Das Werk/ Im Bus/ Ein Sturz - Karin Beier inszeniert Jelineks Baukatastrophentrilogie
Gesang der Geister über dem Wasser und unter der Erde
von Andreas Wilink
Köln, 29. Oktober 2010. Vom Schluck Wasser zur Sintflut: Zuerst sind auf einem Dutzend Tischen der Bühne des Kölner Schauspielhauses (Johannes Schütz) Batterien von Mineralwasserflaschen und Plastikbechern angerichtet. Am Ende, nach drei Stunden, steht die Bühne knöcheltief unter Wasser. Lehmig gelbe Brühe quillt aus einem Loch – in seiner Länge und Breite offen wie ein Grab. Köln geht baden, während sich die Stadtoberen nicht nass machen und ihre Hände in Unschuld waschen – und Karin Beiers fabelhaftes Ensemble das große Planschen veranstaltet. Ein Katastrophen-Slapstick, denn das Unglück ist auch ein fauler Witz.
Auf den Grund gegangen
Elfriede Jelineks undramatische Dramen und monomane Monologe sind eine Zumutung. Man muss sie parieren, pointieren, rhythmisieren, zerlegen, chorisch aufladen. Eine Jelinek-Textfläche ist schon schiere Unendlichkeit. Und dann drei von der Güte! Textmassen stürzen über einen herein. Litaneien begraben einen unter sich, üben Sog aus, nehmen den Atem. Karin Beier kommt dabei zustatten, dass sie sich als Regisseurin gewichtiger Stoffe eher wie eine grazile Leichtathletin und nicht als plumpe Schwergewichtlerin verhält. Ihre Saison am Kölner Schauspielhaus, dem "Theater des Jahres", beginnt sie mit einem Uraufführungsprojekt der österreichischen Literatur-Nobelpreisträgerin: "Das Werk / Im Bus / Ein Sturz". Und erreicht auch für sich wieder einmal neue Ufer.
Die Katastrophe kennt kein Maß und macht keinen Sinn. Sie geschieht. Aber sie hat Ursachen: Menschliches Versagen bzw. unmenschliches Verhalten. Dem geht Jelinek auf den Grund. Dreimal treten auf ihrem Kampfplatz die Kontrahenten Mensch und Natur gegeneinander an. "Im Bus" erzählt von einem Todesfall beim U-Bahn-Bau in München. "Das Werk", 2003 uraufgeführt, beschäftigt sich mit dem gewaltigen Wasserkraftwerk in Kaprun, bei dessen Errichtung in den 1940er-Jahren mindestens 160 Zwangsarbeiter ihr Leben ließen. Der Vorfall wird gespiegelt in dem Kapruner Seilbahnunglück aus dem Jahr 2000, bei dem 155 Wintersportler verbrannten. Schließlich "Der Sturz" – eine Kölner Affäre. Im März 2009 krachte das Historische Archiv an der Severinstraße zusammen. Es starben zwei Menschen, es entstanden Milliardenschäden aus dem Verlust an Urkunden, Akten, Nachlässen und Sammlungsbeständen. Eine Auslöschung.
Zwischen Springbrunnen, Dancefloor und Revolutionsparade
Beier untersucht "Das Werk" wie in einem Wasserlabor. Lebende Springbrunnen spitzen die Mündchen. Man kann Wasser trinken, sich damit waschen, es abfüllen und zur Energiegewinnung nutzen. Eine Putzfrau mit ausgebildeter Singstimme (Rosemary Hardy) wischt und wringt den Lappen. Damen der Gesellschaft in elegantem Schwarz formieren sich bei Trockenübungen zum Wasserballett. Einige Mitwirkende tragen lustige Kinder-Comic-Masken von Heidi und Peter. Die angespitzten Männer brüsten sich als Homo faber mit Ingenieurs-Verstand und -Ehrgeiz. Und unaufhörlich umspielt und umspült der gebändigte Text das szenische Arrangement: mal Oratorium, mal Dadamax-Revue, Hearing oder Kolloquium mit Tiraden des männlichen Rudelwesens (Thomas Loibl, Michael Weber, Manfred Zapatka) sowie einem zierlichen Monolog von Susanne Barth als Jelinek-Stellvertreterin.
