Theatertreffen 2013 - Die Jurydebatte
Die andere Perspektive
von Esther Slevogt
Berlin, 21. Mai 2013. Da saßen sie nun in ihrer Juryblase oben auf dem Podium im Haus der Berliner Festspiele und blickten ins Publikum, die diesjährigen Theatertreffenjuroren Christoph Leibold, Franz Wille, Daniele Muscionico, Christine Wahl, Ulrike Kahle-Steinweh, Vasco Boenisch und Anke Dürr. Etwas lustlos wirkten sie, und auch Moderator Tobi Müller gelang es nur selten, die Herrschaften mit Steilvorlagen aus der Lethargie zu wecken.
Am anderen Ort
Der Berliner Franz Wille gewährte Einblicke in seine Angst als Juror vor dem Berliner Publikum: ob eine ausgewählte Inszenierung hier dann auch bestehen würde. Die Schweizer Jurorin Daniele Muscionico berichtete, wie unbemerkt die nun so berühmte Produktion Disabled Theater in Zürich in einer Theaternische herausgekommen und gespielt worden war. Wie sie selbst zunächst dachte: Nein, so geht das doch nicht. Wie gut also der Perspektivwechsel mancher Arbeit täte. Ein anderer Ort. Ein anderes Publikum.
Die Straße. Die Stadt. Der Überfall anwendbar fand. Eine Arbeit, die in den Kammerspielen, wo die gelackte Luxusmeile Maximilianstraße, die den Stoff für ihre Konsumkritik geliefert hat, direkt vor der Theaterhaustür liegt, gar nicht so spektakulär aufgenommen worden sei. Anders als hier. Was wiederum NRW-Scout Vasco Boenisch zu der Bemerkung verleitete, der Berliner lästere eben gerne mal über den Münchener ab. Die andere Perspektive! Zuvor hatte die (Kritiker!)runde ein paar Sottisen gegen die angeblich traditionell so schlechtgelaunte und begeisterungsunfähige Berliner Kritik losgelassen und dabei selbst wie die allerwürdigsten Vertreter dieser Spezies schlecht gelaunt ins Publikum geblickt. Auch an der Auswahl war selbstredend allein das Theater schuld. Man könne schließlich nur das auswählen, was es gebe, maulte Ulrike Kahle-Steinweh. Ja, dachte man da, für einen Perspektivwechsel soll manchmal bereits ein Blick in den Spiegel ganz hilfreich sein.
Was der Verweser der süddeutschen Regionen Christoph Leibold auch auf die Münchner ArbeitLeeres, hochgerüstetes Theater
Spätestens mit der Öffnung des Gesprächs für das Publikum wurde dieser Perspektivwechsel dann wirklich greifbar. Unmut zunächst von Vertretern des Stammpublikums, die eigenem Bekunden zufolge seit Jahrzehnten das Theatertreffen verfolgen: Früher sei jeder Theaterbesuch geschenkte, erlebte Zeit gewesen. Heute stelle sich das umgekehrt dar: leeres, hochgerüstetes Theater, das nichts mehr auszusagen habe über diese Welt.
Ein Urteil, dass seine Entsprechung in Einlassungen der jungen Theatermacherin Katharina Rahn fand, Stipendiatin des diesjährigen Internationalen Forums beim Theatertreffen, die ganz ähnliches Befremden über einen Theaterbegriff formulierte, für den sie die ausgewählten Inszenierungen repräsentativ fand. Die Inszenierungen, so Katharina Rahn, machten alle formal viel Wind, was aber nicht verdecken könne, dass sie nichts Wesentliches mehr zu sagen hätten, in einem abgeschlossenen Raum operierten, und die Welt draußen mit ganz anderem beschäftigt sei. Und die Jury, die die Einwände aus der Stammpublikumsfraktion noch als Problem der Altgewordenen im Reich der neuen Zeichen abtun konnte, blieb nun alle Antwort schuldig.
Deutung der Zeichen
Ins Reich der Zeichen wurde dann auch die Kritik an Sebastian Baumgartens Inszenierung Die heilige Johanna der Schlachthöfe verwiesen, in der die Arbeiterfrau Luckerniddle als Karikatur einer Afrikanerin gezeigt worden war: schwarz angemalt und mit Wollperücke und ausgestopftem Hinterteil versehen, Bastrock und viel Uga-Uga-Geschrei. Was nicht nur die Aktivisten von Bühnenwatch auf den Plan rief. Auch von vielen Zuschauern wurde diese Darstellung als rassistisch empfunden (wie auch die des neuen Kapitalisten, der als Chinese wie aus dem Verkleidungskasten des schenkelklopfenden Ressentiments ausgestattet war).
Es sei der genuine Job des Theaterkritikers, Zeichen zu beurteilen, versuchte Christine Wahl sich an einer Verteidigung der Auswahl und der Inszenierung. Baumgartens Brecht-Inszenierung arbeite per se mit Zeichen und habe Figuren und Rahmung als Abziehbilder von Klischees kodiert. Mit dieser Methode gelinge es Baumgarten, Brecht und seinen holzschnittartigen Kapitalismusbegriff gegen sich selbst auszuspielen. So kam die Inszenierung zum Prädikat "bemerkenswert" und aufs TT.
Die Kritiker des sogenannten "Blackfacing", so Christine Wahl weiter, übersähen die Tatsache, dass es einen Unterschied gebe zwischen Kunstraum und Realitätsraum. Die Kritikerin rief Gendertheoretikerin Judith Butler zu Hilfe, die von der "produktiven Fehlaneignung" von negativ konnotierten Zeichen gesprochen habe; das Theater sei eben ein genuiner Ort dafür.
