Hamlet, dein Zaudern ist Luxus!

von Sabine Leucht

München, 5. Juli 2015. "Zeit", sagt Michele Cuciuffo, "Zeit ist Luxus". Er sagt es mit der Stimme der Bühnenreinigungskraft am Residenztheater, während Simon Werdelis, der für Ana Zirners "Frei Willig Arbeiten" einen Jungunternehmer und App-Entwickler interviewt hat, gerade aus einer Begriffsverwirrung herauszufinden versucht: "Freizeit? Heißt Freizeit, dass man wirklich frei hat? Oder dass ich mache, was ich will?" Ja, wie ist das eigentlich für einen, der frei(willig) arbeitet und nichts lieber tut als das?

Oder der, wie etwa Nora Buzalka, als sie endlich nicht mehr für die Edel-Escorts von der Maximilianstraße, sondern für sich als Schauspielerin spricht, in der luxuriösen Situation ist, "dafür bezahlt zu werden, ein Mensch zu sein?" Die freie Regisseurin Ana Zirner, die sich als einzige der in diesem Jahr fünf Marstallplan-Helden an eine Materialentwicklung gewagt hat, liegt es am Herzen, die Schauspieler von dem Verdacht freizusprechen, dass ihr Beruf keine harte Arbeit sei.

Parforceritt in die Mitte des Publikums

Ihr gelingt aber in ihrer knapp einstündigen szenischen Skizze noch mehr. Denn die Engführung des dem diesjährigen Mini-Festival zugrundeliegenden Begriffspaares "Luxus" und "Sklaverei" verschiebt sich nicht nur allmählich von der Sphäre der Philosophie, Staatstheorie und Kapitalismuskritik in die der konkreten (und erstaunlich wertneutral dargebotenen) Fallbeispiele aus der Arbeitswelt und von dort in das Arbeitsumfeld Theater, sondern rückt dem Zuschauer auch formal auf die Pelle: Anfangs sprechen die drei Akteure ganz hinten auf der Marstallbühne in einem rasenden Durcheinander Fremdtexte, dann lösen sich einzelne Bewegungs- oder literarische und schließlich reale Figuren aus dem Chaos – bis am Ende alle bei sich selbst und zugleich mitten im Publikum angekommen sind. Das sich nach diesem Parforceritt durch die Möglichkeiten des Theaters womöglich ein wenig überfordert fühlt.Marstallplan2 frei willig arbeiten 560 c Konrad Fersterer u"Frei Willig Arbeiten" von Ana Zirner © Konrad Fersterer

Überforderung aber ist die Grundidee des heuer zum dritten Mal stattfindenden Marstallplans (hier der Bericht aus dem vergangenen Jahr), in dem das Münchner Residenztheater Regieassistenten des Hauses und ausgesuchten Externen die Möglichkeit gibt, mit knappem Budget und reduziertem Bühnenbild binnen zwei bis drei Wochen eine Kostprobe ihres Könnens auf die Bühne zu stellen. Wofür ihnen zwar der ganze professionelle Apparat zur Verfügung steht, aber auch extra viel Stress blüht. So ist es nicht ohne Ironie, dass anlässlich des über dem Gesamtprojekt stehenden Heiner Müller-Zitats "Luxus braucht Sklaverei" und der davon abgeleiteten Frage, "wie wir leben wollen", außer der Gier ausbeuterischer Systeme auch theatrale Binnenstrukturen ins Visier geraten. Deren "Sklaven" empfinden die schlaf- und atemlosen Wochen vor der vielleicht ersten eigenen Inszenierung womöglich sogar als Luxus.

Müller verbellen, sich in Müller verbeißen

Und spannend ist, dass selbst der schon marstallplanerprobte Jakub Gawlik, der "das Gefängnis, in das man sich nach und nach einschließt", richtig prima findet, den Faktor Zeit als das Luxusgut der Gegenwart definiert: "Luxus ist, Zeit zu haben, auf Hamlet'sche Art zu zaudern", erklärte Gawlik im Vorab-Gespräch. Auf die Bühne gebracht hat der Regieassistent des Resi einen gar nicht zaudernden Versuch über Heiner Müllers Revolutionsstück "Der Auftrag", der der Eigen-Art jedes Schauspielers eine Bühne gibt und Szenen von ausgesuchter Seltsamkeit schafft, die sich indes zu oft in dieser Seltsamkeit erschöpfen. Der bekennende Regie-Laie steht zur Skizze und bleibt den Erwartungen an Handlungs- und Figurenstringenz bewusst etwas schuldig.Marstallplan1 Auftrag 560 c Konrad Fersterer uHeiner Müllers "Auftrag" in der Regie von Jakub Gawlik @ Konrad Fersterer

