Gespenster. Erika, Klaus und der Zauberer - Münchner Kammerspiele
Kurzer Summer of Love
von Sabine Leucht
München / online, 20. Januar 2021. Sommer 1969: Kilchberg am Zürichsee, 1911: "Tod in Venedig", 1949: Tod in Cannes. Das sind nur drei der wichtigsten Fixpunkte, die das Kollektiv RAUM+Zeit in der traumlogischen Dramaturgie von "Gespenster" miteinander in Beziehung bringt. Das Team um den Autor Lothar Kittstein und den Regisseur Bernhard Mikeska kann das: Szenische Vexierspiele bauen, die den gewohnten Blick auf Epochen und Menschen aufbrechen und sie einem auf manchmal irritierende Weise nahebringen. Diesmal sind die Manns dran, in erster Linie Erika, aus deren Perspektive der Abend in der Therese-Giehse-Halle der Münchner Kammerspiele erzählt wird. Das passt, denn dort stand die älteste Mann-Tochter als Schauspielerin auf der Bühne und die "fiese Giehse" war eine Zeit lang ihre Geliebte.
Erika bekommt Besuch
Der "Summer of Love" 1969 war für Erika kurz. Bereits im August starb sie an einem Hirntumor. Und ein bisschen schickt der wohl schon seine verwirrten Boten voraus an diesem live performten und gestreamten Abend, der in und um vier Glaskästen herum spielt. Anfangs wird das gesamte Schneewittchensarg-Setting sehr langsam von einer Kamera umkreist, bis eine der darin steckenden Personen ins Visier genommen wird. Wer auf der virtuellen A-Seite der Halle "sitzt", hat zuerst eine verbitterte Erika auf dem heimischen Bildschirm - konzentriert gespielt von Svetlana Belesova mit rauchfertig gezückter Zigarette und vielen amerikanischen Flüchen auf den Lippen.
Erika bekommt Besuch von einem jungen Geschwisterpaar. Katharina Bach und Bernardo Arias Porras spielen dessen flirrende-verführerische Sinnlichkeit mit fast unheimlichem Nachdruck: Mit blitzenden Augen, gurrenden Stimmen und - in seinem Fall – mit bis zum Hosenbund aufgerissenem Hippie-Hemd. Angeblich wollen die zwei einen Film zum Mann-Stück "Geschwister" drehen, in dem dieselben vom gemeinsamen Tod träumen.
Zurück in die Vergangenheit
In Wahrheit aber suchen die gealterte Sachwalterin und Sekretärin ihres Vaters in Gestalt dieser beiden ihre Versäumnisse und verdrängten Sehnsüchte heim. Später wird sich Belesova eine Perücke aufsetzen und sich in ihr jüngeres Ich zurückverwandeln. Noch aber reagiert sie allergisch auf dessen Draufgängertum und erniedrigt es mit Worten, die sie selbst wohl schon zu hören bekommen hat: "Du? Regisseurin? Oh, kleine Maus!" und stammelt, um Selbstrechtfertigung bemüht: "Ich war die Königin Elisabeth, ich hatte was, … die besten Witze…wenn du meine Brüste sehen würdest." Da kann die Jugend nur lachen.
RAUM+ZEIT gehen von dem doppelten männlichen Schatten aus, unter den Erika Mann ihr Leben stellte. Ob das so stimmt, nach allem was man weiß? Oder ob nicht auch Erikas Schatten schwer auf ihre Männer fiel und der übergroße des Mann'schen Arbeitsethos auf sie alle? 1949 beging ihr geliebter, ihr unzertrennlicher Herzensbruder Klaus Selbstmord und Erika organisierte weiter die Lesereise ihres Vaters, anstatt zu seiner Beerdigung nach Cannes zu fahren. Auch das fliegt der Kammerspiele-Erika in ihrem Theater-Delir um die Ohren. Aber erst nach dem ersten Black, während dem Lichtfunken über die vier Glaswürfel zucken.
Maximal deutungsoffen
Als virtueller B-Seiten-Bucher ist man offenbar mit dem "Zauberer" in den Abend gestartet, wie die Mann-Kinder ihren Vater nannten. Wir anderen haben ihn bis dahin nur stumm die Lippen bewegen und mit den Mitspielern Blicke tauschen sehen. Denn dieses szenische Vexierspiel ist zwar maximal deutungsoffen und mitunter verwirrend, aber präzise getimt. Alles geschieht gleichzeitig, wäre aber nur gleichzeitig zu sehen, wenn man selbst Herr über die Kameras wäre, die einem hier hübsch ausschnitthaft mal einen und mal mehrere Szenenpartikel nebeneinander servieren.
