Herbert Fritsch probt Molières "Schule der Frauen" am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Eva Biringer hospitiert.
Voll Karacho aus dem Ruder
von Eva Biringer
Hamburg, 1. April 2014. Für Herbert Fritsch bedeutet der Wechsel von der Probebühne auf die große Bühne ein Vielfaches an Laufweg. Wenn er, selten genug, auf seinem Platz in der fünften Reihe sitzt, dann in Erdmännchenhaltung, pfeilgerade auf der Sesselkante, die Hände auf dem Vordersitz. Wenn er, wie meistens, nicht auf seinem Platz sitzt, rast er durchs Parkett. Gäbe es so etwas wie "Kilometergeld", Fritsch wäre ein reicher Mann.
In Kurzform lautet Fritschs Inszenierungsprinzip: Trampolin – Klamauk – Karacho. Für das Hamburger Schauspielhaus inszeniert er Molières "Die Schule der Frauen." Die Handlung geht so: Ein seniler Alter mit Namen Arnolphe zieht im Verborgenen die Waise Agnès auf, um aus ihr eine möglichst dumme Ehefrau zu machen. Horace, ein Freund Arnolphes, verliebt sich in Agnès und gemeinsam tricksen sie den Ziehvater aus, um am Ende vor den Altar zu treten. Der Regisseur sorgt für Figuren im Dauerwahn, der allenfalls kurzzeitig gedeckelt werden kann, bevor er sich wieder Bahn bricht.
Rummspräsenz und Kaugummienglisch
Entsprechend heißt die Probengrundstimmung "Kindergeburtstag", mit Fritsch als Zauberkünstler und Geburtstagskind in Personalunion. Die anderen "Gäste" tragen jeder nach seiner Façon zur Heiterkeit bei: Bettina, von allen nur Stucky genannt, als Arnolphes Dienerin Georgette, deren kehliges Mundwerk diverse Dialekte anzubieten hat und den ganzen Raum beschallt. Josef Ostendorf, der dieselbe Rummspräsenz erzielt mit einer bräsigen Märchenonkelstimme und bedächtigen Bewegungen. Ostendorf / Stucky als frankophones, sich mit Tierkadavern bewerfendes Dienerpaar könnten das Bühnengeschehen problemlos allein bestreiten. Karoline Bär spielt Agnès wie eine lebende Spieluhrenfigur, die Pirouetten dreht, bis sie das Gleichgewicht verliert. Dass sie nicht erst siebzehn ist, erinnere ich erst wieder am Tag ihres dreißigsten Geburtstags, für den Andreas Grötzinger eine sagenhafte Marzipantorte bäckt. Sonst beeindruckt Andreas mit seinem transeuropäischen Akzentrepertoire. Sein Enrique, der in die USA ausgewanderte Vater von Agnès, dessen Funktion im Stück keiner versteht, am wenigsten Fritsch selbst, spricht ein grandioses Kaugummienglisch.
Dramaturgin Sabrina Zwach hat die Molière-Vorlage neu übersetzt und wacht über wenigstens ansatzweise Integrität ihres Textes. Gegen Textänderungen von "der Mann ist sehr geschickt" zu "der Mann, der so gut fickt" ist sie machtlos. Und wenn aus "Möbel, Hausrat, Häuser" das "Möbelhaus Rathäuser" wird, hat sich Fritsch zufolge die Probe schon gelohnt.
Da sind ein paar Schrauben locker
An der Wand der Probebühne in Altona hängen Figurinen mit löchrigen Perücken und zerfetzten Miedern, man kann die Mottenkugeln knistern hören. Die Kostümbildnerin Viktoria Behr nennt das "Rokoko shabby chic." Die Schauspieler haben zu kämpfen. Karolines Sichtfeld versperrt eine blonde Wallemähne, Bettina und Josef stolpern über ein Reifrockungetüm. Dabei handelt es sich hier um Prototypen, die eigentlichen Kostüme sind erst zur sogenannten AMA ("alles mit allem") vollendet, einer Art Generalprobe der Generalprobe. Ein schön abgerocktes Bild geben Arnolphes lockere Knöpfe ab, als Äquivalent zu den Schrauben in seinem Kopf. Bei Joachim Meyerhoffs Spieltempo verwundert es nicht, dass ständig Teile des Kostüms über die Bühne kullern.