Dann eine Zäsur – Vorwärts in den furiosen Mittelteil. Marx und Mao führen die Rotfront an. Auf dem Dancefloor Bühne bewegen sich zuckende Robotniks zu stanzenden Rhythmen im totalitären Kollektiv. Eine halbe Hundertschaft Choristen im Unterhemd marschiert ein, aufgerüstet mit Megaphonen. Das Arbeiterheer nimmt einen Schluck aus der Pulle, spült gut durch, stimmt Goethes "Gesang der Geister über dem Wasser" an und lässt das Revolutionspathos sich brechen an den Widerständen der Dekonstruktion.
Auf der Baustelle Geschichte, die Kaprun hier markiert und die Karin Beier zum apokalyptischen Feld umpflügt, hält der Tod Ernte. Gerade noch rief eine Trauernde nach ihrem toten "Liebling" und kreideweiße Mütter bilden Pietà-Figuren, da walzt ein grell geschminktes Terzett herein und legt eine Fastnachtsbeichte ab. Ihr Situationsbericht vom "Bus"-Einbruch in einen Schacht lässt die drei Malocher vom Bau zu unfreiwilligen Totengräbern werden.
Eine echt kölsche Farce
So wechseln bis zur Pause Stimmungsbögen vom Weichgespülten zum Gehärteten, vom leichtfüßig Soubrettenhaften zum massiven Einsatz historischer Querschläger – und sind in jeder Facette scharfsinnig, beklemmend virtuos, souverän und wirkungssicher geführt. Es folgt der "Sturz" in die Tiefe des Flachen. Jelinek wühlt im Dreck und holt Dinge ans Licht. In dem 40-seitigen Sturzbach klingt sie wie eine Untergangs-Prophetin. Der Sermon konfrontiert vier Protagonisten: die Erde, das Wasser, die Baufirmen und die Stadt.
Wo sich bei Jelinek die wortverdrehte Wehklag zur mythischen Travestie auflädt, entspannt sie sich bei Beier fast zur reinen Farce: die Katastrophe als echt kölsche Büro-Satire mit konfusen Schreibtischtätern. Behördenmenschen schleppen zwischen Abfallprodukten der Bürokratie Akten, öffnen Laptops, machen Kaffeepause. Nur ein Wesen wie vom anderen Stern huscht verunsichert und aufgescheucht unter den Amtsträgern. Die Schauspielerin Kathrin Wehlisch hat sich mit Modder verschmiert und – nackig, schwefelgelb, gehörnt – in die Erde verwandelt.
Vom närrischen Menschenbetrieb aufgestört, wird der Irrwisch sich bei einem spritzigen Kopulationstanz dem Wasser in Gestalt eines muskulösen Aquarius hingeben. Für das geile dumme Ding und den Penetrierer hat die "Lust"-Verfasserin gleichermaßen wenig übrig.
Automatenstimmen aus Computer, Telefon und Radio übernehmen die Textpartien: Die indirekte Rede bleibt unsichtbar und ungreifbar wie die Verantwortung. Das System hat sich verselbstständigt. Keiner weiß was. Keiner hat Schuld. Sorgfalt wird entsorgt.
Das letzte Stündlein hat geschlagen
Gelegentlich montiert Beier in diese – ja auch – Wirtschaftskomödie ("Die Stadt bezahlt dafür, dass ihr der Boden entzogen wurde") Fremdkörper. Wie in einer unfrommen Messe treten die Heiligen Drei Könige auf und setzen sich Darsteller Masken fürs tragische Bewusstsein auf. Während menetekelnd ein Rinnsal Sand von oben herab rieselt, flutet der Bühnenboden. Man fischt im Trüben, um Papiere zu sichten und zu trocknen. Ein Presslufthammer bohrt sich ins Gemüt. Die Vermessenen als die Begossenen arbeiten an ihrer Selbstvernichtung. Eine Glocke lässt das letzte Stündlein schlagen. Die Wasserschlacht kennt nur Verlierer – bis auf das Theater. Karin Beiers ekstatische Melancholie triumphiert. Ein künstlerischer Um-"Sturz"!
Das Werk/Im Bus (UA)/Ein Sturz (UA)
von Elfriede Jelinek
Regie: Karin Beier, Bühne und Kostüme: Johannes Schütz, Musik: Jörg Gollasch, Choreografie: Valenti Rocamora i Tora, Dramaturgie: Rita Thiele.
