Gegen den Ausverkauf der Ideale

von Ute Nyssen

Paris, Juni 2009. Vor einiger Zeit sorgte in Frankreich ein Artikel in der europäischen Ausgabe des Magazins "Time" für Furore, mit der tendenziösen Frage, was von der französischen Kultur übrig geblieben sei ("Que reste-t-il de la Culture Française?") und der ebenso tendenziösen Antwort: praktisch nichts. Nach Meinung des amerikanischen Journalisten Donald Morrison lässt sich nur totales Abdriften des französischen Geistes ins Mittelmaß diagnostizieren; egal, ob Film, Literatur, Schulsystem, Philosophie, bildende Kunst, Photographie, alles im Eimer. 2008 ist der Artikel leicht ausgewalzt auch als Buch erschienen.

Morrison lebt seit fünf Jahren in Paris, und mit der schlechtesten Note straft er die Autoren des subventionierten Theaters ab. Deren dramatische Werke seien nichts als "intellektuell", bar jeder "Verführungskraft", belastet mit dem "Hang zum Klaustrophobischen". Sein genereller Qualitätsmaßstab ist der Erfolg im Ausland. Was aber wäre dann los zum Beispiel mit Koltès – oder auch Thomas Bernhard –, in Amerika kein bisschen gespielt, nie mit einem Pulitzer-Preis bedacht, keine Übersee-Exportartikel: nichts wert?

Subventionierung des Kleinbürgergeistes

Der 46-Jährige Christophe Pellet stünde ganz sicher auf dieser schwarzen Liste, obwohl die Abqualifizierung des Theaters von ihm selbst Unterstützung erfährt, wenn auch unter ganz anderen Aspekten. Was Pellet sublim und in bester französischer Tradition überschäumend sarkastisch darstellt, ist das vergiftete Abhängigkeitsverhältnis des Dramatikers vom Theater, und daher soll hier als erstes von seinem Einpersonenstück "Der Vortrag" die Rede sein, liefert es doch die anschauliche Begründung für das, was gern als "Dramatikermisere" bezeichnet wird: Es reitet gegen die karrieristischen Mandarine des französischen Theaters so vehement seine Attacken, dass jede etwaige Kritik gegenüber dem temperamentvollen Parforceritt in Bestürzung – oder in Lachen – endet.

Aber die Demütigung, die Pellets Figur erfährt – nämlich die eines durch Theaterdirektoren und Regisseure zur Nullnummer degradierten Autors –, treffen ihn nicht nur professionell, sondern existentiell, denn im Subventionstheater erkennt dieser Autor sein ganzes Land. Ein Frankreich, dessen Geschichte er von Grund auf hasst, weil seine Prinzipien ausschließlich auf denen von "Schikane, Denunziation, Kollaboration, Heuchelei beruhen".

Der französische Staat, so eifert er, habe den Regisseur, einstmals vagabundierender Künstler, in das bürgerlich sanktionierte Amt des Direktors eines vaterländischen Kulturunternehmens gehievt, habe ihn, aber auch die Mehrzahl der Dramatiker, gesellschaftlich integriert und korrumpiert und so nur den alles fressenden "französischen Kleinbürgergeist" subventioniert. Die kulturelle Depression, die Morrisons Text eher verscherbelt als erfasst, wird hier von Pellet auch als eine moralische seziert; nicht ohne schmerzhafte Selbstironie. Aber klarerweise stößt ein solcher Text trotz (oder wegen) seines messerscharfen Witzes auf taube Ohren und ist kein Exportgut.

In Buchform, aber ohne Bühne

Christophe Pellet hat Filmdrehbücher und 14 weitere Stücke geschrieben, alle wenig gespielt. Es wäre leicht, ihn wegen der Erfolglosigkeit seines Anspruchs in die Pfanne zu hauen, läuft doch sein Zorn ins Leere, weil sein sperriges Werk nur selten das Licht der Bühne erblickt. Aber er hat uns etwas zu sagen mit seinen sensiblen Bühnenfiguren, die tief verstrickt sind in unsere Probleme der Auflösung von geschichtlich tradierten Rollen, seien es sexuelle oder soziale, verbinden sie doch immer wieder die Frage nach ihrer "Rolle" im Theater mit der nach der "Identität", genauer gesagt der des französischen Individuums gestern und heute.

Will man sich über Frankreich kundig machen, liefert schon die Lektüre seiner Texte eine fundiertere Beschreibung des Seelenzustands dieses irgendwie verwundeten und verunsicherten Landes als zig journalistsche oder wissenschaftliche Analysen. Apropos Lektüre: im Unterschied zu Deutschland, aber auch England, Italien, den USA, erscheinen praktisch alle französischen Theatertexte in Buchform, ob gespielt oder nicht. Die SACD (Société des auteurs et compositeurs dramatiques), die als kollektive Verwertungsgesellschaft sämtliche Autoren gegenüber Bühne, Fernsehen, Funk, Film vertritt, subventioniert jährlich rund 400 (!) Buchausgaben; hinzukommen die einiger Verlage.

