Flammende Reden, brennende Plätze - Ana Zirners halbdokumentarischer Abend in St. Pölten über den Antrieb, Teil einer Bewegung zu sein
Masse Mensch
von Kai Krösche
St. Pölten, 9. Januar 2016. Brennt die Welt? Zwar liest man immer wieder, dass wir in Zeiten leben, die friedlicher seien als je zuvor – das subjektive Empfinden sagt dank globaler Vernetzung dennoch das Gegenteil. Hier (oder wenigstens nebenan) und jetzt passiert etwas, knallt's auf Plätzen und in den Städten, strömen die unzufriedenen Massen auf die Straßen, um ihr Leben für Freiheit zu riskieren: Aufruhr, Bewegung, Umsturz (viel zu oft auch: Bürgerkrieg, Terror, humanitäre Katastrophen). Dass hinter den unüberschaubaren Menschenmengen stets eine Summe von Einzelschicksalen mit individuellen Geschichten steckt, ist eine banale Erkenntnis, die man aber allzu oft im unüberschaubaren Wackeln der Youtube-Videos oder den Hubschrauberperspektiven der TV-Berichte zu vergessen droht.
Erzählungen von der Straße
Die Regisseurin Ana Zirner holt vier solcher persönlichen Geschichten auf die Werkstattbühne des Landestheaters Niederösterreich – und lässt sie von zwei Schauspielerinnen und Schauspielern weitgehend unverändert rezitieren. Die Interviews mit den jungen Frauen und Männern aus Spanien, der Türkei, Ukraine und Syrien führte das Ensemble selbst. Nun gibt es ihnen die deutsch sprechenden Stimmen von Menschen, die das Glück hatten, in privilegierteren Verhältnissen leben zu können – und für die Mord und Folter in Syrien oder Gewehrschüsse auf dem Maidan lediglich Bilder und Geschichten, aber keine Lebensrealität sind.
Das Publikum lehnt dabei an den Wänden oder nimmt gleich mitten auf der sonst kahlen Bühne auf Musikboxen Platz, die gleichermaßen als Sitzflächen wie auch gelegentlich als Klangkörper für die Stimmen Protestierender aus aller Welt dienen. In diesen eng gefüllten Raum von Zuschauern aller Altersklassen mischen sich die Schauspielerinnen und Schauspieler in Alltagskleidung, schleichen durch die freien Gassen, verdrängen immer wieder das Publikum von seinem Platz, um erhöht auf den Boxen stehend in den Raum hineinzurufen. Ihre Geschichten erzählen sie im gelassenen Ton, mit abgebrochenen Sätzen und Gedanken und immer wieder direkter Anrede des Publikums.
Flucht nach vorn
So erfahren wir zum Beispiel von der türkischen Aktivistin, deren Reaktion auf ein Gefühl der Panik die Flucht nach vorn ist – und die sich plötzlich voller Selbstzweifel mit einem Stein in der Hand wiederfindet, obwohl sie doch laut Eigenaussage kein solcher "Steine-auf-Polizisten-Werfer" sei.
Das sind spannende Einblicke in ganz persönliche Schicksale, die zugleich exemplarisch sind für die Erlebnisse Hunderttausender, Millionen. Allerdings beschränkt sich der Abend auf weiten Strecken seiner nur 70 Minuten auf die reine Darbietung dieser in Ich-Form gehaltenen Texte durch das im Raum herumwandernde Ensemble. Zwar wird diese trotz andauernder Bewegung recht statisch wirkende Form hier und da von choreographischen Einlagen ergänzt – diese wirken jedoch mehr als Beiwerk, weniger als zwingende Ergänzung. Eine Ausnahme bildet hier das exzessive Sich-Drehen und Arme-von-sich-Werfen Pascal Groß' gegen Ende des Stücks, das nicht nur die Zuschauer zum Wegducken bringt, sondern, auch weil es für sich steht, eine eigene Dynamik entwickelt und in der Sprache der Choreographie zu sprechen schafft.
