"Ja, nur wer liebt, darf inszenieren!"

30. Dezember 2014. Frank Castorfs "mehr oder weniger verstreute Gedanken" zum Thema "Kapitalismus heute: falscher Glanz, reales Elend", die er in seiner Bayreuther 'Ring'-Deutung auf die Bühne gebracht habe, seien "zum Teil pfiffig, teils geschmacklos", schreibt der Musikwissenschafler und Wagner-Experte Martin Geck in der FAZ (Print: 29.12.2014 / Online 20.12.2014). Castorfs geringschätziger Umgang mit Wagners Figuren ist damit aus seiner Sicht jedoch noch lange nicht legitimiert.

Man könnte zum Beispiel mit Wagner zeigen, "dass diese ganze 'Ring'-Glückssuche vorhersehbar schiefgehen muss, auch ohne deshalb die Siegfried-Figur zu verleumden. Siegfried ist zum Teil ein Halbstarker, der sinnlos mit dem Schwert herumfuchtelt oder, von mir aus, mit der Kalaschnikow herumballert; aber er ist auch ein Streiter für den vollen, freien Menschen, das müsste sich doch langsam mal herumgesprochen haben".

Nicht, dass ein Regisseur den Schöpfer einer Oper mehr lieben müsse als sich selbst. Denn: "auch Selbstverliebte können hervorragende Wagner-Inszenierungen abliefern. Wichtig ist, dass der Selbstverliebte einen Draht zu seinem Gegenstand hat." Und den hat Castorf aus Gecks Sicht wohl nicht. Alle Kunstwerke der Vergangenheit seien "tote Gegenstände, sofern sie nicht durch den Dialog mit dem Betrachter, Leser, Hörer zu neuem Leben erweckt werden. Um Tote lebendig zu machen, bedarf es starker Energien." Und eine solche Energie ist für Geck z.B. die Liebe. "Ja, nur wer liebt, darf inszenieren. Und nur wer liebend inszeniert, der ist dann auch in der Lage, die blinden Flecken im Werk erschrocken anzustarren und dessen Monstrositäten auszuleuchten."

Wieso konnte, fragt Geck, die Wagner-Bühne heutzutage zu einem Abenteuerspielplatz verkommen? "Lässt sich dieser offensichtlich an Tempo gewinnende Wildwuchs steuern? Wäre das überhaupt im Sinne der Opernhäuser, die konkurrieren müssen und einem vermeintlich sensationslüsternen Publikum gefällig sein wollen? Würde es den Feuilletonchefs gefallen, wenn sie keine fetzigen Hakenkreuz-Nachrichten mehr aus Bayreuth bringen könnten, sondern nur mehr Nachdenklich-Musikalisches?"

"Im Falle des sogenannten Regietheaters verhalten sich die Akteure wie Süchtige, die nicht mehr wahrhaben können, dass jede Überbietungsstrategie irgendwann an ihr Ende gelangen wird. Dabei ist das Unüberbietbare im Wagner-Theater doch recht eigentlich Wagners Musik."

Geck schlägt vor, ein Wagner-Sabbatical einzulegen. "In diesem Wagner-Sabbatjahr könnten dann einstweilen unsere angesagten Wagner-Regisseure an den Musikhochschulen und Universitäten ein paar Scheine machen und sich bestätigen lassen, dass sie mit einigen Feinheiten von Wagners Musik vertrauter geworden sind." Hier geht es zum ganzen Text.

(sle)

 

Kommentare  
Presseschau Wagnerinszenierungen: o sancta simplicitas
Geck: "Würde es den Feuilletonchefs gefallen, wenn sie keine fetzigen Hakenkreuz-Nachrichten mehr aus Bayreuth bringen könnten, sondern nur mehr Nachdenklich-Musikalisches?"

O sancta simplicitas!

Ich habe gerade eine "Meistersinger"-Aufführung in einem staatlich subventionierten bundesrepublikanischen Opernhaus gehört, da waren Ouvertüre, Choral, "Wach auf"-Chor und Finale nichts weiter als tönender Faschismus.

