Hamlet - Theater Ingolstadt
Welt im Wahn
20. Oktober 2024. Die Welt ist aus den Fugen - dieser berühmte Satz aus Shakespeares berühmten Drama ist gerade mal wieder besonders aktuell. In Ingolstadt hat sich Christoph Mehler den Stoff vorgenommen. Und daraus einen intensiven wie aufwühlenden Abend gemacht.
Von Christian Muggenthaler
20. Oktober 2024. Die Bühne ist mit gar nicht so viel Brimborium ausgestattet (Ausstattung: Jennifer Hörr). Sie steht schräg im Raum, nach vorn hin gekippt, guckkastenhaft lockend, ein einladender Hinein- und Hinaufschauapparat. Sie neigt sich dem Publikum zu, von hinten muss das Ensemble aufs Gelände steigen, kommt kletternd hoch, stückchenweise: Gesicht, Körper, Mensch.
Gruselige Familienaufstellung
Dann laufen die Spieler hinab, marschieren, rennen, tapsen und streuen sich immer weiter aus auf die Spielfläche wie bitteres Gewürz einer bitteren Handlung. Seitlich der Bühne gibt’s funktionelles Gestänge zu sehen, an dem Leuchtkörper hängen (Licht: Julian Zell), konzentriertes, scharfes Licht senden, das auch von oben kräftig hinunterfingert. Grell hier, meist streng weiß, macht es dort auch Schattenlöcher, nebelumwabert, schicksalsumwabert. So werden die Bühnenmenschen immer wieder neu verteilt auf einer eindeutig uneindeutigen Spielfläche: eine Handvoll Leute als grelle, gruslige Familienaufstellung. Ziemlich bald wird klar, wo wir hier sind: in einem Alptraum. Hamlets Alptraum. Kein irgendwie reales Dänemarkkönigreich. Stattdessen: eine Welt im Wahn.
Auf diese dauerhafte Wirkung ist hier alles abgestimmt: Licht, Schatten, Nebel, Kleidung zwischen Tüll und Lederstiefel, und das Wirken einer dreiköpfigen Band (Musikalische Leitung: David Rimsky-Korsakow), die ganz oben auf der Bühne ihren Platz gefunden hat und von dort aus ihre Mischung aus Musik und Geräuschkulisse macht: zerrend, zehrend, knacksend, knirschend, überfallartig, Lärm, der sich am Kopf festkrallt wie aggressive Kerbtiere im Haupthaar.
Das Ende vom Anfang aus gesehen
Zwei Gongs stehen auffällig im Mittelpunkt des Hintergrunds; ihre Klänge akzentuieren zusammen mit radikalen Lichtwechseln jeden Szenerie-Übergang. Im Bühnenboden sind Löcher, das sind Gräber. Diese Gräber sind Übergänge zwischen Leben und Tod, beides parallel existierende Welten. In Christoph Mehlers Inszenierung von William Shakespeares "Hamlet“ am Stadttheater Ingolstadt gibt es viele solche fließenden Übergänge. Die Kostüme sind zeitlos und unterstreichen das eindeutig Uneindeutige.
Durchlässig ist aber auch die Grenze zwischen Lüge und Wahrheit, Sünde und Reinheit, Jenseits und Diesseits. Das Jenseitige hat das Diesseits von Hamlet berührt, als dessen Vater ermordet wurde und als Wiedergänger erscheint: Da war dann etwas grundsätzlich falsch geworden, ist was kaputt und schief gegangen. Und zwar: eine ganze Welt.
Wir sehen das Ende von seinem Anfang her. Schon zu Beginn der Handlung atmet Hamlet ganz so aufgewühlt, zerstört und todesnah wie zuletzt auf den Tod verwundet bei den letzten Schnaufern am offenen Grab. Eine Art renitenter Ausweglosigkeit spielt sich da ab. Christoph Mehler macht Hamlet noch zentraler zur Zentralfigur, als es das Stück ohnehin tut, lässt ihn die Bühne nie verlassen, alles kommt ihm zu, alle spielen ihn an. Das ist eines von Mehlers Kunst- und Stilmitteln: Hamlet wird zu einer Art Schallplattennadel, die ihre düstere Melodie bis zu ihrem bitteren Schluss gnadenlos und rillengerade abspielt. Es geht gar nicht anders.