Ich möchte aus dieser Flut wenigstens drei weitere Stückeschreiber – Ronan Chéneau (geboren 1974), Marie NDiaye (*1967), Fabrice Melquiot (*1972) – hervorheben, um eine Lanze zu brechen für ihre Resistenz gegenüber dem flotten künstlerischen Geschäftssinn, wie ihn ein Morrison fordert, und wie er in anderer Schattierung bei den Theatern auch in Deutschland grassiert. (Man könnte in diesem Zusammenhang noch Valère Novarina und Joël Pommerat nennen.)

Von Geschichte durchtränkte Gegenwart

Nicht, dass sie eine Gruppe bildeten, eine neue Welle, wie in den neunziger Jahren die jungen Engländer, nein, sie arbeiten zäh allein vor sich hin. Eines aber verbindet das Werk dieser Autoren: die Auseinandersetzung mit einer die Gegenwart durchtränkenden Geschichte, das Leiden am eigenen Land – das gilt vor allem für Chéneau und NDiaye –, wenn auch eher cool als pathetisch vorgetragen. Weil sie sich weder im Bösen – sagen wir Kolonialismus – noch im Guten – sagen wir égalité, liberté, fraternité – von ihrer französischen Vergangenheit 'entlassen' sehen, andererseits sich und Frankreich durch die schmutzige politische Wirklichkeit verletzt fühlen – brutale Abschiebung Asylsuchender, täglicher Polizeiterror gegenüber den schwarzen Franzosen in der Banlieu, etc. –, begreifen sie ihre "historische" Aufgabe im Sinne von Émile Zolas "j'accuse". Sie führen Klage gegen den Ausverkauf von Idealen, die als von der französischen Geschichte untrennbare Errungenschaft zu Menschheitsidealen wurden.

Es ist Sonntag, ich eile in das Théâtre de la Cité Internationale am Parc Monceau; in die Nachmittagsvorstellung – eine schöne Einrichtung der französischen Theater am Wochenende. Dieses Theater steht für interessante moderne Stücke wie die des 35-Jährigen Ronan Chéneau. Auch er hat den ruppigen Ton von Pellet drauf, hat aber das enorme Glück, auf den jungen, hoch begabten schwarzen Regisseur David Bobee gestoßen zu sein.

Sicher trägt diese fruchtbare Zusammenarbeit zu Chéneaus Hinterfragung der "nationalen Identität" bei, für die Mehrheit der schwarzen Franzosen nur ein Bluff mit falscher Münze. Für ihn als Autor aber Anstoß, die Ingredienzien dieser "Identität" unter die Lupe zu nehmen.

Fressen, Fitness und Gutdraufsein

Dreht sich nicht alles nur um die weißen Werte, "Gesundheit, Schönheit, Fressen, Gutdraufsein, Fitness, Reichtum, Konkurrenz, ewige Jugend, Sicherheit, etc."? fragt er in seinem Stück "Cannibales" an diesem Sonntagnachmittag und konfrontiert den Zuschauer zunächst mit einem Schock: Ein junges (weißes) Paar übergießt sich mit Benzin und geht in Flammen auf.

Gezeigt wird das als Schattenspiel, und mit diesem alten theatralischen Mittel gelingt Bobee die symbolträchtige Verknüpfung mit der terroristischen (schwarzen) Gewaltanwendung in der Banlieue, auch sie für den Zuschauer ja nur als modernes "Schattenspiel", im Fernsehen, wahrnehmbar. Den Entschluss zur Gewalt gegen sich selbst begreifen die jungen Leute als Absage an das eiserne Anpassungsdiktat ihres Lebens aus Arbeit, Konsum und Angst, als "poetische" Geste gegen eine abgestandene "weiße, versteinerte, verbürgerlichte Kultur".

Soweit die "weiße" Bestandsaufnahme. Die "schwarze" klingt nicht optimistischer. In seinem jüngsten Tanz- und Performanceabend berichtet Chéneau auf der Bühne nach Art eines altmodischen Reisenden von Afrika, oder vielmehr von dem, was sichtbar und unsichtbar ist von Afrika hier in Frankreich: schwarze Immigranten mit kleinem Gepäck hetzen über die Bühne, streifen Vorübereilende, die nicht hinsehen, werden buchstäblich an die Wand und schließlich wieder ins Abseits gedrängt.

