Verlängerung des Elends

von Andreas Schnell

Bremen, 29. September 2012. Es gab zwiespältige Reaktionen. Der ältere Herr neben einem murmelte geschätzte eineinhalb Stunden immer wieder Dinge wie "Das ist doch idiotisch" und "Was für ein Quatsch" in sich hinein, um dann mitsamt Begleitung den Saal zu verlassen. Und es gab weitere Abwanderungen im Verlauf des Abends, der ja immerhin die erste Schauspielpremiere der Intendanz von Michael Börgerding am Theater Bremen war. Am Ende war der Applaus dennoch groß. Und die Frühverlasser hatten was verpasst. Sie hätten allerdings noch eine geschlagene weitere Stunde ausharren müssen, bis zum fulminanten Finale des "Lebens auf der Praça Roosevelt", das brutalstmöglich das Ende des jungen Mannes schildert, der bis dahin in Abwesenheit das Geschehen bestimmt. 

Die große Sinnfrage

Bis es soweit ist, muss man durch einiges durch. Dea Lohers Stück erzählt die Geschichten einer Reihe von Personen, deren Leben um jenen Platz in Sao Paolo kreist, der dem Stück seinen Namen gibt. Lauter mitleiderregende Existenzen, die angesichts der überwiegenden Schäbigkeit ihres Alltags die Sinnfrage wälzen: Das kann es doch nun wirklich nicht gewesen sein.

Für einige ist es allerdings ohnehin zu spät. Für jenen junge Mann, der schon tot ist, als wir ihm das erste Mal begegnen. Für Concha, deren Chef Vito ihr die Entlassung in Aussicht stellt. Dabei arbeitet sie doch seit Jahrzehnten als Sekretärin in der Firma, die, wie wir später erfahren, Waffen herstellt. Was den jungen Unternehmer zu der pikanten Rechnung verführt, die Opfer, die eine Komplettentlassung seiner Belegschaft verursachen könnte, gegen die Opfer der "Perforation durch Handfeuerwaffen" aufzurechnen. Der Kündigung kommt sie indes zuvor, um noch etwas vom Leben zu haben. Das dauert dann allerdings auch nicht mehr lange genug, um noch etwas damit anzustellen. Der Krebs rafft sie dahin.

Fähigkeit, sich durchzuschlagen

Es ist schon trist, was da im heruntergekommenen Ambiente zu besichtigen ist. Aber diese Menschen geben nicht auf. Wie jener Mann mit rutschenden Hosen, der nichts besitzt außer einem Koffer, einem Anzug, einem Mobiltelefon und dem, was er auf dem Leib trägt – nur eine bauernschlaue Fähigkeit, sich doch immer wieder durchzuschlagen. Kleinbürger, Proletarier, Lumpenbohemiens – diese und der Unternehmenserbe stellen sich uns ausgiebig vor, wie schon angedeutet über zweieinhalb Stunden pausenloser Länge. Zwar haben die einzelnen Figuren alle ihre je eigenen Reize, aber manches verlängert das Elend nur. Zumal es recht wenig an neuen Erkenntnissen über die systemische und spezielle Armut in einer Schwellenlandmetropole mitzuteilen gibt.

das-leben-auf-der-praa-roosevelt011 560 joerg landsberg hDas Leben auf der Praca Roosevelt © Jörg Landsberg

Alize Zandwijks Inszenierung hätten ein paar gründliche Aufräumarbeiten gut getan. Denn es gibt sie ja, diese tollen Momente. Wie sich Vito und die Bingo-Zahlen-Ansagerin kennen lernen, überhaupt die liebenswerte Concha, die bemerkt, dass der Elefantenmensch, der zielstrebig sämtliche Getränke der Barbesucher trinkt, nicht ohne vorher höflich zu fragen, die Hände eines Pianisten habe, die Transsexuelle Aurora, die wegen ihrer Katzenallergie vorschlägt, Concha möge doch ihre Katzen gegen Schildkröten – haarlos und stumm – eintauschen. Was uns Zandwijk ganz spartanisch vorsetzt, trostlose Monaden, die nur zögerlich zueinander finden oder irgendwo herum stehen. Nicht zu vergessen: die wunderbare Musik von Beppe Costa mit verschiedenen Stimmen und Saiteninstrumenten.

Chorische Erzählung vom Tod

Aber es schleppt sich eben doch oft dahin. Das mag wohl auch ein wenig aufs Konto des am Premierenabend recht heterogen aufspielenden Ensembles gehen, zu dem zwei Gäste vom Ro Theater Rotterdam gehören, mit Siegfried W. Maschek, Susanne Schrader und Martin Baum bewährte Kräfte des Bremer Schauspiels, desweiteren eine Reihe Neuzugänge. Das muss gewiss auch zusammenwachsen.

Was allerdings bleibt, ist der Eindruck einer der ganzen Inszenierung unterliegenden Zähigkeit, die sich zwischendurch nur eher selten und erst am Ende ganz verflüchtigt, bei dieser chorischen Erzählung vom Tod des Polizistensohns, dem nach und nach Zunge, Augen, Gemächt, Hände und Füße abgehackt werden: "Und er lebt immer noch." Das hat schon eine enorme Wucht. Insofern rechtfertigt der Abend zwiespältige Reaktionen.


