Puz/zle - Sidi Larbi Cherkaouis großartiger Abend beim 66. Festival d'Avignon
Ewige Seelenlandschaft
von Regine Müller
Avignon, 10. Juli 2012. Sidi Larbi Cherkaoui hat es nicht gern, wenn man ihn festlegt auf den Multikulti-Verschmelzungs-Effekt, dem man seiner Arbeit gemeinhin attestiert. Der in Antwerpen lebende Choreograph ist Sohn eines marokkanischen Muslims und einer belgischen Katholikin und definiert Kunst generell als einen Prozess, der gar nicht anders entstehen kann als durch Vermischung und Verdichtung von kultureller und religiöser Vielfalt. Anders gesagt: Multikulti ist für Sidi Larbi Cherkaoui die Bedingung der Möglichkeit von Kunst überhaupt.
Steine leicht wie Styropor
In Avignon hat er nun für seine neueste Recherche einen geradezu überwältigenden Ort aufgesucht: Der Steinbruch von Boulbon bildet die erhabene Kulisse für Cherkaouis Versuch, die Steine zum Reden und die Menschen versteinern zu lassen.
Zwölf quadratische Platten, die aussehen, wie aus Stein gehauen, augenscheinlich aber leicht wie Styropor sind, bleiben ständig in Bewegung. Elf Tänzer ordnen sie abwechselnd zum Stelen-Wald, zur Treppe, zum Halbkreis, zum Brunnenschacht, zum Turm, kurzum, zu einem Puzzle archaischer Formationen.
Zu Beginn stehen die Platten hintereinander geschichtet, ein leichtes Dröhnen liegt unter dem Zikadenlärm, schließlich startet ein Video mit einer Kamerafahrt durch weitgehend leere Museumsräume. Die Kamera fliegt geradeaus von Raum zu Raum, durch immer gleiche Türen, bevor man merkt, dass es auch die immer gleichen zwei Räume sind, die durchmessen werden.
Arabischer Ziergesang, japanische Trommelrituale
Dann kommen die Tänzer und rennen gegen die nun bilderlose Wand, prallen ab, stehen auf, nehmen erneut Anlauf. Sie tragen zunächst schwarze Pumphosen, im Laufe des Abends nähern sich die Kostüme immer mehr der Gegenwart bis hin zu Alltagskleidern.
Hoch oben auf einem Absatz des Steinbruchs kommen erstmals die Musiker zum Einsatz: Das korsische Männer-Gesangssextett A Filetta stimmt urtümliche, manchmal zum Orgelton gefrierende Gesänge an, die libanesische Sängerin Fadia Tomb El-Hage lässt darüber ihren leuchtenden, zwischen Orient und Okzident schillernden Mezzo-Sopran weit ausschwingen.
Die ungemein suggestiven Klänge, die dem ganzen Abend eine enorme Sogkraft geben wirken fremd und zugleich vertraut aus alter, ja uralter Zeit. Einer Zeit vor der Trennung in Religionen, Nationalitäten und Sprachen. Das gilt auch für die Flöten- und Schlagzeug- und Gesangs-Soli von Kazunari Abe. Faszinierend, wie korsische Hirtengesänge übergehen in orakelnden arabischen Ziergesang und wie japanischen Trommelrituale in alten Arbeitsgesängen münden. Fadia Tomb El-Hage balanciert stilistisch zwischen Hildegard von Bingen, barocken Schlenkern, gregorianischer Totenmesse und arabischen Litaneien. Alles scheint aus der gleichen musikalischen Ursuppe heraus zu köcheln.
Endlosschleife menschlicher Konflikte
Die Tänzer arbeiten sich derweil virtuos und mitunter mit artistischen Einlagen an der eigenen Körperlichkeit und Entfremdungsprozessen ab. Mal entwickeln einzelne Körperteile ein quälendes Eigenleben, dann wieder erstarren die Tänzer zu lebenden Bildern und Skulpturen, an denen sich gegen Ende – einer der wenigen ironisch heiteren Momente – ein Steinmetz zu schaffen macht.
Wie lebendig ist tatsächlich der tote Stein, und wie nah kommt der Mensch der Versteinerung im Angesicht der Vergänglichkeit? Was erzählen die stummen Steine? Haben sie ein Gedächtnis des Seins? Und wie sehr gleichen die immer gleichen menschlichen Konflikte und Schicksale letztlich dann doch der starren Materie?
Das sind die Fragen, die Cherkauoi wie in einer Endlosschleife seine Tänzer immer wieder durchexerzieren lässt. Und sie in einem langen Schlusscrescendo – das allerdings gewisse Längen hat – schließlich ins Grab sinken lässt.
Cherkaoui und seiner großartigen eastman-Truppe gelingen zwingende Bilder, die bei aller Beweglichkeit den Gestus des ruhigen Rituals nie verlieren. Ein starker Abend, der auf wundersame Weise Archaisches mit der Gegenwart zur Zeitlosigkeit kurz schließt.
Puz/zle (UA)
Choreographie: Sidi Larbi Charkaoui, Bühne: Filip Peeters, Sidi Larbi Cherkaoui, Kostüme: Miharu Toriyama, Musik: Jean-Claude Acquaviva, Kazunari Abe, Olga Wojciechowska, Bruno Coulais, Tavagna, Volksmusik aus Korsika, Japan und dem Mittleren Osten, Licht: Adam Carrée, Video: Paul Van Caudenberg.
Mit: Navala Chaudhari, Leif Federico Firnhaber, Damien Fournier, Ben Fury, Louise Michel Jackson, Kazutomi Kozuki, Sang-Hun Lee, Valgerdur Rúnarsdóttir, Helder Seabra, Elie Tass, Michael Watts. Musiker: A Filetta (Jean-Claude Acquaviva, Ceccè Acquaviva, Jean-Claude Geronimi, Paul Giansily, Jean Sucurani, Maxime Vuillamier), Kazunari Abe, Fadia Tomb El-Hage.
www.festival-avignon.com
Mehr über das 66. Festival d'Avignon: Jérôme Bel und Stéphane Braunschweig widmeten sich in ihren Produktionen Disabled Theater und Six Personnages en quête d'auteur der Frage, was eigentlich eine Theaterfigur ist (Text hier). Der Film- und Theaterregisseur Christophe Honoré dachte in Nouveau Roman über das Schreiben nach. Noch mehr über das Festival d'Avignon gibt es im nachtkritik-Lexikon.
"Es sind starke Bilder", die "Fragen nach der postmodernen Identität" stellten, schreibt Annette Stiekele für die Welt (8.8.2012) in ihrem Überblick zum diesjährigen Festival d'Avignon über "Puz/zle". Die "virtuos von einem Solisten-Ensemble in Fels getanzte Menschheitsgeschichte" bewege sich im "scheinbar tiefschürfenden Assoziationsmeer zwischen antikem Mythos und modernem Graffiti", wo man allerdings "vergeblich nach einem Anker" suche, sodass sich die Frage stelle, "was hier in Bombast noch Sinnhaftigkeit ist, was Simulation. Der Verdacht bleibt, konfektionierten Blockbuster-Tanz vorgeführt zu bekommen, das manchmal allzu offensichtlich überwältigen will."
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