Mit: Susanne Barth, Lina Beckmann, Rosemary Hardy, Thomas Loibl, Caroline Peters, Laura Sundermann, Michael Weber, Kathrin Wehlisch, Julia Wieninger, Manfred Zapatka sowie Musiker, Tänzer, Sänger und der Chor der "Zauberflöten".
www.schauspielkoeln.de
Mehr zu Karin Beier im nachtkritik-lexikon. Jüngst wurde Elfriede Jelineks finanzkritische Kontrakte des Kaufmanns an unterschiedlichen Häusern inszeniert, und zwar von Nicolas Stemann in Köln/Hamburg, Johan Simons in Gent/Berlin, Pedro Martins Beja in Berlin oder Lukas Langhoff in Potsdam.
Kritikenrundschau
Dina Netz berichtet für Fazit auf Deutschlandradio (29.10.2010) von der Premiere in Köln (hier der Original-Beitrag): In der eindrücklichsten Szene kämen in "Das Werk" die Toten von Kaprun selbst auf die Bühne, "repräsentiert vom Kölner Männerchor 'Zauberflöten e.V.', der zischt und gurgelt und keucht und Textpassagen zu Schuld und Verdrängung hervorstößt, wie es wohl auch Einar Schleef beeindruckt hätte". "Ein Sturz" sei nicht ganz so: Jelinek selbst habe den Text als Satyrspiel bezeichnet, also als komischen Epilog zur Tragödie. "Niemand spricht direkt, schon gar nicht miteinander, die Stimmen kommen aus Radio, Telefon oder dem Off - so wie ja auch in Köln vor und nach der Stadtarchiv-Katastrophe niemand Klartext geredet hat, sondern alle mediengerechte Sprechblasen von sich gaben und geben." Die Schauspieler trügen "Narrenkäppis und Masken", aber so richtig "froh ums Herz will's einem als Kölner nicht werden - zu groß sind die durch den Archiveinsturz entstandenen Schäden, als dass Jelinek/Beier mit ihrem bissigen Karneval die miese Stimmung vertreiben könnten".
Dieses "mythologisch aufgeladene Satyrspiel mit Papp-Hütchen und Masken" scheint Marion Ammicht von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (31.10.2010) die angemessene Form zu sein, "um zu verarbeiten, was da in dieser Stadt geschehen ist, als sie mit dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs eine Woche nach Karneval 2009 ihr Gedächtnis verloren hat." In Elfriede Jelineks Trilogie bereite sich nun in den österreichischen Alpen vor, was dann in Köln zum furiosen Abschluss komme: "Ein gewaltiger Akt der Verdrängung, der dafür sorgt, dass die heimliche Protagonistin dieses Abends nicht auftritt. Von der Denkfigur der Verantwortung nämlich will keiner etwas wissen." Nicht in Kaprun, dem Schauplatz von Teil eins und nicht in München-Trudering, "wo ein karnevaleskes Transen-Trio dem Hades entsteigt und referiert, wie einem ein Bus auf den Kopf fallen kann, wenn man gerade ein U-Bahn-Loch gräbt." Als schwarz und tief beschreibt die Kritikerin die Bühne: "ein unendlicher Projektionsraum, durch den die Schauspieler mal als Conférenciers, mal als virtuose Textdarsteller zwischen Schreibtischen und Bauschutt mitten hinein ins kollektive Unbewusste und ins Jenseits führen". Immer wieder gehe es "um die geschändete Erde und das mitreißende Wasser. Und immer wieder versuchen sie sich an der Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik." Am Ende herrsche beklemmende Stille im Saal. "Das Publikum erhebt sich für eine gelungene Inszenierung – und es ist wohl auch eine Demonstration der Kölner Bürger gegen die systematische Verantwortungslosigkeit."
In Elfriede Jelineks Trilogie über das Bauen komme "wenig Erbauliches" zu Tage, meint Stefan Keim in der Welt (1.11.2010). Karin Beier inszeniere "mit grimmigem Humor eine finster-groteske Höllenfahrt", und sie inszeniere "sinnlich, derb, witzig, leicht", immer wieder packe "uns plötzlich das Grauen. Kongenial zur Autorin treibt sie mit dem Entsetzen Scherz." Und die "vorzügliche Ensembleleistung" der Kölner beweise, dass der Titel "Theater des Jahres 2010" (der sich bekanntlich aus der alljährlichen Theater-heute-Umfrage ableitet) verdient ist.