Auf diese Unausweichlichkeit ist die ganze Inszenierung konzentriert. Diese Dynamik des Untergangs erfordert jene Konzentration auch vom Publikum, wird aber feinst unterstützt von der poetischen Sprache der Übersetzung von Jürgen Gosch und Angela Schalanec.
Bösewichtige Verquollenheit
Anabel Möbius trägt den Abend in der Titelrolle zwischen Verletztsein und Verletzen, Trauer und Wut, Laut und Leise hervorragend. Um sie herum jene alptraumhaften Figuren, die ihre Welt bilden, es braucht gar nicht viele: Péter Polgár als Claudius in bösewichtiger Verquollenheit, Enrico Spohn als Polonius in scharfzahniger Intrigenhaltung, Matthias Zajgier als Gertrud in Kleider-moll und Bart-Dur, mittendrin im falschherum gedrehten Fleischwolf dieser Hamlet-Welt.
Marc Simon Delfs und Philip Lemke spielen alle möglichen Rollen, unter anderem Rosencrantz und Guildenstern, die daherkommen wie die Zentralschurken aus dem Film "Funny Games“ von Michael Haneke oder aus "Clockwork Orange“. Gruselig, gruselig.
Und dann geht’s ans blutrünstige Finale, das selten so logisch und unaufgesetzt aussah wie hier.
Hamlet
von William Shakespeare
Übersetzung: Jürgen Gosch und Angela Schalanec
Regie: Christoph Mehler, Bühne und Kostüme: Jennifer Hörr, Musikalische Leitung: David Rimsky-Korsakow, Licht: Julian Zell, Dramaturgie: Julia Just, Musiker: Anton Kaun, Giovanni Raaba, David Rimsky-Korsakow.
Mit: Anabel Möbius, Péter Polgár, Matthias Zajgier, Enrico Spohn. Marc Simon Delfs, Philip Lemke.
Premiere am 19. Oktober 2024
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
theater.ingolstadt.de
Kritikenrundschau
"Starker Abend!", ruft Anja Witzke im Donaukurier (21.10.2024) aus. Christoph Mehler hat das Shakespeare-Stück "radikal reduziert und mit dem Text auch die Emotionen stark verdichtet". Anabel Möbius sei "ein atemberaubender Hamlet"; Mehlers Setzung sei "klug und spannend zugleich". "Denn Anabel Möbius’ intensives Spiel trägt den Abend – zusammen mit der Musik, die David Rimsky-Korsakow gemeinsam mit Giovanni Raabe und Anton Kaun ersonnen und umgesetzt hat. Eine Partitur aus Sprache und Klang, Geräusch und Lärm ist da live zu erleben."
"Zwei herausragdene Leistungen" prägten diesen Shakespeare-Abend neben dem starken Ensemble, schreibt Michael Heberling in der Neuburger Rundschau (22.10.2024): "Das sind zum einen Musik und Sound von David Rimsky-Korsakow, der zusammen mit Anton Kaun und Giovanni Raabe, während des ganzen Abends auf der
Bühne sichtbar, live die eindrücklichsten akustischen Kulissen aufzieht. Zum anderen ist es die sichtlich kräftezehrende, packende Performance von Hamlet/Anabel Möbius, die sprachlich wie körperlich Höchstleistung abliefert", freut sich der Kritiker.
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zuerst mal: es war großartig.
Beeindruckend, schlau, intensiv und einfach super gespielt wie inszeniert.
Und Muggenthaler sagt es doch ganz klar, es war aus einem Alptraum-Guß in dem Shakespeares Splatterende endlich mal nicht als elisabethanische Zwangszutat für Markterfolg wirkte, sondern inhaltlich genau passte zum Erlebten davor. Das ist eine starke Wertung für eine fordernde Inszenierung, die auf Augenhöhe mit einem extrem starken Text arbeiten will und diese Aufgabe schafft. Bravo!
Dass dabei eine sehr klare, aber auch sehr prosaische Übersetzung wie die von Fontane keine Verwendung gefunden hat, ist einfach ok, wenn die Regie auch der Poesie des Originals gerecht werden will. Kann man mögen oder nicht. Aber es ist auf jeden Fall für alle toll, die mit dem Text als Sprachkunstwerk Kontakt haben wollen und nicht nur einen geilen plot erleben möchten.
Reingehen!