Geht nach Haus, Kapitalisti!

29. Mai 2024. Als Intendant der Wiener Festwochen will Milo Rau eine Revolution anzetteln. Jetzt braucht er nur noch ein Volk, das auch mitmacht.

Von Gabi Hift

Die Pressekonferenz der diesjährigen Wiener Festwochen © Franzi Kreis

29. Mai 2024. Anfang Mai tauchten in Wien teure Hochglanzplakate mit dem Schlachtruf "Revolution now!" auf. Das Rätseln darüber, was mit diesem Slogan wohl verkauft werden sollte – Parfum? – endete, als Milo Rau sein Konzept für die Wiener Festwochen vorstellte. Nicht weniger als einen Umsturz aller Verhältnisse plante er. Er würde die sogenannte "Freie Republik Wien" ausrufen, einen hundertköpfigen "Rat der Republik" installieren und an drei Wochenenden "Wiener Prozesse" abhalten – in einem Theater inszenierte Verhandlungen über brisante Themen mit echten Zeugen, echten Anwälten und echten Richtern.

Milo Rau ist für diese Art von Prozessen berühmt, in Moskau stellte er den Prozess gegen die Gruppe "Pussy Riot" nach, in den "Zürcher Prozessen" klagte er die Wochenzeitung Weltwoche wegen Diffamierung von Minderheiten an und im "Kongo-Tribunal" verhandelte er den Genozid in Ruanda. Nun also auch Prozesse für Wien. Die Bürgerinnen und Bürger der Stadt sollten diesmal nicht nur Publikum bei den eingeladenen Produktionen sein, sondern aktiv Beteiligte."Moralismus ohne wirkliche Teilhabe ist bloß eine durchschaubare Maske der Elite", so Rau. "Wir schulden der Welt eine Revolution."

Sturm auf das Rathaus

Zur Eröffnung der Festwochen am 17. Mai war der Putsch angekündigt. Bei dieser Gratisveranstaltung auf dem Rathausplatz ist meist für jeden etwas dabei. Tina Turner, Marianne Faithfull, Chaka Khan, Nina Hagen und viele andere Prominente dieses Kalibers sind über die Jahre dort aufgetreten. Die Leute strömten erwartungsvoll auf den Platz, die traditionelle Eröffnungsmusik tönte aus den Lautsprechern, aber mittendrunter wurde sie unterbrochen – wie es schien durch einen Störsender.

Auf der Videowand erschien eine Gruppe von vermummten Personen mit bunten Sturmhauben à la Pussy Riot, die so taten, als hätten sie das Büro des Bürgermeisters besetzt. Verfolgt von der Kamera stürmten sie über die Flure, hinter ihnen rottete sich eine Menschenmenge mit Fahnen zusammen, alle zusammen traten heraus auf die Tribüne und die drei führenden Stadtguerilleros Milo Rau, die Schauspielerin Bibiana Beglau und der Musiker Herwig Zamernik alias Fuzzmann riefen die "Freie Republik Wien" aus.

Fuzzman stimmte die erste der beiden Hymnen an: "Geht nach Haus, Kapitalisti! Ihr habt es zu nichts gebracht! Alles Schöne auf der Welt hat jemand anderes gemacht." Wer wohl die "Kapitalisti" sein sollen? Etwa die Erste Österreichische Bank, Hauptsponsor der Festwochen, die gerade Gratisgetränke und praktische Regenüberwürfe verteilt hat? Oder Milo Rau? Er dürfte mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit der am besten Verdienende auf dem Platz sein und er springt neben Fuzzman auf und ab und ruft begeistert: "Nieder mit dir, Kapitalist! Nichts Schönes kommt von dir!"

Dann lädt er alle Menschen, die Gewalt und Unterdrückung erleiden, in die Freie Republik Wien ein. Wirklich alle seien willkommen! Es bleibt ungewiss, ob das nur schöne Worte sind oder ob es einen Plan für den Fall gibt, dass Asylsuchende diese Aufforderung ernst nehmen.

