Künstlerische Weltrettung

von Andreas Klaeui

Avignon, 6. Juli 2013. Kunst ist das Gegenteil von gut gemeint. Wenn die Gottfried-Benn'sche Wahrheit einer Illustration bedarf: Dieser Abend ist hervorragend dazu geeignet. In Peter Handkes "Dramatischem Gedicht", einer weitschweifigen, mehr epischen als tatsächlich poetischen Parabel von 1982, geht es um zwei Brüder: einen Schriftsteller-Heimkehrer aus der Fremde (den Regisseur Stanislas Nordey selber spielt) und einen im Dorf ansässig gebliebenen Handwerker (Richard Sammut), zwischen ihnen steht vermittelnd die Schwester mit dem weisen Namen Sophie (Emmanuelle Béart), sie haben ein Elternhaus aufzuteilen.

Diffuse Naturmystik

Es geht also um Heimat, aber auch um Zukunft, es geht um Stadt und Land, um heruntergekommene Zeiten, "Sklaven des Realismus" und die Utopie der Kunst, welche allein den gefrässigen Atem des Todes aufzuhalten vermag. Es geht um verlorene Gegenwart und künstlerische Weltrettung. Am Ende tritt eine Figur mit dem außerirdischen Namen Nova auf (Jeanne Balibar) und hält einen vierzigminütigen Vortrag, dass eigentlich nur die Künstler die Welt zu heilen vermögen.

"Über die Dörfer" ist ein schwieriger Text. Handke verbindet darin klassenkämpferische Hochgestimmtheit (in der die Ausgebeuteten und die Erniedrigten das Salz der Erde darstellen) mit einer diffusen Naturmystik, Grundstückskredite mit Heilsversprechen, das Erhabene mit dem Gewöhnlichen und das Triviale mit dem Pathetischen.

Im Namen der Kunst

Stanislas Nordey ist nun allerdings einer der kulturpolitisch engagiertesten Regisseure Frankreichs. Mit diesem Stück, aber auch indem er darin persönlich auf der Bühne auftritt, nur schon mit der Wahl Handkes als Autor zeigt er Haltung; Handke, ist dazu zu sagen, kennen die Franzosen vor allem als diesen proserbischen Österreicher, dessen "Spiel vom Fragen" 2006 kurzerhand vom Spielplan der Comédie-Française verschwand, nachdem er zum Begräbnis von Slobodan Milošević gefahren war. Nordey hat in der damaligen Debatte – im Namen der Kunst – für ihn Stellung genommen.

parlesvillages 560 christopherainauddelage uStars in der Pathos-Manege: Emmanuelle Béart und Stanislas Nordey mit Kind.
© Christophe Rainaud de Lage

Die Welt geht zu Schanden; die Kunst hat kein Ansehen mehr; man darf sie nicht den Finanzmenschen überlassen – daran haben eingangs der Premiere, in dem kleinen politischen Zeremoniell, das jeweils die Festival-Eröffnung begleitet, auch wieder ein offizieller Gewerkschaftsvertreter und ein inoffizieller "Intermittent" aus dem Publikum erinnert, und sie haben die gegenwärtige Situation wiederholter Budget-Kürzungen mit großen Versprechen aus der Vergangenheit konterkariert und mit politischen Willensträgern à la André Malraux. Nordeys Textwahl, mit dem ganzen Gewicht der Hauptinszenierung des "Artiste associé" im Papstpalast, steht wie ein Fanal auf der Affiche.

Statuenhafte Gesten und Sprachzeremoniell

Es funktioniert als kulturpolitisches Statement; aber nicht als Kunstwerk. Handkes Textblöcke, es sind ja lauter Monologe, verlieren sich vor der grandiosen Kulisse des Papstpalasts, im lichten Provencehimmel, selbst im Gezwitscher des Schwalbenschwarms, der wild stakkatierend noch eine Unterkunft sucht. Der Text erschöpft sich (trotz der sensiblen Übertragung von Georges-Arthur Goldschmidt) in statuenhaften Gesten und in einem Sprachzeremoniell, das jedes Wort ehrfürchtig zelebriert und mit einem eifrigen Kopfnicken begleitet. Die Distanz wird größer und größer, das gut gemeinte Statement desavouiert sich selber. Daran vermögen auch die Star-Auftritte einer giftigen Emmanuelle Béart und einer manierierten Jeanne Balibar nichts zu ändern. Pathos ist der Feind der Kunst. Auch dies ist wohl eine Wahrheit.
 
