Kleiner Mann ganz groß

von Martin Krumbholz

Köln, 6. Dezember 2013. Was für eine schöne Pointe, dass der Sturzflug des jungen Deutschen Karl Rossmann durch Amerika ausgerechnet an einem Theater endet, am Naturtheater von Oklahoma – mit Beschäftigungsgarantie für alle! "Wir sind das Theater, das jeden brauchen kann", heißt es, "Welcome! Bienvenue!" Das lässt man sich nicht zweimal sagen. Wie es nun wohl weitergeht? Kafka hat seinen Roman ja nicht zu Ende geschrieben, diese vielleicht vollständigste und radikalste Dekonstruktion des "american way of life", die es in der Literatur gibt – aus der Feder eines, der nie dort war.

Cowboy, Indianer und Prinz Ivanhoe

In Moritz Sostmanns Kölner Adaption des Fragments ist die Rossmann-Puppe zur babyhaften Winzigkeit geschrumpft. Verloren wie nie steht der kleine Mann, meistens geführt von Magda Lena Schlott, vor dem roten Vorhangmeer, das ihn förmlich verschluckt. Die bizarre (Werbe-)Show, in der die (nur) vier leibhaftigen Schauspieler eine schwindelerregende Parade durch die Geschichte hinlegten – Cowboy, Indianer, Mittelalterkönig, barocker Baron, Ballerina, Prinz Ivanhoe, den Rest hat man in der Eile nicht entziffern können –, sie ist vorbei, ebenso die dröhnende Musik. Nur noch der Winzling und der Vorhang. Was für ein schöner Schluss! Und von hier hatte alles auch seinen Anfang genommen: Das Theater ist es ja, das hier und heute Rossmanns Geschichte in prallen und witzigen Bildern erzählt ...

Amerika1 560 SandraThen uKleine Puppe geh zur Ruh' – Karl Rossmann im Kölner "Hotel Occidental". Philipp Plessmann, Magda Lena Schlott, Johannes Bennecke. © Sandra Then

Die beginnt mit einem auf dem Schiff verlorenen Koffer, der wunderbarerweise später wieder auftaucht, und mit dem Anblick der Freiheitsstatue, der Kafka im zweiten Satz seines Romans ein Schwert in die Hand steckt – nicht aus Besserwisserei, sondern weil in dieser Geschichte eben stets das Unerwartete geschieht! Und vielleicht auch, weil der sechzehnjährige, bereits zum Vater gewordene Karl ein Kämpfer ist, ein Kämpfer für die Gerechtigkeit, der sich für den gedemütigten, von Bruno Cathomas ein bisschen vertiert gegebenen Schiffsheizer derart ins Zeug legt, dass es den hamburgerisch nölenden Kapitän und seine Entourage beinahe zum Lachen reizt. Dann steigt Karl mit dem glücklich aufgetauchten Onkel Jakob – Johannes Benecke macht eine schrille Nummer daraus – in ein Boot und fragt sich traurig, ob dieser seltsame Anverwandte ihm den Heizer "jemals wird ersetzen können".

Zwischen Aufsässigkeit und sanftem Fatalismus

Die Rossmann-Puppe, die das Schauspiel Köln gewissermaßen "in allen Größen auf Lager hat", gestaltet von Hagen Tilp, sie verkörpert mit ihrer markanten Nase, den Brillengläsern vor den großen Augen ganz wunderbar das Wesen dieses Menschen, gemischt aus punktueller Aufsässigkeit und sanftem Fatalismus (das ist ja in Wahrheit kafkaesk, nicht die "Labyrinthe der Bürokratie") – und steht zu Recht im Mittelpunkt des Abends. Magda Lena Schlott als Puppenführerin ist ihr im androgynen Äußeren sorgfältig angepasst; andererseits kann die Schauspielerin, in der Rolle der verführerischen Klara, der "tollen Katze", auch ausgesprochen weiblich sein. Bruno Cathomas verpasst deren Vater, dem Herrn Pollunder, eine deutlich homoerotische Note – wie Sostmann überhaupt für Kafkas sexuelle Untertöne ein offenes Ohr hat (sie sind allerdings auch kaum zu überhören).

Amerika3 560 SandraThen u Kleiner Mann, großer Koffer, riesige Gefährten: Philipp Plessmann, Magda Lena Schlott.
© Sandra Then

Die Puppen tanzten auch schon in Sostmanns Kölner Eröffnungspart Der gute Mensch von Sezuan. Diesmal gibt es kaum andere als die Rossmann-Puppen. Und obwohl diese den Abend stark prägen, ist er ein Schauspieler-Ereignis. Die Reduktion auf vier Akteure verlangt jedem Einzelnen ein Höchstmaß an Flexibiliät, an Beweglichkeit und Verwandlungsfähigkeit ab – und das passt.