Nach dem Umzug ins große Haus zieht das Tempo weiter an. Schuld daran trägt der Live-Musiker Ingo Günther, mit dessen permanenten Störgeräuschen die Darsteller arbeiten müssen. In Trainingsjacke und mit Fliegerbrille auf der Stirn beugt er sich über bunt blinkende Gerätschaften, lässt es in aberwitzigem Tempo wabern und dissonieren. Damit die Sprechgeschwindigkeit der Schauspieler sich jener von hochgepitchten Comicfiguren annähert, hilft eine Sprachtrainerin beim "Text reinkloppen". In Einzelsitzungen.
Herbert Fritsch versteht "Die Schule der Frauen" als theatergewordene Pathologie des menschlichen Wahns. Im Sinn von Realitätsverlust wie bei Ulrich Hoeneß, dessen Schicksal Fritsch offenbar sehr nahe geht. Realitätsverlust wie bei den Wiener Kollegen, wo sinkende Kapitäne das ganze Schiff in die Tiefe reißen, weil sie zu hoch gepokert haben. Fritsch hat ein Herz für Spieler, spricht von den Casinos in Baden Baden, erzählt von italienischen Matriarchinnen, die sich beim Sprung vom Roulettetisch beide Beine brechen. Er ermuntert uns, Filme von Louis de Funès, Laurel und Hardy und Jerry Lewis anzuschauen, zitiert Rammsteinvideos und "Tatort"-Kommissare. Nur ganz selten einmal soll Bastian Reiber als Horace mit großer Geste von der Rampe herab deklamieren, auf dass später "ein Raunen vom 'großen Schauspieler' durch die Kantine" gehe.
Wenn der Löffel zweimal klingelt
Und wie springt der Fritsch-Funke auf das Ensemble über? Joachim Meyerhoff in der Hauptrolle muss nicht erst entzündet werden, eher gedimmt, denn er brennt lichterloh. In den wenigen Momenten, wo Fritsch die Puste auszugehen droht, übernimmt Meyerhoff, dessen Wahnsinnspräsenz keinen Unterschied macht zwischen Probebühne, großer Bühne und Theaterkantine. Meyerhoff ist die personifizierte pochende Halsschlagader, er strampelt am Boden, rennt gegen Wände. Wenn Meyerhoff in Aktion ist, klingelt in manchen Momenten, das ist kein Scherz, der Löffel in der Kaffeetasse. Wenn Meyerhoff nicht in Aktion ist, harrt er in Lauerstellung, beißt in sein Halstuch, knetet seine Perücke, wartet, dass die Spielwut wieder ausbrechen kann, seine Mimik ist auch für die Leute auf den billigen Plätzen gut einsehbar.
Von den anderen Schauspielern adaptieren einige das Fritsch-Tempo bereitwilliger als andere. Bastian hat schon mehrmals mit dem Augsburger Spielmeister zusammengearbeitet, kein Wunder, dass er wirkt wie ein Ureinwohner des Fritschs-Universums. In seinen ersten Szenen auf der Probebühne werfen ihn unsichtbare Briefe zu Boden, auf Kollegenkörpern spielt er Klavier. Ich habe das Gefühl, er hat schon heimlich geübt.
Sinnsuche auf allen vieren
Am saubersten schnurrt das Fritsch-Rädchen natürlich beim Meister selbst, der eigentlich alle Rollen eigenhändig spielen müsste. Gewiss werden die Regisseurshemden jeden Tag gewechselt, anders ist deren Waschmittelwerbungweiß gar nicht zu erklären – wälzt sich ihr Träger doch bei jeder Probe auf dem schmutzigen Bühnenboden.
Einen willkommenen Anlass, alles vollends aus dem Ruder laufen zu lassen, bietet der Stückschluss. Entsprechend den "entgleisenden Gesichtszügen" in der Vorlage, die jetzt völlig ins Abseits gerät. Alle radebrechen drauf los, Deutsch, Denglisch, Finnisch, es blüht der multilinguale Kauderwelsch. Martin Pawlowsky sucht auf allen vieren "den Sinn", Michael Weber prüft die Echtholzqualität des Bühnenbilds, Stucky / Ostendorf poussieren ihre Tierchen – das ist der Irrsinn, auf den ich gewartet habe.
Eva Biringer schreibt für nachtkritik.de oder Die Zeit oder den Standard, wenn sie nicht gerade einen Milchmädchenmonolog hält. Zuletzt hatte sie sich entschlossen, das Theater, das sie sonst vom Kritikerinnensessel aus begutachtet, auch einmal als kopierende Hospitantin zu erleben. Sie ging zu Herbert Fritsch und wurde eingesogen.
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Was, ausser begeistertes Kopfnicken und sympathische Anekdoten kann ich denn berichten wenn ich als Hospitantin auf den Proben sitze?
Embedded Kulturjournalist?