Chéneau als Weißer kommentiert gelegentlich, die (übrigens fabelhaften) Tänzer bleiben stumm. Während Schwarze in den Medien so gut wie inexistent sind, sind sie hier im Theater zumindest körperlich präsent. Voller Zorn weist der Reisende auf die künstlerische Leistung dieser Schwarzen, um im gleichen Atemzug zum Angriff auf die Geschäftemacher mit der Furcht vor schwarzen "Eindringlingen" auszuholen. Seine Philippika verleiht einem Frankreich Stimme, das trotz der gegenteiligen Bemühungen seines "bling-bling"-Präsidenten immer noch keine blöde Spaßgesellschaft sein will.

Papa muss essen

Die Bühnenfiguren der 42-Jährigen Marie NDiaye sind vitalistischer, unbeirrbarer als die von Pellet und Chéneau, obwohl gerade sie ein Lied von der Zerrüttung des Individuums durch Rassismus oder Klassendünkel à la Française singen können. Mit "Papa doit manger" schuf NDiaye jedoch eine Figur, Kotzbrocken und schwarzer Adonis in einem, mit der sie jeden Gejammers spottet (und sogar die Comédie Française eroberte). Sie selbst ist Tochter einer Französin und eines Vaters senegalesischen Ursprungs, weiß also aus persönlicher Erfahrung um die Probleme schwarzer Abstammung.

My home is my castle, dieser Spruch schien in NDiayes "Rien d'humain" ("Nichts Menschliches"), in der Inszenierung von Olivier Werner am Pariser Théâtre de l'Est, leibhaftig Gestalt anzunehmen, wenn Djamila sich wehrhaft aufs Dach eines kleinen Hauses platziert. Obwohl die Schauspielerin mit einer Weißen besetzt war, assoziiert der französische Zuschauer doch die schwarze Haut. Eigentlich gehöre das Haus ihr, plärrt ihre Freundin Bella, obwohl Djamila es für Sexualdienste von Bellas Vater geerbt habe. Djamila hasst die herablassende, großbürgerliche Familie Bellas, weil diese sie schon als Kind sexuell ausbeutete und, schlimmer noch, "integrierte". Ihrerseits herablassend nimmt sie schließlich die enteignete Bella wieder ins Haus – als Dienstmädchen.

Opfer als neue Täter am Werk

Die doppelbödige Kritik NDiayes zielt auf die ehemaligen französischen Sklavenhalter und denunziert darüber hinaus die ehemaligen Sklaven, soweit sie nichts geworden sind als neue Herren. Alte Strukturen verbergen sich in diesem Stück hinter einem gnadenlosen Klassen- und Rassenkampf in seiner gänzlich entpolitisierten Erscheinungsform des individuellen Konkurrenzkampfs. Die Leidenschaften, die hier wuchern (in der Tradition von Genets "Zofen"), gewannen in der Inszenierung vielleicht zu wenig spielerische Gefährlichkeit, aber die "Inhumanität" der Rache an einer sich "links" gerierenden französischen Gesellschaft, die sich so viel auf ihre halbseidene Toleranz zugute hält, wurde plausibel.

Hervorstechend an NDiayes Darstellung gesellschaftlicher oder familiärer Umschichtungen scheint vor allem, dass auch sie (wie Pellet und Chéneau) diese gründlich auseinander nimmt, aber viel weitergeht, wenn sie nicht einfach Opfer vorführt, sondern diese zugleich überführt als neue Täter am Werk. Insofern nämlich macht sie ernst mit einer Befreiung von geschichtlicher Vergangenheit: durch die implizite Forderung nach gegenwartsbezogener Verantwortung.

Keine eingängige Kost

Der 37-Jährige Fabrice Melquiot repräsentiert noch eine wieder andere Spielart von Unangepasstsein an eingängige Theaterkost. Wenn ein Stück mit Leichenfledderei, inklusive des Herausbrechens der Goldzähne einer schönen Verstorbenen beginnt, ein anderes damit, dass ein Mann seine Beine, Arme, Hände, seinen Kopf und andere Körperteile im Treppenhaus zusammensuchen muss, weil er sich selbst verloren hat, so weiß der Zuschauer, er wird in ein Reich jenseits des einfach gestrickten well-made play entführt.

In vielen Stücken Melquiots geht es um übersinnliche Erfahrung, nicht allein in der Liebe, sondern vor allem mit dem Tod. In "Marcia Hesse" ist die Titelfigur eine zwanzigjährige Tote, sichtbar nur für den Zuschauer. Melquiots "Stil" ist dennoch realistisch. Wenn sich einer der Polizisten in "Faire l'amour est une maladie mentale qui gaspille du temps et de l'énergie" (Lieben ist eine mentale Krankheit, die Zeit und Energie schluckt) direkt vor der Nase zweier Kollegen aufhängt und diese das einfach 'übersehen', so glaubt man es, weil man zuvor mit Hilfe einer protokollgenauen Sprache die banale Unerträglichkeit des Polizeialltags wie das Abbild von etwas total Irrealem miterlitt.