Den "Zauberer" Thomas Mann spielt Jochen Noch als einen wie in sich verpuppt wirkenden Mann mit starr herabhängenden Armen und gravitätischen Worten auf den Lippen. Um es gleich zu sagen: Gut weg kommt der berühmte Autor nicht. Er ist herablassend zu Erika - "braves Mädchen, gutes Ding, altes Haus" - und auf mindestens ebenso herablassende Weise hungrig auf den schönen Jungen - ob als er selbst oder als Aschenbach im 1911 veröffentlichten "Tod in Venedig" bleibt offen.
Feuchte Träume
Kittstein und Mikeska lassen zumindest die Möglichkeit zu, dass die dienstbereite Erika ihrem Vater einen Stricher von der Straße holt, dem er von "frühreifen Erdbeeren" erzählt und befiehlt: "Mach dich nass!" Da wird der Traum feucht und der Boden schlüpfrig. Denn weil Bernardo Arias Porras als käuflicher Lover schon mal die Worte Vater und Freier ineinanderrutschen und er Sekunden später auch Klaus spielt, der noch einmal nach Hause kommt, um seinen panisch ausweichenden Vater zur Rede zu stellen, liegt das Thema Missbrauch in der Luft. Ist das die "Tiefenbohrung", die Mehdi Moradpour in seiner Intro zum Abend versprochen hat? Oder ein etwas eitles Spiel mit dem Feuer boulevardesker Enthüllungen?
Gespenster – Erika, Klaus und der Zauberer
Von RAUM+ZEIT (Hendes, Kittstein, Mikeska und Wurster), Text von Lothar Kittstein
Regie: Bernhard Mikeska, Künstlerische Mitarbeit: Juliane Hendes, Bühne: Steffi Wurster, Kostüme: Almut Eppinger, Musik- und Sounddesign: Knut Jensen, Lichtdesign: Charlotte Marr, Dramaturgie: Mehdi Moradpour, Bildgestaltung: Nicolai Hildebrandt, Kamera: Nicolai Hildebrandt, Matthias Kraus, Blake Lewis, Kai Metzner, Benjamin Zecher, Schnitt: Ikenna David Okegwo, Jake Witlen.
Mit: Bernardo Arias Porras, Katharina Bach, Svetlana Belesova, Jochen Noch.
Premiere am 20. Januar 2021
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause
www.muenchner-kammerspiele.de
"Ganz schön viele Referenzen. Ganz schön viel Kulturhuberei", schreibt Katrin Bettina Müller in der taz (22.1.2021). "Viel wurde über die Familie Mann, ihre vielen Künstler:innen und die Verhältnisse der Familie schon geschrieben und in Szene gesetzt. Oft war dabei das Interesse der Gegenwart klarer an den Figuren." Trotzdem sei die Online-Inszenierung "spannend und emotionsgeladen, weil man erstens gute Schauspieler vor sich hat und zweitens der Soundtrack von Knut Jensen das Ganze mit Nervosität auflädt".
"Toll an diesem Abend ist nicht nur das perfekt getimte, entschlossen ins Theatralisch-Expressive gehende Spiel der Schauspielerinnen und Schauspieler, sondern auch, dass das technische Team dank fünf agiler Kameramänner rasant die Perspektiven wechseln kann und das Online-Geschehen mit schnellen Schnitten wirkungsvoll dynamisiert", schwärmt Michael Stadler in der Abendzeitung (22.1.2021). "Das Traumpotential des Films wird hier wunderbar ausgekostet. Ausgeklügelter und aufregender kann ein Live-Stream nicht sein."
In ihrer Kritik in der Süddeutschen Zeitung nennt Christine Dössel die Online-Arbeit zunäht ein "Raum und Zeit sprengendes Traumspiel" und lobt das "ablauftechnisch raffiniert ausgeklügelte Regiekonzept", schließt dann aber mit dem Urteil, der Abend habe "nicht das Zeug zum Aufreger. Eher langweilt er mit zunehmender Gewöhnung an seine technische Verve. Was anfangs als so kunstvoll erscheint, wirkt zunehmend artsy-fartsy, wie Erika Mann wohl sagen würde, verkünstelt."