Das ist legitim und passt zu diesem traumlogisch-sprunghaften Müller-Text gar nicht übel, in dessen gewichtige Worte sich die drei Akteure teils buchstäblich bellend und knurrend, aber immer mit gehörigem Ernst verbeißen. Was in Erinnerung bleibt, sind Momente – immerhin! –, in denen Valery Tscheplanowa vor einem Handspiegel ohne Scheibe in einem Akt der Selbstvergewisserung ihr Gesicht knetet, Stephan Larro als Gast aus dem integrativen Ensemble "Die Blindgänger" gleichbleibend würdevoll Gesichter auf Luftballons malt und den das Zeit-Raum-Kontinuum hinter sich lassenden "Mann im Fahrstuhl" spricht. Oder wie Philip Dechamps als Herr Debuisson seine ganze revolutionsmüde Mordlust dem Bauern Galloudec und dem Sklaven Sasportas entgegenschreit, um leise fragend zu schließen: "Und ihr – ihr habt kein Messer".

Dauerzittern in der Heilen Welt

Die anderen drei Inszenierungen "richtiger" Stücke entscheiden sich für das fließendere Erzählen und setzen deutliche formale Eckpfeiler, was teils dem Zeit-, teils dem Profilierungsdruck geschuldet sein mag. Das gelingt jedoch mal mehr und mal weniger gut. Indem Julia Prechsl – Regie-Studentin im dritten Studienjahr an der Bayerischen Theaterakademie – das Kroetz'sche Elternpaar unter Nestbaudruck real unter Dauerzittern setzt und die internalisierten gesellschaftlichen Erwartungen, unter dem ihr Familien-Masterplan kollabiert, mit selbstgedrehten Heile-Welt-Werbefilmchen versinnbildlicht, gibt sie ihrer Inszenierung von "Das Nest" eine klare Struktur. Und auch wenn mit den einmal gefundenen Mitteln reichlich geklotzt wird – weniger Panik-Atmo vom Live-Schlagzeug hätte es auch getan –, tut vor allem Simon Heinles Hochleistungs-Krampfen und -Schwitzen am Ende richtig weh.Marstallplan5 Butter 560 c Konrad Fersterer u"Am Beispiel der Butter" von Ferdinand Schmalz
in der Regie von Christoph Todt © Konrad Fersterer

Weit weniger schmerzlich, aber entschlossen über die Ekelschwelle schreitend, kommt Christoph Todts Regie-Kostprobe daher. Den gewitzten Milchprodukte-Philosophen Ferdinand Schmalz bzw. dessen Stück "Am Beispiel der Butter" hat der zweite Regieassistent des Hauses mit einer Vehemenz in die gruselcomichafte Überzeichnung katapultiert, dass man eine Weile braucht um zu bemerken, wie nuanciert die Schauspieler mit den blutigen Händen, joghurtverschmierten Mündern und zombiehaften Gummigliedern eigentlich agieren. Hinter den enervierend lasziven Gesten von Andrea Wenzl steckt womöglich nur ihre Gewissheit, dass ihr da keiner was vormachen kann. Wie aber Franz Pätzold den Butterrevolutionär Adi zwischen Hamlet'schem Grübeln und Don-Juan-haftem Überschwang anlegt, lässt trotz des hohen Ranges, den dieser junge Schauspieler sich im Resi-Ensemble bereits erspielt hat, ein gehöriges Talent zur Menschenführung auf Seiten seines Regisseurs erahnen.