Ein "großes Jelinek-Tryptichon" sei Karin Beier gelungen, schreibt Peter Michalzik in der Frankfurter Rundschau (1.11.2010), "ein Theaterfries der Großmannssucht, das wirkt, als sei Jelinek zu sich gekommen." Wie manche der großen (männlichen) Jelinek-Regisseure vor ihr nehme Beier "sich die Textpassagen, die sie braucht, auch sie macht mit der Autorin, was sie will, aber sie liegt nicht im Clinch mit ihr, sondern inszeniert sozusagen von innen heraus, identifikativ und den Text bedienend." Mit dem dritten Teil "Der Sturz" schließlich habe Elfriede Jelinek der Stadt Köln "einen großartig bösartigen Text geschrieben, in dem die Stadt direkt Erde und Wasser anspricht. Das hat sie mit dem Tonfall der griechischen Tragödie unterlegt, daraus ist ein schneller, angriffslustiger und wuchtiger Text voller sexueller Anspielungen geworden. (...) Erde und Wasser, heißt es bei Jelinek, treiben es miteinander. Karin Beier zeigt das, und was sie da zwischen Choreografie, Gewalt und einem Wasserbecken inszeniert hat, ist eine der schärfsten Sexszenen, die im Theater bisher zu sehen war."
Hat man Andreas Rossmann je so euphorisch vernommen? In der Frankfurter Allgemeinen (1.11.2010) meint er, "die Bedenken nach der Lektüre, 'Das Werk' von Elfriede Jelinek könne nicht halten, was die Autorin mit dem 'Stück' verspricht", würden "eindrucksvoll weggeschwemmt." Und dann kommt's: "In 'Ein Sturz' gelingt Karin Beier alles. Nie war sie so sicher und wagemutig, fulminant und facettenreich in ihren Mitteln, nie hat sie ihr Ensemble derart gefordert. Als wäre das Bürgervotum für den Erhalt das Schauspielhauses auch ein Vertrauen in ihre künstlerische Kraft. In spannend choreographierten, hintergründig verfremdeten Bilderfindungen konfrontiert sie die Stadt mit deren Trauma. Köln hat, wie es hier sinkt und kracht, eine Aufführung, die sich seinen Abgründen gewachsen zeigt."
"Im Gegensatz zu Nicolas Stemann, der die meisten Jelinek-Texte inszeniert und sie dabei spielerisch gebrochen und nicht selten veralbert auf die Bühne brachte", erlaube sich Karin Beier "den Klamauk nur selten", sagt Katrin Fischer auf Deutschlandfunk (30.10). Beier lasse "die Worte wirken. Sie entwirft strenge Ordnungen, in die sie kleine befreiende Humor-und Slapstick-Inseln baut." In den Chorszenen gelinge ihr darüber hinaus "superbes politisches Theater: Geschichte, doppelbödig in Sprache gegossen, theatralisch geformt, schießt zusammen zu sozialem Bewusstsein." Das neue Stück "Der Sturz" löse dann "buchstäblich einen Strom von Fragen aus, der - wie das Unglück [der Einsturz des Stadtarchivs] - weit über die Stadt hinaus reicht. Der Karin Beier mit Elfriede Jelinek und mit diesem Abend und mit einem tollen Ensemble ein weiteres Theaterwunder beschert hat."
Offensichtlich habe Karin Beier, "sonst bekannt für ihre furchtlos entschlackenden Inszenierungen gewichtiger Klassiker, auch für die zügellose Textmaschine Jelinek eine angemessen verdichtete Form gefunden", schreibt Christian Bos im Kölner Stadt-Anzeiger (online ab 31.10.2010). Im Falle des neuen Köln-Stücks "Der Sturz" scheine es "ein ganz simpler Kniff zu sein, mit dem Beier den sperrigen Text zum eindringlichen Spiel formt. Aber seine Umsetzung gelingt phänomenal, ein Wasserballett, bei dem die Büromenschen von einer undichten Stelle zur nächsten gescheucht werden, bei dem schließlich die ganze Bühne im Brackwasser abzusaufen droht, derweil es von der Decke Erde regnet." Karin Beier und Elfriede Jelinek "haben Köln eine vergiftete Katharsis geschenkt, eine Seelen-Reinigung mit Dreckwasser. Wir sind die Stadt, wir tragen die Schuld. Dieser dreieinhalbstündige Abend ist eine Gewalttour, eine Überforderung und ein künstlerischer Triumph. Vor allem aber ist er eine Diskussionsgrundlage."