"Erinnerungen und Rückblenden, Träume und Tatsachen verschwimmen mit- und ineinander. Ohne genaue Kenntnisse der Mann’schen Familienbiographie ist der Inhalt allerdings schwer nachzuvollziehen", so Hans Ackermann vom RBB (2.2.2021). "So modern wie die elektronischen Sounds der Bühnenmusik von Knut Jensen ist Bernhard Mikeskas Inszenierung auch insgesamt." Und weiter: "Das Theaterkollektiv Raum+Zeit hat mit dieser Inszenierung endgültig den Schritt zum Livestream-Theater der Zukunft vollzogen - Aufführungen, die in einem herkömmlichen Theaterraum in dieser technischen Perfektion und Ausstattung allerdings wohl gar nicht mehr möglich wären."
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Ich finde, hier wird durch Stellvertreter-Rollen-Spiele über die Selbstgegebenheit vieler Familienstrukturen nachgedacht.
Methode: Vorstellen, Tiefergehen, Verstehen, Spielen, Sein-Lassen:
Das Setting, die Kameraführung und die Bilder fand ich klasse. Die Schauspieler sehr kompetent. Die Sprache klang literarisch, aber teilweise etwas unbeweglich, im Vergleich zum Thema und Setting.
Sehr seltsame (doch interessante) Familie diese Manns. Mit den
Essays von dem "Zauberer" Thomas Mann konnte ich in jungen Jahren
viel anfangen. Etwa diese Linie: Schopenhauer - Nietzsche - Richard
Wagner - Sigmund Freud, fand ich damals bemerkenswert. Ebenso die
Dècadence- und Todesmotivik in "Der Tod in Venedig" und das Lesen im
"Zauberberg" (als ein gar demutsvoller (in kultureller Hinsicht)
junger Geistes-Zwerg?). "Doktor Faustus" fand ich höchst interessant!
- Künstlerschicksale! Schopenhauers Willensmetaphysik, die den Willen
als primäre Kraft über den Intellekt stellt. Der Wille, der als Trieb
aus dem Unterbewussten nach oben bellt? (im Zentrum des Schopenhauerschen Willens befindet sich, ähnlich wie in Freuds Lehre, die ungebändigte Sexualität des Menschen.) Der menschliche Geist, der am Leben
scheitern muss (muss er?).Thomas Mann bezeichnet Schopenhauers
Philosophie retrospektiv als eine "Triebphilosophie" und setzt dessen
Dialektik von Wille und Intellekt zudem mit Freuds Kampf des Es gegen
das Ich gleich. (Man fragt sich für sein eigenes Leben: Wer wird ge-
winnen (obsiegen) das Es oder das Ich? Besser, keines geht als Sieger hervor!
Oder nein - das ICH siegt als sterbliches Bewusstsein, und der schopen-
hauerische (Trieb)WILLE setzt sich in Ewigkeiten weiter fort, ganz im
Sinne der buddhistischen Wiedergeburts-Lehre-Tradition.
Leider habe ich den "Kurzen Summer of Love" verpasst. Oder wollte ich
die drei Manns in Glaswürfeln gar nicht sehen? Da war etwas in Raum + Zeit
(als bloßes Hirn-Gespinst des Menschen - Konstruktionen, die wir aus uns selbst heraus in unsere Umwelt projizieren, und die Welt als Produkt
der Vorstellung) was das Anschauen, ich weiß nicht wie - ver-hinderte.
Oder war es bloß lässige Zerstreutheit und Gedanken-Losigkeit? - und die
Familie Mann schon zu weit in ferne Vergangenheits-Ferne gerückt?
Ist es, frage ich mich jetzt - für mich längst (verstaubtes) Vergangenes?
Die "fiese Giehse" aber, habe ich schon sehr eindrucksvoll als Schauspielerin in Filmen gesehen . . .
Spröde und rätselhaft bleibt die Annäherung an die unglückliche Familie Mann, halb Geisterbeschwörung, halb Familienaufstellung.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/01/20/gespenster-erika-klaus-und-der-zauberer-munchner-kammerspiele-kritik/
PS: Zwei Korrektur-Hinweise: Der Ort heißt Kilchberg am Zürichsee, "Tod in Venedig" ist natürlich 100 Jahre früher 1911 erschienen.
https://www.rbb24.de/kultur/beitrag/2021/02/theaterkritik-gespenster-muenchner-kammerspiele-thomas-mann.html