Der Faktor Zeit

Ob auch Matthias Rippert ein solches Talent besitzt, ist schwer zu sagen. Beim Theatertreffen der Schauspielschulen 2014 hat der Heidelberger gleich drei Preise abgesahnt. Seine Inszenierung von Michel Decars Highspeed-Komödie "Jenny Jannowitz" hat sieben Akteure und viel Mühe damit, das Interesse an der kafkaesken Geschichte wachzuhalten, in der der ebenfalls von Philip Dechamps gespielte Karlo Kollmar (Luxus oder Sklaverei?) in einer Welt erwacht, in der die Jahre(szeiten), Orte und Personen ihre Ankerfunktion verloren haben. Das Leben passiert ihm, nichts hat mehr mit ihm zu tun. Er ist handlungssehnsüchtig wie der "Buttercharakter" Adi, aber wie der Mann im Fahrstuhl immer "zu spät zu spät zu spät". Und das sagt er so oft und schnell, dass man nur noch ein manieriert wirkendes Zischen hört. Rippert, Zweitjüngster unter den diesjährigen Regisseuren, setzt auf Slapstick und Bewegungsspleens, verpasst es aber, diese präzise genug auszuformulieren. Mehr Zeit – oder mehr Selbstbeschränkung – hätten vielleicht geholfen.

 

Der Auftrag
von Heiner Müller
Regie: Jakub Gawlik
Mit: Philip Dechamps, Stephan Larro, Valery Tscheplanowa.

Frei Willig Arbeiten
Uraufführung
Projekt von "satellit produktion"
Regie und Konzept: Ana Zirner
Mit: Nora Buzalka, Michele Cuciuffo, Simon Werdelis.

Jenny Jannowitz
von Michel Decar
Regie: Matthias Rippert
Mit: Silas Breiding, Sibylle Canonica, Philip Dechamps, René Dumont, Anne Kulbatzki, Michaela Steiger, Arnulf Schumacher.

Das Nest
von Franz Xaver Kroetz
Regie: Julia Prechsl
Mit: Simon Heinle, Genija Rykova, Fiete Wachholtz.

Am Beispiel der Butter
von Ferdinand Schmalz
Regie: Christoph Todt
Mit: Thomas Lettow, Raphaela Möst, Franz Pätzold, Andrea Wenzl, Bijan Zamani.

www.residenztheater.de

 


Kritikenrundschau

"Der Zustand der Welt und der Gesellschaft entlockt den meisten jungen Regisseuren ein sardonisches Grinsen“, schreibt Egbert Tholl im Münchner Lokalkulturteil der Süddeutschen Zeitung (7.7.2015). Ins Zentrum rückt er den Beitrag von Regisseur Christoph Todt mit einem starken Franz Pätzold in der Rolle des Adi ("Am Beispiel der Butter"), ein "erfreulich irrsinniges szenisches Pamphlet ohne Moralin". Mit "Das Nest“ zeige Julia Prechsl, "wie man einem knarrenden Kroetz-Text das Licht der Gegenwart verleihen kann". Jakub Gawliks Müller-Aufführung "Der Auftrag" sei "ein rätselhaftes Vexierspiel, mit wenigen erholsamen Momenten der Komik, aber vor allem vielen Fragen". Matthias Ripperts Inszenierung der "Jenny Jannowitz“ von Michel Decar "dreht sich wild um sich selbst wie eine durchgeknallte Mitarbeiteroptimierungsfernsehshow plus 'Alice in Wonderland'". Anna Zirner habe mit "Freiwillig arbeiten" ein "schönes Tableau der Arbeitsrealität" geschaffen.

Im Bayerischen Rundfunk BR 2 berichtet Sven Ricklefs im Gespräch mit Christoph Leibold (Podcast, 6.7.2015), eine Jede der Produktionen sich "auf die eine oder andere Weise" dem gewählten Stoff "gewachsen gezeigt" habe. Herkömmlich gebaute Stücke wie "Das Nest" oder "Jenny Jannowitz" hätten dabei "nicht so zu szenischen Fantasien und Regiestatements eingeladen" wie die ungewöhnlicheren Texte ("Am Beispiel der Butter" und "Der Auftrag") oder das Eigenprojekt "Freiwillig arbeiten". Als seinen Favoriten benennt Ricklefs "Am Beispiel der Butter", ein "völlig abgefahrenes Stück über Kapitalismus und Fremdbestimmung", das Christoph Todt "mindestens ebenso abgefahren mit großartigen Schauspielern als eine Art Clowns-Revue" inszeniert habe.

 

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