Nicht in die Tiefe, sondern in die Spitze geht die Fahrt, wie im Grand Guignol des Naturtheaters Oklahoma. So gesehen steigert sich Cathomas konsequent vom Heizer über den sanft an seiner Zigarre nuckelnden Pollunder bis hin zu astreinen Weibsnummern wie der drallen Oberköchin im Hotel Occidental und der noch dralleren Sängerin Brunelda, deren Leibesumfang den windigen Delamarche buchstäblich umhaut. Philipp Plessmann spielt außer Delamarche auch Mack, Green, den Kapitän (und hat, mit Schmackes, die Musik komponiert oder zitiert), während Benecke aus dem zweiten Ganoven Robinson (vor den Irländern soll man sich in Acht nehmen!) ein herrlich verstrubbeltes Monsterschäfchen auf jene Bretter zaubert, die an diesem Abend im Kölner Carlswerk einmal ganz die "neue Welt" bedeuten – oder was man so dafür hält.

 

Amerika
nach dem Romanfragment von Franz Kafka für die Bühne bearbeitet von Moritz Sostmann und Sibylle Dudek
Regie: Moritz Sostmann, Bühne und Kostüme: Klemens Kühn, Puppen: Hagen Tilp, Musik: Philipp Plessmann, Video: Hannes Hesse, Licht: Hartmut Litzinger, Dramaturgie: Sibylle Dudek.
Mit: Johannes Benecke, Bruno Cathomas, Philipp Plessmann, Magda Lena Schlott.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause.

www.schauspielkoeln.de

 

Mehr Amerika auf deutschsprachigen Bühnen: wie es Jan Klata (Bochum, April 2011), Frank Castorf (Zürich, April 2012) und Victor Bodó (Graz, September 2012) sahen.


Kritikenrundschau

Moritz Sostmann schaffe für Kafkas Romanfragment "Amerika" pathetische wie poetische, komische, traurige und manchmal einfach nur alberne Bilder, schreibt Marion Troja in der Westdeutschen Zeitung (9. Dezember 2013). Den sperrigen Text überführe der Regisseur in eine konkrete Geschichte und verliere dabei doch nicht die psychologische und existenzielle Kraft Kafkas. "Im Gegenteil: Ihm gelingt erstaunlich lässig großes Theater." Sostmanns Handschrift sei bei diesem Stück ebenso klar erkennbar wie in seiner Inszenierung von Brechts "Der gute Mensch von Sezuan" (hier die Nachtkritik) zur Eröffnung der Spielzeit in Köln. "Es ist schon sehr besonders, wie er im Miteinander von Schauspielern und Puppen Menschliches klar hervortreten lässt."

"Köstliche Komik und Klamauk" bescheinigt Hartmut Wilmes von der Kölnischen Rundschau (9.12.2013) der Inszenierung. Allerdings läßt die Flut der szenischen Einfälle zum Leidwesen des Kritikers der Melancholie des Stoffes nur wenig Raum, der dadurch gelegentlich droht, verloren zu gehen. Denn die Feinheiten des Stoffs würden mit dem "Slapstickbesen" fortgekehrt. Lediglich im "geniale Finale" stimmt aus seiner Sicht die Balance.

Bescheiden aber höchst effektiv findet Christian Bos vom Kölner Stadtanzeiger (9.12.2013) diese Deutung des Stoffs. Nach seinem "Der gute Mensch von Sezuan"sei dies nun der 2. Kölner Volltreffer dieses Regisseurs. An diesem Abend stimme jedes Detail.

Kommentare  
Amerika, Köln: aufgeblasen
Langweilig
Die Einrahmung von Kafkas „Amerika“ vor einem umständlich aufgezogenen Vorhang (bedingt durch die deplorablen Verhältnisse der Ersatzspielstätte)durch einen pathetischen Auftritt der Schauspieler am Anfang war gestelzt, aufgeblasen und nichtssagend und ihr Abgang am Ende als rasende Kostümschau akustisch begleitet durch klassische Ohrwürmer kindischer Firlefanz. Was darin „schön“ sein soll, bleibt das Geheimnis von M.Krumbholz ebenso seine (...) Behauptung Kafkas Roman sei die „vielleicht vollständigste und radikalste Dekonstruktion des American way of life“. Die Inszenierung bestimmt das (kunstfertige und teils umständliche) Steuern der Holzpuppe als Karl Rossmann, was anfangs nette Effekte beschert, doch auf Dauer zwangsläufig stereotyp wirken muss. Hauptsächlich ist zu fragen, welchen Sinn es macht, die Figur des Rossmann auf eine kleine Puppe zu reduzieren. Offensichtlich müssen die Schauspieler durch übertriebenes Chargieren und Agieren ihren toten „Kollegen“ kompensieren und ständig ins Publikum sprechen. Das vertreibt die Langweile der Produktion nicht, wie der laue Beifall des Publikums nach der zweistündige Aufführung am 9.1. bezeugte.
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