In der Süddeutschen Zeitung (2.11.2010) schreibt Christine Dössel von Karin Beiers "Triumph": Auch sie erwähnt den Titel "Theater des Jahres", den das Kölner Schauspiel "verdientermaßen" trage. Bei den drei Texten von Elfriede Jelinek handele es sich um "ein theatralisches Großbauprojekt, eine Tiefenbohrung in historische, ökologische und speziell auch Kölner Wunden". Der Text sei ein "unheilvoll brodelndes Umwelt- und Untergangsdrama". Im "Werk" inszeniere Beier "mit Hilfe eines Männerchores ein "Sprech- und Stampfkonzert: ein polyphones, meisterhaft rhythmisiertes 'Memento Mori' ", das sei "unglaublich gut gemacht", - "Mord und Sport, Tüchtigkeit und Ertüchtigung, tätig werden und Täter werden", sprudele in "fröhlichen Wortkaskaden aus den Mündern, die selber wie Turbinen immer im Betrieb sind". "Wunderbar" seien die Schauspieler, "darunter die immer so tolldreiste Caroline Peters und die prall-komische Lina Beckmann", die einen "aufgeregten Pollesch-Diskurs-Ton" anschlügen. "Wortmächtig" das "Wahnsinns-Intro" von Thomals Loibl, "ausgezeichnet" die Opernstimme von Rosemarie Hardy, "hinreißend" Manfred Zapatka, "unglaublich artistisch" Kathrin Wehlisch, "wunderbar" auch die Live-Musiker. Selbst im dritten Teil hole sich Beier "trotz gelegentlicher Karneval-Humoreinlagen" die Lacher "nicht billig ab". Immer wieder füge sie in "die krachende Bauamtssatire", die 'Ein Sturz' in ihrer Lesart auch sei, "Aporien ein, Sinn-Löcher".
Alexander Haas betont, wie die meisten KollegInnen, in seiner Kritik In der tageszeitung (2.11.2010) die Unglaublichkeit, dass bis heute niemand die Verantwortung für den Einsturz des Kölner Stadtarchivs übernommen habe. Er schreibt weiter: Es entlade sich "einiges an diesem Abend", ein "ganzer Stau aus Frust und Wut auf eine Stadt und ihre politische Verwaltung". Schnell fokussiere Beier auf das Wasser "als Leitmotiv des ganzen Abends, sprachlich, ausstattungstechnisch und musikalisch". Es sei eine "groß orchestrierte Anstrengung aus Schauspiel, Textperformance und klanglichen Untermalungen", die Beier unternehme, und anfangs scheine "noch eine gewisse Not" hindurch, die "Textmassen und -themen irgendwie verarbeiten und verteilen zu müssen". Doch sei die Regisseurin eine "Meisterin der wirkungsvollen Setzungen, der dynamischen Szenenwechsel". Das beweise etwa "der Arbeiterchor, ein "immenses Aufgebot an Stimmen, das in eindrucksvollen Tempowechseln lautmalt und Textbrocken staccato spricht". Hier komme der Abend "künstlerisch zu seinem Höhepunkt, entwickelt eine Bannkraft, die er danach nicht mehr erreicht". In "Ein Sturz" gewinne der "böse Katastrophenklamauk" die Oberhand. Die Regisseurin trage dick auf, wenn sich der Tänzer Krzystof Raczkowski als "Wasser" und Kathrin Wehlisch als "Erde" einen "furiosen, in seiner eindeutigen Symbolik allerdings kitschigen Tanz-Lustkampf" lieferten. Danach regiere der "reine Slapstick". Das mache anfangs Spaß, werde dann aber überstrapaziert. Trotz seiner "ästhetischen Unentschiedenheit" erzähle der Abend mit "hoher Energie von den Ausmaßen des Unheils", das der "fortschrittshörige Mensch anzurichten imstande ist".