Auf Messers Schneide
Zwar gelingen Zirner und ihrem Ensemble immer wieder Augenblicke, aus denen mehr als Worte und Sätze sprechen, die sich genauso gut mittels klassischer journalistischer Formen transportieren ließen: Wenn die Schauspielerinnen und Schauspieler weiße Transparente nach oben halten und sich auf diesen durch eine Projektion Einzelgesichter von Protestierenden in einer scheinbar anonymen Masse in Zeitlupe abbilden; oder wenn Moving-Head-Scheinwerfer durch den zuvor in den Zuschauerraum geworfenen Kunstnebel leuchten und dazu die Geräusche protestierender Massen erklingen, dann bekommt man eine leise Ahnung davon, was es bedeuten könnte, Teil einer Bewegung auf Messers Schneide zu sein.
Eine vielleicht allzu leise Ahnung, zu weit bleibt der Abstand zum Dargebotenen, zu sehr verharrt der Abend im Informativen. Auch lässt er viele Fragen ungestellt, zum Beispiel jene über die Kehrseiten der unüberschaubaren "Masse Mensch", der Unberechenbarkeit des kollektiven Protestkörpers – und den Abgründen jener wütenden Mobs, deren "flammende Reden" derzeit vor unserer eigenen Haustür zwar (noch) nicht die Plätze, dafür aber immer neue Flüchtlingsheime mit zum Brennen bringen.
Flammende Reden, brennende Plätze
von Ana Zirner
Regie: Ana Zirner, Bühne und Kostüm: Franziska Bornkamm, Video: Franziska Bornkamm, Emanuel Megersa, Choreographie: David Russo, Dramaturgie: Julia Engelmayer, Recherche: Emanuel Megersa.
Mit: Swintha Gersthofer, Pascal Groß, Marion Reiser, Jan Walter.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause
www.landestheater.net
Mehr über Ana Zirner: wir besprachen im Februar 2014 in München Brothers in Arms, einen Abend über Wehrdienst im Iran und in Israel
Eine Collage von Originalsätzen aus den Interviews mit diesen vier Menschen bildet dabei das Stück. Diese sogenannte Verbatim-Technik entwickelt in der nur 70-minütigen Inszenierung Dringlichkeit und hat Kraft. Das Publikum sitzt vereinzelt auf im Raum verteilten Lautsprecherboxen. Die Texte, von vier Schauspielern (Swintha Gersthofer, Pascal Gross, Marion Reiser, Jan Walter) inmitten der Zuschauer gesprochen, wirken nicht nur durch ihren direkten Bezug zu einem konkreten Menschen und dessen freier Rede, sondern auch durch die Verdichtung und jeweilige Gegenüberstellung. - derstandard.at/2000028794019/Flammende-Reden-Soll-ich-mich-opfern-fuer-diese-Idee
Eine Collage von Originalsätzen aus den Interviews mit diesen vier Menschen bildet dabei das Stück. Diese sogenannte Verbatim-Technik entwickelt in der nur 70-minütigen Inszenierung Dringlichkeit und hat Kraft. Das Publikum sitzt vereinzelt auf im Raum verteilten Lautsprecherboxen. Die Texte, von vier Schauspielern (Swintha Gersthofer, Pascal Gross, Marion Reiser, Jan Walter) inmitten der Zuschauer gesprochen, wirken nicht nur durch ihren direkten Bezug zu einem konkreten Menschen und dessen freier Rede, sondern auch durch die Verdichtung und jeweilige Gegenüberstellung. - derstandard.at/2000028794019/Flammende-Reden-Soll-ich-mich-opfern-fuer-diese-IdeeDie Collage von Originalsätzen, nach der sogenannte Verbatim-Technik entwickelt, habe Dringlichkeit und Kraft, findet im standard (11.1.2016). "Die Texte, von vier Schauspielern inmitten der Zuschauer gesprochen, wirken nicht nur durch ihren direkten Bezug, sondern auch durch die Verdichtung und jeweilige Gegenüberstellung." Die "Echtheit" des Gesagten