Ein freundlicher Rebell: Intendant Milo Rau © Franzi Kreis

Milo Raus Aktion hat ein klares Vorbild: Schlingensiefs unvergessene Aktion "Bitte liebt Österreich" bei den Wiener Festwochen 2000. Schlingensief installierte damals einen Container auf dem Platz vor der Oper. Angelehnt an das Fernsehformat "Big Brother" konnte man hier eine Gruppe Menschen Tag und Nacht beim Zusammenleben beobachten. Der Clou war, dass es sich um Ausländer handelte, die (angeblich) auf die Abschiebung warteten, und dass die Zuschauenden jeden Tag eine Person herauswählen konnten, die dann abgeschoben würde.

Die damalige politische Situation in Österreich ähnelte der heutigen: Die rechtspopulistische FPÖ unter Jörg Haider war nach einem extrem fremdenfeindlichen Wahlkampf zweitstärkste Partei geworden und bildete die Regierung. In diesem Herbst könnte die FPÖ bei den Nationalratswahlen im schlimmsten Fall stärkste Partei werden und ihr Vorsitzender Herbert Kickl Bundeskanzler. Damals wie heute sind Fremdenfeindlichkeit und Asylpolitik entscheidende Themen im Wahlkampf.

"Das grenzt ans Absurde"

Milo Rau möchte ebenso wie Schlingensief politisches Theater machen, das in so einer Situation Position bezieht. Auch er hat ein Konzept, das direkte demokratische Entscheidungsstrukturen simuliert, bei denen es nicht ganz klar ist, wie weit sie in der richtigen Welt Konsequenzen haben. Allerdings hat Schlingensief nicht eine "gute" direkte Demokratie simuliert, sondern er ist in die Rolle der Bösen geschlüpft. Das Projekt bediente sich der ausländerfeindlichen Wahlplakate der FPÖ und lockte die niedrigsten Instinkte der Menschen ins Sonnenlicht zur allgemeinen Betrachtung.

Raus Aktion soll hingegen für die Zeit der Festwochen eine Art Basisdemokratie simulieren, die ihm wohl als bessere Alternative zur derzeitigen parlamentarischen Demokratie vorschwebt. Er will mit den Mitteln der Kunst eine positive Utopie errichten. In einem Interview mit Peter Kümmel in der Zeit sagt er: "Es ist vermutlich der größte performative Selbstwiderspruch, dass ich Intendant der Wiener Festwochen bin und gleichzeitig Revolution spielen will. Das grenzt ans Absurde, vermutlich auch ans Lächerliche." Das stimmt. Aber es reicht nicht aus, dass Rau es weiß.

Keine Zeit für Schlaf © Gabi Hift

Hauptquartier der "Freien Republik" ist das überaus charmante Volkskundemuseum im Palais Schönborn. Dort sind die Büros der Organisatoren, in einem Raum steht ein riesiges, zerwühltes Bett, in dem Milo Rau sich zwischen den Terminen in aller Öffentlichkeit schlafen legen kann. (Ich konnte aber nicht herausfinden, ob er das tatsächlich jemals tut. Nach zehn Tagen Beobachtung glaube ich eher, dass er überhaupt nicht schläft. Er inszeniert drei riesige Projekte gleichzeitig und bei allen Veranstaltungen ist er immer schon da, wenn man kommt.) Im großen Saal finden die sogenannten "Hearings" statt, bei denen sich der Rat der Republik durch Anhörung von Experten eine Meinung bilden soll, um am Ende der Festwochen eine Verfassung zu verkünden.

Die Räte bestehen aus 69 Menschen aus den 23 Wiener Bezirken. In jedem Bezirk hat eine lokale Institution, zum Beispiel die Bücherei oder eine Sozialeinrichtung, drei Leute ausgesucht, möglichst divers in Bezug auf Alter, Beruf und politisches Lager, die bereit und interessiert waren, an so einem Experiment mitzuwirken. In den ersten Sitzungen, die ich beobachtet habe, kannten sich die Leute gegenseitig noch überhaupt nicht und hatten keine Ahnung, wozu sie eigentlich gebeten waren. Sie sollten über einen Beirat entscheiden, über Fragen wie Budgets und Quotenregelungen und das Erreichen neuer Zuschauergruppen. Natürlich verstanden sie von all dem nichts, wie denn auch? Sie hatten sich diese Themen ja nicht einmal selbst ausgesucht.