Groupies gibts genug, ist auch in Ordnung, nur was hat Hofberichterstattung auf Nachtkritik zu suchen?
Bleibt zu hoffen, dass sich das auch allabendlich auf die Bühne übertragen lässt.
Eine kleine Anmerkung noch: Meines Wissens nach heißt es "ama" (alles mit allem).
(Vielen Dank für den Hinweis, ist korrigiert.
MfG, Georg Kasch / Redaktion)
Wenn Nachtkritik als Medium über den Theaterinsiderkreis hinaussenden will - ist es total hilfreich dem Mensch da draußen zu erzählen, wie das Kunstwerk entsteht - dass es Zeit kostet - und auch Vergnügen machen kann. Was, wie der Insider weiss - keinen Rückschluss auf die Qualität oder den Erfolg der Aufführung selber zulässt. Gerne mehr Berichte von der Probenfront ;-)
Wenn nicht wird sie von der Probe geschmissen.
Loyalität muss von Jemandem der so nahe am (ungeschützten) Prozess einer Probe teilnimmt verlangt werden.l
Diese Nähe, widerspricht aber jeder Journalistischen Distanz.
Deswegen würde ich in diesem Zusammenhang von "embeddet" sprechen.
Wie die Kriegsberichterstatter welche mit der Kämpfenden Truppe an der Front sind.
Da kann nur "Propaganda" entstehen.
Wie soll ich denn den Menschen wieder begegnen die mich in ihren geschützten Raum gelassen haben?
Ob positiv, oder für jemanden mit übertrieben dicken Eiern, auch negativ, alles findet in zu grosser Nähe und Abhängigkeit des Objekts statt.
So wie es jetzt läuft, wird nicht nur Werbung für die Inszenierung, deren Regisseur und das betreffende Theater gemacht, sondern es liegt auch die Vermutung nah, dass diese Probenberichterstattung einen (positiven) Einfluss auf die am nächsten Tag erscheinende Rezension auf nachtkritik, auf die Auswahl der Pressestimmen in der Kritikenrundschau sowie die Platzierung in den Nachtkritik-Charts hat.
(Werter „Presserat“,
die Texte von Else Buschheuer und Eva Biringer sind keine klassischen Vorberichte, sondern Eindrücke von Probenarbeiten bedeutender Regisseure, die Werbung bestimmt nicht nötig haben. nachtkritik.de wird nicht nur von Theatermachern gelesen, sondern auch von Menschen, die sich einfach fürs Theater interessieren. Gerade weil wir glauben, dass sich in der Arbeitsweise dieser Regisseure exemplarisch etwas darüber erfahren lässt, wie heute eine Inszenierung entsteht, haben wir uns für diese Texte entschieden.
Der Vorwurf, die Texte seien PR und von den Theatern gekauft, ist absurd. Ich kenne auch keine Zeitung und kein Magazin, wo das der Fall wäre. Porträts und Reportagen aus dem Inneren des Theaterbetriebs, von dem die Zuschauer meist nur das Endprodukt kennen, gehören seit langem zum Feuilleton und auch zu einem Onlinetheaterfeuilleton wie nachtkritik.de. Das müssen Sie nicht mögen. Aber uns ein finanzielles Interesse zu unterstellen, nur weil wir unsere kritische Kernkompetenz um andere Textformen erweitern, ist vielleicht doch ein wenig zu verschwörungstheoretisch.
MfG, Georg Kasch / Redaktion)
(Liebe/r naiv,
wir lieben diesen Brustton der Überzeugung sehr. "Das weiß man doch - ho ho ho ho - wie das läuft. Jawoll! Das ist doch ABSURD. Die Welt ist ein Dreckhaufen. Unabhägigkeit? Da lachen ja die Hühner, ho ho ho ho!" Es ist schön, dass Sie den Dingen auf den Grund schauen können. Und natürlich haben Sie Recht, Unabhängigkeit zu erhalten oder erst herzustellen, ist ein ausgesprochen schwieriges Unterfangen, viel schwieriger, als etwa wir uns das am Anfang vorgestellt haben.
Wir bemühen uns halt trotzdem, gell?