Und je präpotenter da von 100 Mann unisono frontal ins Publikum gebrüllt wurde, umso begeisterter geriet das Publikum aus dem Häuschen, sprang auf und konnte sich im Vollgefühl eigener Größe vor Jubel nicht mehr halten. Und zwar zu den authentischen Wagner-Worten, hochgepeitscht mit der "nachdenklich"-authentischen Wagner-Musik: "Zerging in Dunst das heilge röm'sche Reich, / Uns bliebe gleich die heil'ge deutsche Kunst. - Heil Sachs! Heil Nürnberg's teurem Sachs! Heil! Heil! Heil!"

Dies ist kein Einzelfall. Das ist eine ganze Interpretationsschule unter einer besonderen Sorte von Dirigenten. Es gibt auch andere: André Cluytens oder neuerdings Patrick Lange, der die die Meistersinger an der Komischen Oper Berlin wunderbar leicht und als fragilen Traum einer gefährdeten Gemeinschaft von Individuen statt als Gleichschaltungsoper dirigiert hat.

Ich will niemandem seinen Spaß an Wagner rauben, aber 2 Schlüsse (nicht nur aus diesem Fall) ziehen:
1. Die Hakenkreuz-Schmierereien der Regisseure sind geradezu unschuldig gegen die Hakenkreuz-Dirigierereien gewisser Kapellmeister.
2. Es gibt Komponisten, die solchem Missbrauch Widerstand leisten. Aus Verdi oder Mozart z.B. könnten Sie nie und nimmer Musikfaschisten machen. Aus Wagner schon. Und ich rede gar nicht von den Texten, sondern von den Noten. Was folgt daraus?

Ja, ein Wagner-Sabbatical wäre jetzt wirklich mal angebracht, um die gigantischen Neuinszenierungs-Etats wieder Werken zuzuwenden, deren humanisierende Wirkung nicht erst durch abenteuerliche Interpretations-Schwerstanstrengungen gegen den simplen Augenschein herbeidiskutiert werden muss.

Ich finde es schon absurd - es ist ein Zeichen, dass die Mehrheit der Gesellschaft in künstlerischen Dingen offenbar immer noch analphabetisch ist -, dass man die Verbreitung des Werkes eines antidemokratisch wirkenden Komponisten (siehe Beispiel) mit Staatsgeldern fördert. Ich fordere kein Wagner-Verbot. Wagner ist und bleibt einer der bedeutendsten Komponisten des 19. Jahrhunderts. Aber diese Wagner-Monokultur, die alles andere wegbeißt, finde ich bedenklich. Liebe Intendanten, liebe Mitbürger, folgen sie ihm nicht. Bitte suchen sie sich andere Vorbilder.

Geck: "In diesem Wagner-Sabbatjahr könnten dann einstweilen unsere angesagten Wagner-Dirigenten an den Musikhochschulen und Universitäten ein paar Scheine machen und sich bestätigen lassen, dass sie mit einigen Feinheiten von Wagners Musik vertrauter geworden sind." Ja, bitte liebe Dirigenten: Wenn schon Wagner, dann bitte die Feinheiten zur Darstellung bringen und nicht die Allmachtsphantasien des 156-cm-Mannes.
Presseschau Wagnerinszenierungen: das Ungeheuerlichste
Eines Vergaß ich noch. Das Ungeheuerlichste. Am Ende fordert Geck die Regisseure auf, in den Beichtstuhl zu treten und Gott Wagner um Absolution zu bitten.
Ich denke, Martin Geck wusste nicht, was er da tat.
Oder doch? "Willst du Tote lebendig machen, musst du kräftig dran rütteln" lautet ja schon die aus seiner Philippika extrapolierte Überschrift des Artikels. Das war ein Privileg Jesu. Wagner hat offenbar nicht nur dehumanisierende Wirkung, sondern raubt seinen Anhängern auch noch den Verstand...
Presseschau Wagnerinszenierungen: nur mit Stöpsel
2. P.S.: Ich vergaß außerdem die gesundheitsschädlichen Wirkungen Wagnerischer Musik in faschistoider Aufführungspraxis:
An den beiden Orchestergraben-Zugängen besagten Hauses, an dem ich besagte "Meistersinger"-Interpretation hörte, finden sich Ohrstöpsel-Spender, damit die Musiker nicht ertauben. Das ist ein schönes Symbol für eine Musik, die man nur mit Stöpseln im Ohr übersteht. Da Wagner ja Vorläufer von allem möglichen sein soll, ist er es offenbar der Heavy Metal-Musik.
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