen, wie die Geschichte verlaufen wäre, hätte es diese Demonstration nicht gegeben. Wäre fünf Tage später die Mauer gefallen?

muehe schall alexanderplatz bundesarchiv-wikipedia uUlrich Mühe, Heiner Müllers Hamlet, und Johanna Schall, damals mit ihm im Ensemble des
Deutschen Theaters, sprechen am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz.
Foto: Hubert Link / Bundesarchiv

Heute vor 25 Jahren hat das Theater gezeigt, wie ohnmächtig es sein kann. Heiner Müller nämlich saß während dieser turbulenten Tage mit einem hochkarätigen Schauspielerteam im Deutschen Theater und probte "Hamlet". Doch angesichts dessen, was da um das Theater herum in der Wirklichkeit vorging, erwies sich die Kunst als ein müder Abklatsch. Probennotate berichten von einer Richtungslosigkeit, die zwar auch der stinknormale Theateralltag sein könnte, aber wohl doch eher eine Reaktion auf das "Draußen" darstellte, auf die Zeit, die aus den Fugen war. Das Theater konnte sich auf dem Alexanderplatz in seiner ganzen Stärke zeigen – auf seine eigenen Mittel zurückgeworfen indes verharrte es in Schockstarre vor den Geschehnissen.

Wie bald uns zerstreuet das Schicksal

Doch halt! Theater spielte man ja nicht nur im Deutschen Theater, nicht nur in Berlin. Heute vor 25 Jahren ging auch anderswo der Lappen hoch, etwa in Schwerin. Und wie! Am 4. November 1989 kam hier ein Liederabend in der Regie des Schauspieldirektors Christoph Schroth zur Premiere – ein Abend, den die örtlichen Parteifunktionäre lange zu verhindern gesucht hatten. Es fand damals nicht viel anderes statt, als dass junge Schauspieler Volkslieder sangen. Doch was für eine Wirkung muss das gehabt haben. Der bekannte Kritiker Manfred Zelt schrieb damals: "25 Minuten Jubel, stehende Ovationen, Blumenwürfe, Tränen auf der Bühne und bei Zuschauern. Als Kunst allein ist nicht beschreibbar, was bei der Premiere geschah. Da entzündete sich Aufbruchstimmung an dem Staunen über Hautnähe, die ferne Strophen plötzlich überzieht. Ein Augenblick, da Vergessenes elementar Gefühl und Verstand neu erobert."

Die Autorin Sylvia Krupicka war damals Regieassistentin in Schwerin, in ihrem Blog 89 hat sie ihre damaligen Aufzeichnungen veröffentlicht. Im Eintrag vom 4. November steht: "Unser Regisseur kommt kurz vor Beginn angehetzt, er hat die Demonstration in Berlin auf dem Alexanderplatz miterlebt, ist danach ist Auto gesprungen und hergefahren. Er ist voller Energie. (...) Als der letzte Ton im Saal (...) verklungen ist, kesselt die Emotion raus, der Applaus brandet hoch, wie ein gewaltiger Sturm. Die Schauspieler sind verwirrt, das hatten sie nicht erwartet, sie kommen immer und immer wieder auf die Bühne, die Zuschauer stehen auf, bringen ihnen ihre Anerkennung, ihr Einverständnis, ihren Dank zum Ausdruck. Alle Tränen, alle Trauer, alles Mitleiden mit dieser Inszenierung, die ja nur ein Ausdruck für unser Heimatgefühl, für unsere Trauer, unsere Tränen, unseren Galgenhumor, unsere Verzweiflung waren, alles das hat sich gelohnt allein in diesem Augenblick."

christoph-schroth www-docs-b-tu-de xChristoph Schroth war auf dem Alexanderplatz dabei – und feierte am Abend mit einem
Liederabend in Schwerin Premiere, auf dem gesungen wurde: "Wer weiß denn, wie bald
uns zerstreuet / das Schicksal nach Ost und nach West." Foto: www-docs.b-tu.de

Die Botschaften, die in diesen alten Volksliedern aufgehoben sind, trafen offenbar von fernher mit enormer emotionaler Wucht direkt in die politisch aufgeladene Stimmung der Gegenwart. Da erklangen etwa Strophen wie diese aus dem Lied "Es kann ja nicht immer so bleiben" von August von Kotzebue: "Doch weil es nicht immer kann bleiben, / so haltet die Freude recht fest! / Wer weiß denn, wie bald uns zerstreuet / das Schicksal nach Ost und nach West." Nein, gewusst hat das sicher keiner damals! Nur fünf Tage später sollte es soweit sein ...

Vor 25 Jahren hat das Theater in Schwerin gezeigt, was es vermag. Noch einmal in den Worten von Sylvia Krupicka: "Kunst hat das geschafft, wofür wir sie machen: berührt, Kraft gegeben, aufgeweckt. Sie ist im besten Sinne politisch geworden."