Blöd dasitzen, wenn die Franzosen lachen

Melquiots stärkste Begabung beruht in der Tat auf einer sehr authentischen, wohltuend frischen Sprache mit außergewöhnlich reichem und buntem Wortschatz. Ausgerechnet diese Qualiät steht dem leichten Verständnis eines Nicht-Franzosen à la Morrison natürlich im Wege. Mangelt es aber an wirklich differenziertem Sprachververmögen, so bleiben die Obertöne mit Assoziationen und Witz unhörbar, sitzt man blöd da, wenn die Franzosen lachen, und das wird dem Stück dann als "intellektuell" angekreidet.

Bei der nicht-französischen Bewertung eines Autors wie Melquiot (zu schweigen von der eines Valère Novarina) dürfte ganz profan die dürftigen Vokabelkenntnis eine Rolle spielen. Sein französisches Publikum in Paris dagegen feierte z.B. "Marcia Hesse" überschwenglich (die Inszenierung stammte von Emmanuel Demarcy Mota, sie wurde koproduziert vom Théâtre de la Ville des Abesses).

So bleibt es im Fall von Melquiot ein merkwürdiger Widerspruch, dass er bei den Pariser Subventionsbühnen im Allgemeinen auf Nichtachtung stößt und seine Arbeit nicht den Geschmack der Pariser Regisseure trifft. Anders als Pellet ist er dagegen mit jährlich 45 Produktionen in der Provinz finanziell einer der erfolgreichsten französischen Dramatiker. Wie weit diese Diskrepanz (Paris – Provinz) die französische Klassengesellschaft spiegelt, bleibt dahingestellt.

Aufregend aktuell

Ab und an gelang es Melquiot ja, nach Paris vorzustoßen, mit seinen vielgespielten Kinderstücken sogar in das Studio der Comédie Francaise, und schon andere Autoren haben lange gebraucht, um sich ins Pariser Repertoire zu schmuggeln. Dazu gehört exemplarisch Nathalie Sarraute (1900-1999). Diese spröde, große Autorin kann in mancher Hinsicht als Vorkämpferin der vorgestellten Autoren gelten: ihr Bühnenwerk lebt von intellektueller Beharrlichkeit der Figuren, von der Radikalität, mit der sie ihren betont individualistischen Standpunkt verteidigen und damit die Lügen der Gesellschaft aufsprengen – wenn auch im Unterschied zu den heutigen Autoren ohne Verweis auf die Geschichte.

Beim Lesen sind ihre Stücke alles andere als "verführerisch"; aber in den letzten Jahren erwiesen sie sich mit vielen Inszenierungen als aufregend aktuell, stießen sie bei den Pariser Bühnen (und Schauspielstars) und einem immer größeren Publikum auf waches Interesse. Auslandshits freilich sind auch sie bis heute nicht. Vielleicht trägt jedoch das eine oder andere Stück von Pellet, Chéneau, NDiaye, Melquiot denselben Zukunftskeim in sich und zündet noch, zumindest im eigenen Land.

 

Ute Nyssen, Dr. phil., Bühnenverlegerin, mit Jürgen Bansemer Gründung eines eigenen Theaterverlags. Herausgeberin mehrerer Buchausgaben, u.a. mit Stücken von W. Bauer, E. Jelinek, B. Behan, Th. Jonigk. Veröffentlichungen in Zeitschriften und Rundfunk.

Mehr zum Theater in Frankreich: Theaterbrief aus Paris (1) zu deutschen Autoren auf französischen Bühnen, Theaterbrief aus Paris (2) zur zeitgenössischen Komödie, Theaterbrief aus Paris (3) zur immer wieder neuen Sprengkraft der Klassiker.

 

 

Kommentare  
Theaterbrief Paris: Christophe Pellet
Christophe Pellet, est un auteur et réalisateur français. Né à Toulon en 1963 Er ist also nicht 46 Jahre alte sondern 58 Jahre :) ... nur am Rande bemerkt ... ansonsten bin ich unentschieden, ob ich ihrem Artikel im Generaltenor zustimmen darf. Ich weiß zu wenig über die französischen Dramatiker und Autoren der Gegenwart und so gut wie gar nichts über die kulturelle Gegenwart Frankreichs ... leider. Mir fehlen sehr, sehr, sehr Menschen wie nur z.B. P. Bourdieu. Sie wissen, was ich meine.
Axel Arnold Bangert Herzogenrath 21.11.2021
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