Mit herzlichem Gruß
nikolaus merck, der Herr Kasch lässt Sie auch grüßen)
Wie das so ist bei solcherart Fronten, hat nicht einer recht und der andere unrecht, sondern beide haben recht und sie könnten einen Gewinn daraus ziehen, wenn sie das begreifen. Ich versuche also einmal den Frontverlauf auseinanderzudröseln:
Ja, jemand wie Fritsch oder der Hartmann (also S.) haben Werbung nicht nötig. Punkt an A wie Außen. Aber vielleicht haben die Theater, an denen die beschriebenen Proben stattfinden es nötig oder sind zumindest durch die liebevolle nk-Zuwendung unter Theatern nunmehr übervorteilt und nehmen die Segnung der öffentlichen, werbenwirksamen Presse-Aufmerksamkeit in stiller Dankbarkeit hin? Das hätte zur Folge, dass andere Theater, die von der kostenfreien Aufmerksamkeit weniger abbekommen, obwohl sie es vielleicht nötiger hätten als die ohnehin stärkere Konkurrenz, benachteiligt werden. Das ist ein Punkt für I wie Innen…
Wenn man nun bedenkt, dass Fritsch so richtig Karacho macht und die Leute mit denen er das probiert, zumeist darum wissen und sich darauf freuen, Karacho zu machen, ist ja so ein Bericht auch probeninnenpolitisch ganz okay. Da funktioniert das aus Regie-Sicht sogar wie ein Anheizer, so ein integrierter Berichterstatter! Denn Schauspieler haben immer Publikum gerne, auch in Proben. Wenn man nicht aufpasst wie ein Harmlosigkeit vortäuschender Wachhund, legen sich auch gerne für jede Hospitantin ins Zeug! Wenn man von Moliere also explizit Karacho will, KANN eine berichterstattende Hospitantin ein Vorteil für die Probenarbeit sein. Punkt nach A. Aber: Wenn man von Moliere oder irgendeinem Autor sonst eher mehr Tiefe will, dann muss man ja als Regisseur schon versuchen, als Regisseur möglichst aus der Probe gänzlich hinter sich selbst zu verschwinden und Hospitantinnen wären da gar nicht gut. Und berichterstattende wenigstens eine Katastrophe bis bei erster bester Gelegenheit rauszuschmeißendes Hass-Objekt… Punkt nach I.
Deshalb liebe ich persönlich ja den schönen seriösen Begriff Hospitanz! Hospitanz ist grammatikalisch weiblich und begrifflich sächlich, da bekommt dann eine Hospitantin ganz schnell etwas von einer Probenbeobachtungs- und Internkritiker-Instanz und wenn man allein das Wort noch weiter untersucht, fällt einem auf, dass eine Hospitanz genau das Gegenteil ist von einer Interna ausplaudernden oder aus Entsetzen oder Begeisterung heraus leidenschaftlich nach D wie draußen berichtenden hospitierenden Journalistin. Deren Leidenschaft immerhin zu Werbezwecken missbraucht werden KANN. Das sollte der Journalistin zu denken geben um ihrer selbst Willen! – Spätestens jetzt geraten die Punktvergaben durcheinander und es geht so schnell mit den Toren, dass keiner mehr mitkommt, fest steht nur – Unentschieden.
Wie Sie bemerken, habe ich nur den Fall Fritsch als exemplarisches Beispiel bemüht. Das liegt daran, dass im Fall Hartmann, S. und Deutsches Theater für mich die Sache schon wieder deutlich anders aussieht (weshalb dieser Punkt garantiert an I ginge, wenn auch nicht ans Deutsche Theater) - wie jedoch genau , sprengt für heute Vormittag den Rahmen meiner finanziellen Möglichkeiten. – Mit freundlichsten Grüßen verbleibt Ihre nk-Hospitanz
(Liebe nachtkritik-Hospitantin Dorit,
die Redaktion dankt für diesen sehr interessanten Kommentar. Und das ist nicht ironisch gemeint.
Herzlich
nikolaus merck)
(Liebe/r naiv,
da bringen Sie uns auf eine Idee ...
jnm)
Was ist denn so schlimm wenn jemand mal mit Begeisterung von Ereignissen im Theater berichtet.
Wäre eigentlich wunderbar wenn es das öfter gäbe.
(und ich bin überhaupt kein Freund von Hartmanns Theater und den Fritsch mag ich nur wegen seines Enthusiasmus).
Trotzdem toll das es jetzt auf nachtkritik dieses neue Format gibt.
sabrina zwach
dramaturgin der inszenierung "die schule der frauen"
(Anmerkung der Redaktion 1: Wir haben im Text entsprechend die "Fotostrecken" und den "Sound-Techniker" geändert.)
(Anmerkung der Redaktion 2: Wie im Vorfeld mit ihr vereinbart, hat unsere Autorin Eva Biringer VOR Textverfertigung und -veröffentlichtung das ausdrückliche Einverständnis von Herbert Fritsch und allen beteiligten Schauspieler eingeholt.)