Katrin Bettina Müller, die anlässlich des Gastspiels beim Berliner Theatertreffen in der taz (11.5.2011) schreibt, weiß schon, dass die Katastrophenstücke der Elfriede Jelinek ihre Fortsetzung finden werden: "Die nächste Katastrophe ist uns sicher, das nächste Stück von Elfriede Jelinek auch. Krise am Weltmarkt, "'Deep Water Horizon', Fukushima: Das menschengemachte Unglück hat immer noch eine Steigerung für uns bereit." Stets füge die Gegenwart den Dramen von Elfiede Jelinek "noch eine Pointe hinzu"; was sie an einem Fall beobachte, wiederhole und steigere sich schon beim nächsten. Obwohl das "nicht edel" sei, folge man doch mit "Schadenfreude" dem, was Elfriede Jelinek über den Menschen erzählt, der sich "mit Schaffensdrang und Fortschrittsglauben zum Beherrscher der Natur aufschwingt". Es sei "vorhersehbar", wie da wieder einer untergeht, scheitere an der "eigenen Überheblichkeit" und "der Selbstbetrug ihm um die Ohren fliegt". Nicht auf Erkenntnis setze die Autorin, nicht auf den Glauben, mit Kritik und Vernunft noch irgendwas ausrichten zu können, "warnende Stimmen, die Ansage des Wassers, das kommen wird und die Erde wegschwemmt", würden "ausgeschaltet, versenkt, in den Müll geschmissen".
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Am 29.10.2010 im Kölner Schauspielhaus, von mir etwas anders
gesehen::
Das Kölner Schauspielhaus betont bei seinen Abonnenten- und Allgemeininformationen unter Hinweis auf entsprechende Jury-Nominierungen immer wieder und insgesamt recht oft seine Erstrangigkeit. Drückt diese Selbstpointierung ein primäres Bedürfnis aus, im Vordergrund zu stehen? Den entsprechenden Anspruch möchte die AA-Inszenierung, auf die Bühne gebracht als in dieser Spielzeit vertragsmäßig einzige Inszenierung der Chefin Karin Beier, nun zum Spielzeitbeginn belegen:
3 zivilisations- / kulturkritische Jelinek-Texte ohne eigentlichen Handlungsstrang:
2 Stunden (Text 1 zu Staudamm Kaprun, Text 2 zu Münchener Busabsturz in U-Bahnloch) + 1 Stunde (Text 3 zu Einsturz des Kölner Stadtarchivs): ein langer Abend.
Dabei Aufbietung aller Mittel: über die ehrwürdige, an diesem Abend große Schauspielkunst hinaus: modernes Tanztheater, eindrucksvolle Körper-Artistik, Gesang (ca. 50-köpfiger Männerchor), gut sich einempfindende live-Musik, hoher technischer Aufwand,so akustisch mit Sprechen auch über Lautsprecher / eingespielten Texten / akustischen Effekten; so die Wassertechnik: die Bühne am Ende knöchelhoch geflutet.
Wertungen:
- Hohe schauspielerische Leistung rechtfertigt den Anspruch
des Hauses (standardsetzend unverändert: Wien, Berlin,
München: 1 ) ............................................ 1,5
- Kunst der synchronisierenden Organisation so vieler Mittel
bestätigt Note ......................................... 1,5
- störende Diskrepanz zwischen Aufwand-Maximum bei doch
mäßiger Textgrundlage: Punktabzug – 0,5 ................ 2,0
- bei textorientiertem Stück reduzierte Text-Verständlichkeit
(im 2. Parkett: ca. 30% nicht verstanden): Punktabzug -0,5 2,5
- populistischer Ansatz mit Stimmungs-Bedienungen (bei
Wutbürgertum und Karnevalsfraktion): sehr wohlwollender
Punktabzug von nur - 0,5 .............................. 3,0
Insgesamt also Note 3.
Dass das Kölner Publikum hierauf mit standing ovations reagiert, als liege die Note bei 1 oder höher, ist in dieser (liebenswerten) Stadt nur Äußerungsform anderer, zugrundeliegender, lokal kräftig akzentuierter Probleme - von Problemen letztlich tiefer und schwerer behebbar als das Loch, in welches das Stadtarchiv stürzte:
der problematischen Tendenz zu kurzem Prozess (statt des schwierigere Abwartens einer langwierigen Rechtssprechung),
sodann einer Neigung zur Überfeierung im Allgemeinen, zur Selbstüberfeierung im Speziellen.
sehr geehrter Herr Gieselmann,
wie kann man auf die Idee kommen, diesen o.g. Bewertungskatalog einer Objektivität zu bescheinigen?
Ist es tatsächlich möglich, ein Theaterstück, eine Inszenierung, einen Text, ein Ensemble, ein Bühnenbild, ein was auch immer, objektiv zu benoten?