bleibt dennoch immer Theater. Zirner konterkariert den Realismusanspruch sogar, indem sie für nachgestellte Demonstrationsszenen (Choreografie: David Russo) eine Extraportion Theaterrauch vorsieht. - derstandard.at/2000028794019/Flammende-Reden-Soll-ich-mich-opfern-fuer-diese-IdeeDie Echtheit des Gesagten bleibe dennoch immer Theater. "Zirner konterkariert den Realismusanspruch sogar, indem sie für nachgestellte Demonstrationsszenen eine Extraportion Theaterrauch vorsieht."Die "Echtheit" des Gesagten bleibt dennoch immer Theater. Zirner konterkariert den Realismusanspruch sogar, indem sie für nachgestellte Demonstrationsszenen (Choreografie: David Russo) eine Extraportion Theaterrauch vorsieht. - derstandard.at/2000028794019/Flammende-Reden-Soll-ich-mich-opfern-fuer-diese-Idee
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ich war gestern ebenfalls in der Premiere von "Flammende Reden, brennende Plätze" und möchte mich äußern, da ich das Gefühl habe, dass Sie einen wichtigen Regiepunkt nicht verstanden haben. Die vier SchaupierlerInnen sprechen nicht "im gelassenen Ton, mit abgebrochenen Sätzen und Gedanken und immer wiederdirekter Anrede des Publikums" ohne Sinn. Die Schauspielerinnen übernehmen die genauen Parolen der persönlichen Geschichten, also zitieren sie durchgehend - wenn sich die SchauspielerInnen also an das Publikum adressieren wie Sie dachten, sind es eigentlich die Gesprächspartner, die sich zu ihren Zuhörern also den Schauspielern gegenüber äußern. Die Texte klingen vielleicht abgehackt, ungewohnt, Alltagssprache oder Umgangssprache vergleichbar - aber das macht das Stück noch viel spannender als es sowieso ist.
Dann kann ich gleich noch hinzufügen, dass meiner Meinung nach die Regie großartig ist - allein die Bühne, die Wahl des Sitzens der Zuschauer ist toll ausgesucht: man fühlt sich einer Masse zugeordnet.
das habe ich schon alles so verstanden, es hat für mich jedoch nichts an meinem Blick auf den Abend geändert. Im übrigen wird das Publikum in meinen Augen auch dann angesprochen, wenn es sich "lediglich" um das Zitat einer direkten Anrede handelt, zumal wenn mit Augenkontakt und in ähnlicher Weise wie die Aufforderungen zum Nachmachen diverser Gesten kommuniziert.
ich bin immer froh wenn Ich aus einem Post, einem Programmheft erfahre was ich gesehen habe. Dann war das szenische Geschehen ja meistens richtig zwingend.
Ich sehe es leider völlig anders als Sie. Ich finde die Regie wirklich einfallslos und mich packt die Wut weil ich nicht weiß, was mich mehr aufregt der theatral wie politisch erschrechend naive Angang an das Thema oder die kalkulierte Suche nach einem relevanten Stoff, um größtmögliche Aufmerksamkeit für die eigene "Arbeit" zu erhalten. Ich hatte leider auch schon das Ärgernis die Iran-Arbeit von Frau Zirner zu sehen. Ähnlich in der Machart und von der völlig haltlosen Annahme geleitet man könnte diese Protagonisten auf einer Bühne zu einem Publikum sprechen lassen, indem Schauspieler einfach rezitieren was da so gesagt wurde. Für mich ein ästhetisches Desaster, welches die Sprechenden oder die reale Theatersituation in keiner Weise mitreflektiert. Heillos naiv wie auch dieser Abend. Und damit ein Bärendienst an der "Sache".
Kein weiterer Bedarf auf meiner Seite diesen schlecht umtanzten Journalismus anzusehen. Da ist jede ORF-Reportage spannender und aufrichtiger in ihren Mitteln