Das Leben auf der Praça Roosevelt
von Dea Loher
Regie: Alize Zandwijk, Ausstattung: Thomas Rupert, Musik: Beppe Costa, Dramaturgie: Benjamin von Blomberg.
Mit: Martin Baum, Susanne Schrader, Robin Sondermann, Fania Sorel, Matthieu Svetchine, Nadine Geyersbach, Leila Abdullah, Siegfried W. Maschek, Beppe Costa.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause

www.theater-bremen.de

Mehr Inszenierungen von Alize Zandwijk: Die Leiterin des Rotterdamer Ro Theater hat unter der Intendanz von Ulrich Khuon am Thalia Theater Hamburg und am Deutschen Theater Berlin inszeniert – wir besprachen im September 2008 Happiness und im April 2012 Joseph und seine Brüder.

Kritikenrundschau

"Dea Lohers atemnehmendes Stück, das auch acht Jahre nach der Uraufführung jede neue Inszenierung verdient", diesen "furiosen Text", gehe Alize Zandwijk zunächst vielleicht ein wenig schwergängig an, urteilt Michael Laages im Deutschlandfunk (1.10.2012), und zuweilen gelinge ihr auch nicht wirklich der Sprung vom erzählerischen Ton in die szenische Vision. "Dafür zieht sie das Stück mit einiger Energie weg vom Lokalkolorit; Sao Paulo ist hier überall." Und erst so setze sich auch die fundamentale Humanität durch in den Passionsgeschichten, die Loher einst auf der realen Praca Roosevelt in Sao Paulo sammelte – "hier jammert niemand, der auch nur ansatzweise satt und reich genug an Leben und Glück wäre, hier werden Scheitern und Aufbegehren im Elend seelenloser Großstadtwüste zum mitreißenden, zu Tränen rührenden Ereignis."

"Unaufgeregt und schlicht" bringe Zandwijk die berührenden Geschichten der Protagonisten auf die Bühne, findet Margit Ekholt auf Radio Bremen. Das Stück biete genug Substanz und müsse nicht künstlich aufgemotzt werden. "Es behandelt die Sehnsucht der Menschen nach einem anderen Leben, und es fragt nach der Schuld, die ein Mensch ungewollt auf sich lädt. Themen, die die Menschen nicht nur in Sao Paulo bewegen, sondern auch in Rotterdam, in Bremen und überall."

"Es ist eine leise Tragödie über die Angst des Menschen vor der eigenen Freiheit. Davor, das bessere Leben zu verpassen, die entscheidende Abzweigung auf dem Weg nicht zu erkennen", schreibt Johannes Bruggaier in der Kreiszeitung Syke (1.10.2012). Derart leise inszeniere Alize Zandwijk diese Tragödie, dass man auch als Zuschauer jederzeit die entscheidende Abzweigung zu verpassen drohe: "den Moment, in dem die Angst in Hoffnung umschlägt und Hoffnung wieder in Angst". Es sei deshalb ein fordernder Abend, nichts für Ungeduldige. "Es ist auch ein riskanter Abend, weil Dea Lohers Drang zum Epischen in eine Abfolge von Monologen mündet, was immer die Gefahr einer Erstarrung in sich birgt." Das aber, und darin bestehe die eigentliche Botschaft zum Spielzeitstart, sei aufgrund großartiger Darstellerleistungen nicht zu befürchten. "So begeht das Bremer Schauspiel in dieser Kooperation mit dem 'Ro Theater' einen tragischen, einen stillen, schmerzvollen Start in die Saison. Ein gewagter Beginn. Aber ein gelungener."

"Etwas durchwachsen, aber keineswegs uninteressant" findet Rainer Mammen im Weserkurier (1.10.2012) den Abend. Sowohl Autorin wie Regisseurin schenkten sich bei der Darstellung brasilianischer Schicksale jede Sentimentalität. Allerdings "dehnt oder wiederholt sich die Handlung, setzt zuweilen völlig aus und führt so beim Zuschauer zu gewissen Ermüdungserscheinungen." Solche Momente rissen Mammen zufolge "Löcher in unsere Aufmerksamkeit".

Das pralle und erschreckende Leben auf der Praca Roosevelt in Sao Paulo werde in Zandwijks Inszenierung zum Symbol für menschliche Hoffnung; "zum verzweifelten Bild also für das letzte, was der Mensch zu verlieren hat, überall auf dem Globus", schreibt Stefan Grund in der Welt (4.10.2012). Herausragend aus dem insgesamt überzeugenden Ensemble sei die Gastschauspielerin Fania Sorel – sie spiele prototypisch, "was Regisseurin Zandwijk zum Glück verstanden hat: Die Kunst der Loher-Inszenierung besteht darin, die durch ihre literarische Qualität auf der Bühne immer leicht unwahrscheinlichen Figuren zu erden." Dann wirkten Fragen wie diese: "Geht es Ihnen auch manchmal so, dass Sie denken, dieses Ihr Leben hier ist nicht Ihr richtiges Leben? Als ob das Leben, das für Sie bestimmt war, woanders stattfindet?" plötzlich nicht mehr, als hätte Loher sie aus einem Philosophie-Seminar an der Uni entlehnt, sondern erwischten auch den Zuschauer kalt. Die Verzweiflung sei immer da, die Hoffnung aber ende, sobald sie sich erfülle. "Am Bremer Theater hat sie das am Auftaktwochenende der neuen Intendanz auf das Schönste getan."