Par les villages
von Peter Handke (französisch von Georges-Arthur Goldschmidt)
Regie: Stanislas Nordey, Bühne: Emmanuel Clolus, Licht: Stéphanie Daniel, Musik: Olivier Mellano, Dramaturgie: Claire Ingrid Cottanceau.
Mit: Jeanne Balibar, Emmanuelle Béart, Raoul Fernandez, Moanda Daddy Kamono, Olivier Mellano, Annie Mercier, Stanislas Nordey, Véronique Nordey, Richard Sammut, Laurent Sauvage und den Kindern Nora Baudriller und Zaccharie Dor.
Dauer: 4 Stunden 30 Minuten, eine Pause.

www.festival-avignon.com

Der andere Artiste associé des Festivals ist der kongolesische Autor, Schauspieler und Regisseur Dieudonné Nianguna, der in Avignon seinen apokalyptischen Theatermarathon Shéda zeigt.

Alles über das Festival d'Avignon auf nachtkritik.de im entsprechenden Lexikoneintrag.

 

Kritikenrundschau

Mit Stanislas Nordey habe der "sozialrollenscheue" Peter Handke einen neuen Interpreten gefunden, schreibt Joseph Hanimann in der Süddeutschen Zeitung (10.7.2013). "Mit scharf gemeißeltem Sprechtheater entlockt er Handkes Text einen Hymnus auf jene, die man einst 'Volk' nannte: die materiell Ausgebeuteten und theoretisch Ausgedeuteten, die mehr noch als den spärlichen Besitz ihre Geheimnisse gegen die Obrigkeit der Meinungs- und Verhaltensplünderer verteidigen". In der eleganten Übersetzung von Georges-Arthur Goldschmidt breche der Abend Handkes Dichtung "aufs klare Statement einer Generation herunter, die politisch zu handeln, aber poetisch weiterzuträumen entschlossen ist". Nordey blähe das Stück mit den langen Monologen "zum politischen Oratorium im Binnenecho zwischen Baustelle und Friedhofsruhe" auf. "Die blauen Wohncontainer, von denen herab die Wanderarbeiter gerade noch ihre zerzausten Ich-Arien sangen, werden zur kahlen Wand zusammengefahren, hinter der die untoten Ahnen hausen: ein grabloses Nirgendwo, in dem selbst die Fichten und Zypressen zu Fossilien auf dem Gemäuer erstarrt sind." Dieser Auftakt in Avignon wecke Erwartungen, wie schon lange nicht mehr.

"Nordey meißelt Handkes Stück steif in den grauen Stein im offenen Hofs im Papstpalast", schreibt Johannes Wetzel auf Welt-online (10.7.2013). Mit Stanislas Nordey findet Handkes 'Dramatisches Gedicht' aus Sicht dieses Kritikers einen Regisseur, "dem das Wort genügt und der von sich sagt, er mache Theater für Leser von Lyrik. Nordey lese Handke als modernen Aischylos. Für seine Darstellung des Arbeiters Hans erhalte Nordey einmal Szenenapplaus. Mit der Intensität seiner Auftritte macht Nordey seine Figur Wetzels Eindruck zufolge "zur Hauptperson des Stücks. Er blickt tief in die Augen jedes einzelnen Zuschauers, spricht im scharfen Ton des Missionars, zum Publikum gewandt, unbeweglich, die Rede mit kalkulierten, aus einer zurückliegenden Erfahrung mit Taubstummen stammenden Gestik."

Stanilas Nordey gelingt aus Sicht von Eberhard Spreng in der Sendung "Kultur heute" vom Deutschlandfunk (7.7.2013) ein kleines Wunder. Peter Handkes sperriges Stück, "das Uraufführungskritiker 1982 ein 'gemütliches Wirtshaus zum Tiefsinn' nannten und dem 'aufgeblähte Sätze eines geschwätzigen Predigers' vorhielten, klingt hier viel weniger pathetisch abgedreht und kunstversessen überhöht." Auch als Schauspieler kann Nordey den Kritiker überzeugen, der auch Emmanuelle Béart lobend hervorhebt.