Natürlich darf Herr/Frau S.H. einem Theaterabend eine Note geben (nun gut, der Seitenhieb in Richtung der vielen anderen, die anders benoten hätten, hätte man sich sparen können...), aber diese Bewertung objektiv zu finden, ja, das macht mir ein wenig sorgen...
ich müsste mich schon sehr irren, wenn ich des Humoristen Gieselmann Kommentar nicht als Ironie, vielleicht gar als Sarkasmus lesen würde. In diesem Sinne bewerte ich ganz objektiv die Ironiefähigkeit der Hefe mit mangelhaft.
Ganz nebenbei wäre das ein prima Romantitel: "Die Ironiefähigkeit der Hefe". Herr Gieselmann, wie wär's?
Ein unverlangt eingesandter Kassiber (www.wikileaks/jelineklike.at) zu Elfriede Jelinek, "Das Werk. Im Bus. Ein Sturz" im Schauspiel Köln, inszeniert von Karin Beier, zur Aufführung am 3. Dezember 2010
„Da läuft eine Maschine, eine Sprechmaschine, die ich mir als wildes Haustier halte, die läuft im Kopf, ohne Pause, ja, die macht keine Pause, die läuft immer und immer wieder und immer schneller, so dass die Nobelpreisträgerin gar nicht mehr mitkommt beim Aufschreiben der Wörter, die kommen und kommen, ohne anzuklopfen. Und das Denken kommt schon gar nicht mehr angelaufen, es bleibt schön im Stall und sieht von dort aus diesem ständigen Reden etwas gelangweilt hinterher, dieser immer weiter wuchernden Textfläche, die aus diesem ständigen Sprechen da oben im Kopf kommt, das natürlich ein ununterbrochenes Mitmirselbersprechen ist, das irgendwie raus muss. Ein Denken, das ein Atemholen wäre, gibt es ja schon lange nicht mehr. Wo denn? Wo ist es denn hin? Ist es etwa ins Theater gegangen, das Denken? Ist es nach Köln gezogen, wo der alte Dom steht? Es ist ja gut gemeint, immer ist alles gut gemeint, die Untergrundbahn unter dem Stadtarchiv war auch gut gemeint, aber der Erde hat es wohl nicht so gefallen, und jetzt reicht es uns, der Maschine und mir, wir wollen den Finanzhaien an den Kragen, den Haiderlingen in Österreich, in München, in Köln und allüberall, wir wollen ihnen den Hemdkragen öffnen, um ihren geldgeilen Hals zu füllen, den sie nicht vollkriegen, bis gar nichts mehr hineingeht, und unsere Wörter da hineinspucken, wir spucken und spucken und rotzen und kotzen, wir übergeben uns, wir übergeben ihnen, was wir in uns haben, wir übergeben ihnen, was sie an uns haben, wir übergehen ihnen alles und es zeigt sich, es ist leider nicht mehr viel, denn sie haben uns alles geraubt, unsere Geschichte, unseren Witz und unsere Würde. Meine Textflächen werden immer glatter und glatter, so spiegelglatt, dass wir alle drauf ausrutschen und herumrutschen können, um uns zu suhlen in unserer Jämmerlichkeit.
Und dafür beten sie mich ja an, die heiteren Rezensenten von FAZ und Feuilleton, die smarten Theaterabonnenten und die Theaterintendanten, denen nichts mehr einfällt. Ihnen fällt nichts mehr ein, aber statt zu schweigen, machen sie alles, diese Prinzen und Prinzessinnen der Staatskunst. Ja, schön, sagt die clevere Frau Beier, die mitten im rheinischen Plattmachfrohsinn ein Bundesligaplatzeinstheater betreibt. Sie kann froh sein und die Kölner sind auch froh, wo sie es in der echten Bundesliga schon lange nicht mehr schaffen, ist das Theater ihr ganzer Stolz und Frohsinn. Aber der Frohsinn, den Frau Beier auf die Bühne lässt, ist so schön in sich selbst verliebt wie die Kölner es gern mögen, ist so schön wild wie ein wärmendes Feuer, wie es neuerdings wieder in den lieblichen Heimchen lodert.