Die Wiener Prozesse

Die Wiener Prozesse finden an drei Wochenenden im Odeontheater statt. Der Anreiz für das Publikum ist die Prämisse, dass es ohne diese Prozesse keinen öffentlichen Ort gäbe, an dem man über die gesetzten Themen frei diskutieren könnte. So war es zweifellos bei Milo Raus Moskauer Prozessen. So ist es aber keinesfalls beim ersten Wiener Prozess gewesen. Thema waren hier die ungelösten Vorwürfe, die aus der Coronazeit übriggeblieben sind. Wurden Grundrechte verletzt? Vulnerable Gruppen zu wenig geschützt? Waren die staatlichen Einschränkungen verfassungskonform? All diese Fragen wurden sowohl in Fernsehdiskussionen als auch im Parlament und später in Untersuchungskommissionen gefühlt zehntausend mal durchdiskutiert. Überraschenderweise erwies sich die Teilnahme am Prozess gleichwohl als sehr lohnend. 

1. Wiener Prozess c Ines Bacher 4Vor dem Gesetz © Ines Bacher

Angeklagt war die Republik Österreich. Ankläger und Verteidiger waren echte Staranwälte. Den Vorsitz hatte die frühere Präsidentin des Obersten Gerichtshofs Irmgard Griss. Die Geschworenen wurden aus dem Rat der Republik heraus gecastet und wirkten hier viel eher in ihrem Element, konzentriert und interessiert.

Vom ersten Sitzungstag an dominierte die Anstrengung. Alle Argumente, die man hört, kennt man schon. Aber es wird einem dadurch, dass man sich zwingt zuzuhören, richtig bewusst, welche Arbeit Demokratie bedeutet. Wie das ist, abzuwägen, etwas wieder und wieder durchzukauen, dranzubleiben. Zu verstehen. Man spürt eine große Sehnsucht, sich in diesen vernünftigen Bahnen zu bewegen, auf diese Weise zu Entscheidungen zu kommen. In einem solchen Gemeinwesen zu leben, in dem die Vernunft regiert.

Das nächste Sitzungswochenende dürfte um einiges turbulenter verlaufen. Dann steht die FPÖ vor Gericht. Als Verteidigerin hat Milo Rau die ehemalige AfD-Vorsitzende Frauke Petry engagiert. Kronzeuge der Anklage ist der Ibiza-Skandal-Whistleblower Julian Hessenthaler.

Kommentare  
Freie Republik, Wien: Ariel Muzicant als Zeuge
Neueste Meldung: Ariel Muzicant, Präsident des Jüdischen Weltkongresses und früherer Präsident der IKG Wien, wird beim Zweiten Wiener Prozess als Zeuge auftreten. Muzicant hatte gerade noch gefordert, die Eröffnungsrede der Festwochen von Omri Boehm zu verbieten, weil er Omri Boehms Thesen für Israelfeindlich hielt und Boehm des Antisemitismus bezichtigte, und damit mittelbar auch Milo Rau, der ihn eingeladen hatte. Eben jener Muzicant, der in der Zeitung verkündet hatte, wäre er noch jünger, dann würde er Omri Böhm mit faulen Eiern bewerfen, wird jetzt also selbst bei den Festwochen öffentlich auftreten und seinen Standpunkt zum Thema "Anschläge auf die Demokratie" darstellen. Das scheint mir ein schöner Schritt zu sein, und zwar von beiden Streithähnen, sowohl von Muzicant, der sich mit seinem Wunsch nach einem Verbot nicht durchsetzen konnte, als auch von Milo Rau, dem es gelungen ist, ihn einzuladen.
Den Bericht über den Streit über die Rede Omri Boehm's finden Sie hier: https://www.nachtkritik.de/nachtkritiken/oesterreich/wien-niederoesterreich/wien/wiener-festwochen/wiener-festwochen-proteste-gegen-omri-boehms-rede-an-europa
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