"Die genauen Beobachtungen, die überraschenden Details und kleinen poetischen Überhöhungen sind Lohers Stärke", schreibt Anke Dürr in der Frankfurter Rundschau (4.10.2012), "und Zandwijk hat wie ihre Schauspieler (allen voran: Fania Sorel als Concha) ein gutes Gespür für den Witz in der Verzweiflung." Zweieinhalb pausenlose Stunden lang halte die Inszenierung die Balance zwischen Tristesse und Optimismus.

Im Rahmen seines Intendanzneustart-Berichts für die Süddeutsche Zeitung (6.10.2012) liest Till Briegleb Dea Lohers "Sittenbild eines bankrotten Gesellschaftssystems" als "ein symbolisches Requiem auf die lokale Politik, die aus Bequemlichkeit beschließt, auch das Theater müsse wie ein Unternehmen funktionieren" (angesprochen ist hier die Vorgängerintendanz des "neoliberalen Aufräum-Intendanten Hans-Joachim Frey"). Ästhetisch sei dieser Abend "ein Versprechen, an die erfolgreiche Zeit der Intendanz von Ulrich Khuon am Hamburger Thalia-Theater anzuknüpfen", wo der Neu-Bremer-Intendant Michael Börgerding lange Chefdramaturg war und Alize Zandwijk regelmäßig inszenierte. Die Inszenierung finde "mit einem überzeugenden Ensemble den goldenen Weg zwischen Rekonstruktionskitsch und poetischer Überzeichnung", und "Dea Lohers Figuren zeigen konkretes Leid in berührender Form, vermeiden aber den falschen Ton des belehrenden Kunstgewerbes, das so tut, als könne es ferne Wirklichkeiten auf der Bühne getreu herstellen."

Kommentare  
Praça Roosevelt, Bremen: Aufbruchstimmung
Andreas Schnell hat aus meiner Sicht den Abend sehr gut auf den Punkt gebracht. Auf jeden Fall ist am Bremer Theater wieder eine Aufbruchstimmung zu verspüren, und das war auch dringend nötig. Die wunderbare Fania Sorel ragt aus einem guten Ensemble heraus.
Praça Roosevelt, Bremen: innere Wahrheit des Miteinanders
Gute Frage. Worum geht es hier eigentlich? Und warum heisst diese Straße Praca Roosevelt? Wer war nochmal Roosevelt? Präsident der USA, von 1933 - 1945. Bekämpfte die Folgen der Weltwirtschaftskrise von 1929 mit dem sogenannten "New Deal", einem Programm zugunsten größerer sozialer Verantwortung (Hilfsmaßnahmen für die Arbeitslosen, Erhöhung der Einkommenssteuer um 50 %, Finanzierung lokaler Hilfsprogramme durch Obligationen). Roosevelt bezog sich auf die revolutionären Werte der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von Thomas Jefferson gegenüber den historischen wie aktuellen imperialistischen Bestrebungen der USA, welche unter dem Deckmantel der "Demokratie" von der Verschmelzung von unternehmerischer und staatlicher Macht handeln: Privatisierung bzw. Outsourcing öffentlicher Dienstleistungen, Korruption und Lobbyismus, Waffengeschäfte. Alles steht im Dienst des Credo des Finanzkapitals. Und wie steht es um die Menschen?

Die Welt, welche hier von Dea Loher gezeichnet wird, spiegelt wider, dass äusserliche Beziehungen zwischen Menschen nicht ohne einen Sinn oder eine innere Wahrheit des Miteinanders auskommen. Oder auch: "Vom organisierten Geld regiert zu werden, ist genauso schlimm, wie vom organisierten Verbrechen regiert zu werden." (Roosevelt) Ohne die erlösende Musik, ohne die groteske Komik in der Spielweise wäre die Darstellung der äusseren wie inneren Zerstörungen der Figuren kaum erträglich. Am Ende passt es wie die Faust aufs Auge: Im chorisch gesprochenen Text vom Tod des Polizistensohns heisst es u.a., dass die Passanten an dessen zerstückeltem Körper achtlos vorübergehen, denn "sie wollen nach Hause". Ebenso ergeht es möglicherweise auch einigen Zuschauern nach zweieinhalb Stunden Theater ohne Pause. Doch verlässt man den Theaterraum, verlässt man nicht die auf der Bühne dargestellte Realität. Das Elend geht weiter. Gehen wir als Zuschauer (sic!) auch weiterhin achtlos daran vorbei? Vor den Modegeschäften auf dem Ostertorsteinweg lagen in dieser Nach-dem-Theater-Nacht zwei Obdachlose unter ihren Decken auf dem kalten Stein.
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