Und die Zuschauer bekommen das, wofür sie bezahlt haben. Sie sind gekommen, um sich zu feiern. Sie dürfen anderen beim Spielen und Plantschen zusehen, nur in ihrem Kopf darf sich nichts abspielen, sie wollen nicht Nachdenken, nicht Innehalten, nicht Erschrecken, nicht „Aufhören“ schreien, sie wollen nichts verstehen, sie wollen nirgendwo genau hingucken, sie wollen nur stöhnen und sehen, wie die jungen Schauspielerkörper sich suhlen und plantschen in ihrem schmutzigen Theaterwasser und dann wollen sie klatschen und sich wohl fühlen und fühlen, wie die derangierten Schauspielerinnen auf der Bühne ihr Gewissen für sie auswringen, diese schönen Reinigungskräfte. Sie klatschen und klatschen und wollen sich feiern dafür, dass ihr Theater ihnen nicht mehr abverlangt, als den umgedrehten Frohsinn mit Chor und Wasserzauber und Geist in der Tube. Sie lassen sich so gern in jenen „Ist ja alles egal“-Taumel versetzen und beklatschen ihr Theater, an dem sie alle so schön mitarbeiten , die Intendantin, die Schauspieler und das Publikum, das sich in seiner Spießigkeit suhlt, sie sind stolz wie die Drachentöter, dass sie alles ertragen haben und beklatschen frenetisch und brutal die restlose Zerstörung einer Kunstform, einer Kunstform, die einmal Theater hieß und die es jetzt nicht mehr gibt, weil sie keiner mehr haben will“.
Am 2. Oktober zeigte das Hamburger Deutsche Schauspielhaus stolz eine Inszenierung seiner zukünftigen Intendantin Karin Beier, siegesgewiß ob der vielfältigen und hochkarätigen Auszeichnungen.
3 1/2 eher zähe Stunden einer Komödie, die nicht zünden wollte - was in Teilen auch am bloß noch mittelmäßigen Jelinek-Text gelegen haben könnte. Den größten Lacher erfuhr das kreative Schimpfwort "Du Sing-Sau", tatsächlich ein Höhepunkt des ärgerlichen Abends.
Ärgerlich, ja, zornerregend gar, weil sich - vielleicht ganz in einer Mode der Zeit - ein (inszenatorisches) Plagiat an das andere zu reihen schien. Phasenweise und immer wieder glaubte man sich in einem Stemann-Stück (und im Unterberger/Casanova-Opern-Tingeltangel eines John Malkovich), alles hemmungslos kopiert bis hin zum Einsatz von MaskenFarbenMegaphonen und Männern in Frauenkleidern.
Diese ursprüngliche Hemmungslosigkeit des bösen Kopierens stand allerdings in einem seltsamen Kontrast zur Gehemmtheit der halbherzigen Regie selbst: von allem nur ein viel zu harmloses Bißchen, wenige Masken, wenig Farbe, wenig Megaphon, wenig Presslufthammer, kein wirklicher Exzess, keine wirkliche Auflösung der Welt, kein wirkliches beunruhigendes Abrutschen in den nassen, klaffenden Abgrund der Welt, den Jelinek uns endlos zu eröffnen suchte.
Mag sein, daß kindische Wasserspiele im kleinen Köln auf kleiner Bühne ein kleines Publikum zu beeindrucken vermögen - hier in Hamburg versickerte das ganze lauthlase Geplantsche weitgehend undramatisch.
Rührend nur der präzis wilde Arbeiterchor mit seinen ebenso präzisen Musikanten und, trotz seiner Weihnachtsmärchen- und Kinderballett-Anmutung, das gelbe, bloße Teufelchen.
Mein verzweifelter Blick in die Zukunft: Unter Beibehaltung ihrer zweifelhaften Methoden wird eine Intendantin, (...), einer aufgeklärten Großstadt nicht gerecht werden können.
In diesem Sinne, vielleicht: Baumbauer back!
Die Erde tanzt mit dem Wasser einen Begattungsausdruckstanz mit tötlichem Ausgang, choreografiert in den achziger Jahren.Wem würde
man das durchgehen lassen?
Aber ein bis in die kleinste Kleinigkeit organisiertes Chaos, ein aus den Fugen geraten,Auseinanderbrechen,Abstürzen,das nicht auf der Verantwortung der Spieler aufbaut, sondern einzig dem Kontrollbedürfnis der Regie gehorcht, kann schwerlich eine echte Lebendigkeit und daher auch keine Gefährlichkeit enthalten.
Bestimmte Dinge kann man nicht bluffen. Die kann man nicht herstellen, nur tuen.