Mamma Helvetia – Georg Scharegg geht im Rahmen des Festivals Höhenfeuer am Theater Chur dem Schweizer Nationalgefühl nach
Patriotischer Schmelz
von Valeria Heintges
Chur, 7. Januar 2015. "Tief in diesem Berg drin tobt die Hölle", sagte der Germanist Peter von Matt in seiner Festansprache 2009 auf dem Schweizer Rütli. "Da unten donnern die Eurolaster durch den Tunnel. 40-Tönner. Bald vielleicht 60-Tönner. Da dröhnt Tag und Nacht die Autobahn Hamburg-Rom." Peter von Matts Rede zum Nationalfeiertag der Schweiz hat es nun im Theater Chur auf die Bühne geschafft. Dort wollen die Politiker, Honoratioren und die Dame vom Jodelfest die Eröffnung der neuen Autobahnröhre durch den Gotthardtunnel feiern.
"Heil Dir, Helvetia!"
Von Matts feierliche Worte auf dem Rütli werden in Georg Schareggs "Mamma Helvetia" gepackt wie viele andere Reden auch, sowie Ausschnitte aus Zeitungsartikeln und Leserbriefen, aus Broschüren und Foren, aus Liedgut, Märchen und Sagen. So hat der 1960 in Chur geborene Regisseur und Theatermacher, der seit Jahren in Berlin lebt, bereits 2013 in "Die Fremdenindustrie" gearbeitet, wo er den Tourismus und die Bewerbung Graubündens als Olympia-Austragungsort unter die Lupe nahm (und die Ablehnung des Grossereignisses vorwegnahm). Doch die Autobahnröhre durch den Gotthardtunnel wird erst einmal nicht eröffnet. Das rote Band bleibt heile. Die Feier wird vertagt.
Der St. Gotthard ist Dreh- und Angelberg der Schweizer Geschichte und des Selbstbewusstseins und darf daher in einem Abend über die Befindlichkeit der Alpenrepublik nicht fehlen, mit dem das Theater Chur sein Festival Höhenfeuer eröffnet. In den nächsten vier Wochen soll es "von alpiner Warte aus die Insel Schweiz im Weltgetümmel" samt ihrer Befindlichkeiten untersuchen, wie es in der Eigenwerbung heißt. "Heil dir, Helvetia! Hast noch der Söhne ja, wie sie Sankt Jakob sah, Freudvoll zum Streit!" singen die potenziellen Tunneleröffnungsfeiernden also zunächst noch marschierend. Die Zeilen aus der alten Nationalhymne mit ihrem patriotischen Schmelz prallen hart auf die Sasso-San-Gottardo-Festung, die sich die militärische Schweiz im Zweiten Weltkrieg baute, um auch im Falle eines Angriffs noch agieren zu können. Der riesige unterirdische Bunker soll nun zum Touristenort ausgebaut werden, der Gotthard als "peripherer Lebensraum gestärkt" werden. Es sind Sprachfloskeln wie diese, die den Zuschauern im Laufe des Abends massenweise von der Bühne herab um die Ohren wedeln.
Panisches Festhalten an Traditionen
In und zwischen Silke Bauers wandelbaren Bühnenelementen, die Schlafkoje, Bahnabteil oder einfache Container sind, schickt Scharegg die fünf Akteure und zwei Musiker auf die Suche nach dem "immateriellen Kulturgut der Schweiz" zu Schwingerfesten und Alpaufzügen, lässt sie jodeln, ihre regionalen Eigenheiten demonstrieren, die Stärke und (allzu) grosse politische Macht der Wirtschaft und das Verhältnis zur Europäischen Union ergründen. Dabei scheut Scharegg vor deutlichen Worten und Bildern nicht zurück, zeigt im starken Schlussbild einen Riesencontainer, in dem sich die Schauspieler wie Flüchtlinge (oder Waren?) vor der Welt verschliessen.
Doch wirken seine Themen grossteils beliebig, weil sie von keiner szenischen Klammer zusammengehalten werden. Auch die Idee des "Familienrapports", wie der Abend im Untertitel heisst, findet auf der Bühne keine Entsprechung. Nichts zu sehen vom "helvetischen Familientisch", an dem es "zünftig kracht". Zwar streiten die Landesteile in verschiedenen Sprachen, aber verhandelt wird nichts, nur nebeneinander und vorgestellt. Manche Beiträge gehen wegen der mässig synchronen Übertitelung und teilweise geschluderter Sprechweise verloren. Weil die Schauspieler immer wieder auch gleichzeitig und ineinander verzahnt sprechen, um die Zerrissenheit des Landes zwischen fast panischem Festhalten an Traditionen und modernstem, total global vernetztem Wirtschaftssystem zu zeigen, bleiben Verständnis und Logik zusätzlich auf der Strecke.
Die Akteure, allesamt mehrsprachig, haben in diesem Konzept keinen Platz, um Figuren zu entwickeln. So ragt lediglich Felicitas Heyerick hervor, die ihre Reden extrem pathetisch, hoch ironisch oder auch wunderbar nonchalant erscheinen lässt. Die anderen haben Mühe, Kontur im Konzept zu entwickeln.
Mamma Helvetia . Ein Familienrapport
von Georg Scharegg
Sprachen: Deutsch / Italienisch / Rätoromanisch / Französisch / Englisch.
Regie / Konzept: Georg Scharegg, Dramaturgie: Martina Mutzner, Bühne: Silke Bauer, Kostüme: Ursina Schmid, Kostümassistenz: Melanie Häusler, Regieassistenz: Romana Walther, Produktionsleitung: Franziska Schmidt.
Mit: Felicitas Heyerick, Annina Machaz, Simon Käser, Lorenzo Polin, Peter Zumstein Livemusik: Michel Estermann (Gitarre), Valentin Kessler (Akkordeon), Domenic Janett (Special Guest 9. bis 11. Januar 2015)
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
Theater Chur (Festival Höhenfeuer)
Schlachthaus Theater Bern
Konzert Theater Bern
Teatro Sociale Bellinzona
Neues Theater Dornach
Théâtre Grange de Dorigny Lausanne
"Es gibt viele bunte Einzelteile an dem Abend, manche kostbar, andere eher banal, übers Ganze fügen sie sich nicht zum schlüssigen Gesamtbild", so Andreas Klaeui in der Neuen Zürcher Zeitung (9.1.2015). Es fehle der dramaturgische Kitt und der Abend verzettele sich, vom Alpenréduit zum Dichtestress, von der Renaissance des Notvorrats und den famosen 300 Litern Vorratswasser zur grassierenden Kulturfeindlichkeit, "tippt wie in einem Jahresrückblick diverse Stichworte an, streift in kabarettistischer Manier notorische Anekdoten". Manches davon sei wirklich komisch. Aber: "Über die Ballung hinaus bleibt der Erkenntnismehrwert bescheiden. Allen polyglotten Anstrengungen eines verwandlungsfreudigen Ensembles zum Trotz kommt der Abend nicht in Fahrt."
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