"Am Festival d'Avignon macht Frankreich heuer wieder eine schlechte Figur", schreibt Marc Zitzmann in einem streckenweise recht missmutigen Überblicksartikel in der Neuen Zürcher Zeitung (20.7.2013) und geißelt dann einzelne Produktionen, u.a. "Über die Dörfer" von Peter Handke, das Stanislas Nordey, "ein nicht nur hierzulande überschätzter Regisseur", präsentiere: "Eine weder dramatische noch poetische, sondern weidlich dröge Produktion". Ein "lust- und einfallsloser Auftakt" sei "emblematisch für die ganze (vierstündige!) Aufführung, die den lyrischen, volkstümlich-phantastischen und durchaus auch subversiven Gehalt des Textes zu einem zähen, faden Brei einkocht."

Kommentare  
Par les villages, Avignon: Hölderlin lesen
DOERFER ist Handkes reichhaltigstes Stueck
da steckt alles von ihm drin. Dies die Meinung des Uebersetzers des Stueckes und Handke Spezialisten Michael Roloff.
Herr Andreas Klaeui sollte vieleicht mal seien Hoelderlin wieder lesen und dann meine sehr scharfe Uebersetzung, vielleicht gefaellts ihm dann besser.

http://handke-drama.blogspot.com/2010/05/index-page-for-this-and-all-other.html
Par les villages, Avignon: nicht erst seit gestern
"Handke, ist dazu zu sagen, kennen die Franzosen ... ." Wo nimmt der Nachtkritiker denn das wieder her ? Der Mann wohnt und arbeitet nicht erst seit gestern bei Paris, übersetzt Bove und ist natürlich auch ins Französische übertragen worden und so weiter und sofort; das ist in etwa so, als wollte man zB. behaupten, man kenne Elfriede Jelinek in Frankreich nur wegen der Haneke-Verfilmung eines ihrer Werke ("Die Klavierspielerin"), weil Haneke ja in Frankreich verehrt wird..
Par les villages, Avignon: Antwort des Kritikers
Lieber Herr Zarthäuser,
wie viele Deutschsprachige kennen Jean-Luc Lagarce? Valère Novarina?
Der Skandal von 2006 war groß, er prägt eine allgemeine Handke-Wahrnehmung in Frankreich bis heute («Voyage au pays sonore» wäre ja auch das erste Handke-Stück im Repertoire des Français gewesen). Handke steht selten auf den französischen Spielplänen - wie, nebenbei, auch Elfriede Jelinek, hélas.
Par les villages, Avignon: selbst schon wieder ein Skandalon
Vielen Dank, Herr Klaeui, für die Erläuterung. Für mich scheint es aber dennoch irgendwie eine Art Grundbedingung dafür, daß der "Skandal von 2006" statthaben konnte, die Tatsache zu sein, daß "man" seinen Handke sehr wohl kannte, anders als es bei Deutschsprachigen üblich ist gegenüber Jean-Luc Lagarce oder Valere Novarina. Auch Frau Srbljanovic hatte sich seinerzeit zu Wort gemeldet und sehr sachlich zwischen dem Werk Handkes (das "man" in Belgrad wohl hinreichend kannte), seinem aktuellen Verhalten (seinerzeit !) und der "hysterischen" Reaktion der Comedie unterschieden. Wenn sich die Rezeption von Peter Handkes Werken in Frankreich immernoch an 2006 festbeißt, spricht das nicht gerade für diese meineserachtens, ist traurig und beinahe selbst schon wieder ein Skandalon (wenn dies nicht alltäglich gegenüber allen möglichen Personen geschähe, die sich nicht so hopplahopp politisch instrumentalisieren lassen); insofern kann man dem Regisseur tatsächlich nur danken, mit "Über die Dörfer" sich wieder dem Schreiber Peter Handke zugewandt zu haben :der lohnt immernoch, wie § 1 für meine Begriffe ganz richtig in Erinnerung gerufen hat. Dobar dan !
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