Als kleine Hommage an dieses große kleine Theaterwunder bringen wir hier – zumindest solange keine urheberrechtlichen Einwände erhoben werden – das letzte Lied des damaligen Abends, im Mitschnitt eines späteren Gastspiels in Berlin: "Es kann ja nicht immer so bleiben".

Es kann ja nicht immer so bleiben.mp3

(wb)

Kommentare  
Blog Mauerfall: an runden Tischen
Ja, konnte man wissen, dass die Mauer fallen wird. Man konnte nur noch nicht wissen, ob mit oder ohne Waffen. Für OHNE war die Demo und waren die Auftritte der Theaterleute wichtig, nicht für oder gegen die Tatsache des Mauerfalls überhaupt. Das ist ja ein Unterschied. Ich war übrigens nicht da. Bei keiner Demo. Ich hab versucht, Leuten an runden Tischen Mut für ein Weitermachen und meine Sympathie bekundet. In Wort und Schrift, wie mir das eben entsprach. Ich hab gelebt und geliebt und mir nicht eingeredet, dass die DDR außerhalb von den ökonomischen Gesetzen des Weltkapitals existieren könne, wenn die Kunst nur sozialistisch oder sonstwie -istisch genug ist und versucht, statt große Kunst gegen einen im Weltgefüge kleinen Staat machen zu wollen es bei Zeugenschaft und künstlerischer Einsamkeit zu belassen.
Blog Mauerfall: Hinweis
Zur Großdemo vom 4.11.1989 gab es am Sonntag auch eine Matinee "Das Rad der Geschichte dreht sich" am Deutschen Theater, u.a. mit Jutta Wachowiak und Gregor Gysi. http://e-politik.de/kulturblog/archives/1123-das-rad-der-geschichte-dreht-sich-dt-matinee-zur-grossdemonstration-vom-4-november-198.html
Blog Mauerfall: ein Ende erwartete niemand
Das ist hanebüchener Unsinn. Niemand konnte am 4.11. davon ausgehen, dass die "Mauer fallen" würde. Dass sie durchlässiger würde ja, es war ja schon vom Reisegesetz die Rede, ein Ende der Mauer erwartete niemand. Ein Ende der DDR übr. auch nicht.
Blog Mauerfall: kein Transparent verlangte das
So entsehen Geschichtsklitterungen. Der "Mauerfall" war am 04.11.1989 kein Thema, niemand konnte es wissen und keine der gehaltenen Reden, kein Transparent, und davon gab es viele, verlangten das.
Blog Mauerfall: Punkt?
Konnte man wissen. Punkt.
Blog Mauerfall: Christoph Schroth
So hat der Schroth immer inszeniert.mit einer unheimlich konkreten,präzise analysierenden Dramaturgie.mit einem Handwerk das ihm wohl kaum einer nachmacht.mit einer Nase fürs wesentliche das er selbst in kleinsten Vorgängen erkennbar gemacht hat.und mutig ist das wohl auch gewesen.und das war er auch nicht nur dies eine mal.
Blog Mauerfall: was wir heute zu feiern haben
Hier scheinen ja einige ganz genau zu wissen, wie die Berliner Mauer gefallen ist und wer sie umgekippt hat. Ich kann mich zumindest daran erinnern, dass es lange nicht, zumindest bei einem großen Teil der ostdeutschen Bürgerbewegung, um eine Maueröffnung oder gar den Anschluss an die BRD ging. Das Ganze hat sich auch nicht einfach so irgendwie verselbständigt. Die Unfähigkeit der verkalkten DDR-Führung sich zu bewegen und die einseitige Kündigung des langjährigen sowjetischen Vordenkers haben die Betonköpfe zum Rieseln gebracht. Dass sich da kein Hardliner mehr gefunden hat, die „Konterrevolution“ ohne Befehl von oben zu beenden, ist eigentlich dass - natürlich neben dem Mut zur friedlichen Meinungsäußerung als es noch wehtat - warum wir heute überhaupt etwas zu feiern haben. Und das die Theater daran mitgewirkt haben, ist schön und beweist die gemeinschaftsbildende Kraft von Kunst, die man heute meist so schmerzlich vermisst.
Blog Mauerfall: Konstanz-Hinweis
Wer im Theater nicht nur etwas zum 9. November, sondern auch zum 4. November erfahren möchte, ist uns herzlich willkommen in Konstanz: http://www.theaterkonstanz.de/tkn/veranstaltung/06535/index.html
Blog Mauerfall: Nicht eingeladen
Dass für Ostdeutschland seit 1990 nicht mehr die Ostdeutschen selbst sprechen, sieht man auch daran, dass die paar lebenden Theaterautoren aus dem Osten, viele sind es ohnehin nicht, noch nichteinmal zu den Feiern an die Häuser ihrer Kindheit eingeladen sind. (...)
Blog Mauerfall: kein Bogen ins Heute