Ausgrenzung
Vehementer Widerspruch einer Bühnenwatch-Aktivistin: Das sei eben ein Widerspruch und in sich unmöglich, dass diejenigen, die diese rassistischen Zeichen von jeher als Mittel zur Unterdrückung und rassistischen Ausgrenzung nutzten, sich diese Mittel nun auf dem Theater produktiv fehlaneignen könnten. Eine andere Stimme aus dem Publikum gab zu bedenken, dass eine rein weiß besetzte Jury hier schwerlich gültige Aussagen treffen könne. Die Debatte wird am 12. Juni im Haus der Berliner Festspiele fortgesetzt.
Vielleicht ist genau dies das Problem: dass im Closed Space der Hochkultur der Raum der Kunst (und des Theaters) immer noch für ein eigener Realitätsraum gehalten wird, der sich hoheitlich regieren und dirigieren lässt. Wo man lieber nicht darüber nachdenken möchte, auf welchen Diskursen überhaupt die Kodierung der hochkulturellen Zeichen basiert. Wo man daher vorsichtshalber lieber auch kein Fenster und erst recht keine Tür öffnen will. Vielleicht wird die Kunst deshalb irgendwann einfach woanders stattfinden, während den Bewohnern des Closed Space der Sauerstoff ausgeht.
Hier die Tweets zum Thema unter #TT50 #Jury.
meldungen >
- 13. September 2024 Staatstheater Kassel: Geschäftsführer freigestellt
- 13. September 2024 Salzburg: Nuran David Calis wird Schauspieldirektor
- 12. September 2024 Heidelberg: Intendant Holger Schultze hört 2026 auf
- 12. September 2024 Auswahl des "Augenblick mal"-Festivals 2025 in Berlin
- 12. September 2024 Freie Szene Hamburg: Protest-Aktion zur Spielzeiteröffnung
- 12. September 2024 Baden-Baden: Nicola May beendet Intendanz 2026
- 12. September 2024 Berlin: Aufruf der Komischen Oper zu Musikschulen-Problem
- 12. September 2024 Literaturpreis Ruhr für Necati Öziri
neueste kommentare >
-
Playing Earl Turner, Wien Trotzdem wichtig
-
Grmpf, Köln Grpf!
-
Necati Öziris "Vatermal" Anderes Empfinden
-
Empusion, Lausitz Festival Berichterstattung
-
Dantons Tod und Kants Beitrag, Dortmund Analyse?
-
Hamlet, Wien Positiv überrascht
-
Necati Öziris "Vatermal" Starker Text
-
Kassler GF freigestellt Verwechselung
-
Die Verwandlung, Zürich Nur Kafka wird das überleben
-
Der Reisende, Essen Eigene Vorlage
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
Darf ich also bitten: Von blasiert und Blase keine Spur.
Ich wünsche Ihnen noch viele Juries und Jury-Entscheidungen, bei denen Sie aus Ihrer Perspektive ganz anderer Meinung sein können.
Doch etwas wüsste ich gar zu gerne:
Was sähe ich denn bei einem Blick in den Spiegel? Mich? Sie? Ein völlig anderes Theater? Die gänzlich andere Perspektive?
Fragt fröhlich Ulrike Kahle-Steinweh
es tut mir leid, aber die Frage, was Sie sehen, wenn Sie in den Spiegel blicken, die können nun wirklich nur Sie selbst beantworten. Ansonsten finde ich, Sie und Ihre Kollegen haben sich (mit Ausnahme von Christine Wahl) auf Ihrem Podium ziemlich in Ihren Positionen verschanzt und später auch freundliche Fragen und Einwände aus dem Publikum meist abgeschmettert, ohne auch nur kurz die eigene Haltung zu hinterfragen. Das war schade und aus meiner Sicht überhaupt nicht nötig. Und hat mich dann eben zu meiner polemischen Betrachtung dieses Auftritts geführt.
Herzliche Grüße
Gibt es Uneinigkeit darüber, dass die Kunstmittel, die Veit Harlan im "Kunstraum" "Jud Süß" einsetzte, nicht ganz zulässig sind? Ich glaube nicht. Der Kunstraum erlaubt eben nicht alles, das ist eine Schutzbehauptung, die die Verantwortlichen aufstellen, um der Frage zu entrinnen, ob auch kritisch intendiertes Blackfacing die Markierung der Mehrheit-Außenseiter-Positionen weiter zementieren hilft. Wenn man diese Frage aber zu beantworten sucht, könnten Einige möglicherweise Erschreckendes über die eigene Konstruktion ihres Blicks auf die Gesellschaft lernen. Das möchte man nicht und redet daher lieber vom ach so freien Kunstraum, in dem vermeintlich völlig andere Gesetze als im Realitätsraum herrschen.
@allgemein Worum geht es denn bei der Blick-in-den-Spiegel-Sache? Um Integrität?
Sie haben nun - das hoffentlich letzte - Wort.
Immer noch neugierig Ulrike Kahle-Steinweh
Mir sind die Filme "30 Rock" und "Tropic Thunder" nicht bekannt. Könntest du erklären, wie Blackfacing dort verwendet wird?
Das wäre mein Deutungsvorschlag :-)
Habe von Tropic Thunder geredet nicht von 30 Rocks! und selbstverständlich ist die Verwendung von BF auf deutschen Bühnen etwas vollkommen Anderes. ( Ist auch meine Community).
Irgendwie finden momentan ja auch "alle" diese Serie "Breaking Bad" so toll. Ich habe zwei Staffeln davon auf DVD gesehen. Und schon bei der zweiten Staffel wurden story und plot in meiner Wahrnehmung ziemlich langweilig.