Man sieht es gut an der unter @8 beworbenen Veranstaltung am Theater Konstanz: Da wird der Osten dargestellt und über den Osten gesprochen. Aber es gelingt nicht, den Bogen in die heutige Zeit zu spannen. Der Rückblick ist historisch, möglicherweise nostalgisch. Wie eine Veranstaltung der Bundeszentrale für politische Bildung. Der didaktische Ansatz ist offensichtlich. Gerade das macht diese Veranstaltungen so vorhersehbar und unattraktiv.
Blog Mauerfall: immer dieselben Bilder
Unter 7 weist Stefan darauf hin, dass es bei der Großdemo nicht darum ging, einen Anschluss der DDR an die BRD herbeizuführen, wie es letzten Endes der Fall war und im Bundesgesetz auch so bezeichnet wird. Es haben am 4. November nicht nur Schauspieler gesprochen und Gregor Gysi, sondern eben auch Marcus Wolf. Was zumindest zeigt, dass sich die Geschichte nicht einseitig darstellen lässt, will man sie tatsächlich erklären. Dafür braucht es unbedingt auch die Stimmen aus den neuen Bundesländern. Eva Maria Schneider weist unter 9 darauf hin, dass diese kaum in den Spielplänen auftauchen. Es fällt nicht leicht, Vertreter einer aus Ostdeutschland stammenden Autorengeneration zu benennen, die nach 1990 durch ihr Schreiben in Erscheinung getreten sind. Es ist vielleicht originell und aus historischer Sicht wertvoll, wenn DEFA-Filme für die Bühne adaptiert werden. Eine Vielzahl an Häusern haben das diesjährige Jubiläum als feste Größe in ihre Spielpläne aufgenommen. Über das Erzählen von Anekdoten hinaus erfährt der Besucher am Theater derzeit allerdings herzlich wenig über die Zusammenhänge. Mantraartig werden die immer gleichen Bilder vorgezeigt. Was leider sehr langweilig ist und zu gar nichts führt.
Blog Mauerfall: junge Autoren
@9: es gibt durchaus einige junge autoren, die sich in jüngerer zeit thematisch mit dem osten nach 89 befasst haben. anne rabe wäre zu nennen, mit ihrem stück über lichtenhagen. oliver kluck hat sich in hamburg an der auflösung des anderen deutschen staates abgearbeitet. nicht zu vergessen dirk laucke, u.a. mit seiner arbeit in halle. Sie haben allerdings recht mit ihrem hinweis, dass man von diesen autoren derzeitig nicht allzuviel hört und liest.
Blog Mauerfall: zu wenig am Schauspiel Leipzig
Ich empfinde als beschämend, wie wenig sich das Schauspiel Leipzig unter der Intendanz Lübbe mit dem Thema der Friedlichen Revolution auseinandersetzt. Der Spielplan zum 25. Jahrestag der denkwürdigen Ereignisse enthält nicht einen relevanten Posten, der darauf Bezug nimmt. Und das an einem Ort, an dem Bürger 1989 großen Mut bewiesen haben.
Blog Mauerfall: 89 im Leipziger Spielplan
@Leipziger: Auf der einen Seite ist das schlichtweg nicht wahr, denn dass Hamlet seiner Inszenierung und die Wolokolamsker Chaussee ihrer Textnatur gemäß diese Thematik mehr als deutlich anstößt, sollte schwer zu übersehen sein - auf der anderen kann man sich freuen, dass die Idioten vom Stadtmarketing nicht auch hier einen Selbstbeweihräucherungsauftrag gegeben haben, welcher sich wunderbar ins Lichtfest-Konzept des Revolutionskitschs und der Geschichtsklitterung einbettet. Und als Letztes sei auf "Zeiten des Aufruhrs" verwiesen, wo der Herr Intendant ja durchaus noch tausend Mauerfallbezüge hineinwinden kann und, da bin ich mir beinahe sicher, auch wird.
Blog Mauerfall 89: direkter Bezug
Ist klar: Die Stoffe von Shakespeare und Bek haben natürlich einen direkten Bezug zur Herbstrevolte.
Blog Mauerfall 89: fossile Stoffe & Interpretation
@ I. Lück: Es ist die Aufgabe des Theaters, diese Bezüge herzustellen. Genau deshalb bringt man immer wieder fossile Stoffe auf die Bühne - man ist der Ansicht, dass sie in ihrer jeweiligen Interpretation für verschiedenste Kontexte aussagekräftig sind. Aber um das zu begreifen und nachvollziehen, vielleicht sogar erwarten, jedoch zumindest nicht als unmöglich abtun zu können, muss man die Stücke natürlich gesehen oder ganz grundsätzlich verstanden haben, warum es soetwas wie moderne Inszenierungen überhaupt gibt. Und damit tut sich offenbar der eine oder andere Nachtkritikkommentator äußerst schwer.
Blog Mauerfall 89: anderswo früher
Berlin. Görlitz. Karl-Marx-Stadt: Auch der Montag wurde anderswo früher entdeckt. Da kann man heute unmöglich erwarten, dass ein Theater Leipzig schneller ist als sein Publikum. Insofern ist die Wahl der Stoffe folgerichtig.
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