Die Ruhe vor dem Sturm

von Martin Krumbholz

Recklinghausen, 1. Juni 2014. Wann hat man je sympathischere Gesichter auf einer Bühne gesehen als an diesem Samstagabend in der Halle "König Ludwig" bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen-Süd? Johannes Zirner ist der Physikprofessor Lew Katz, ein feinfühliger, noch recht junger Mann, der seine Studenten über das unfassbare Wesen der Zeit belehrt, auch wenn er scheußlich gestreifte Pullover trägt. Nicht weniger angenehm Katrin Röver, seine Frau Anne, die sehr nah am Wasser gebaut hat, berufslos anscheinend. Dann Lukas Turtur, ein supersympathischer Kontrabassist, der vor seinem Auftritt an einen ebenso liebenswerten Rezeptionisten gerät, gespielt von Thomas Gräßle.

Oder gar Juliane Köhler mit ihrer langen blonden Mähne, die als Turturs fürsorgliche Freundin dafür zuständig ist, dass der Kontrabass pünktlich zum Konzert eintrifft. Und Genija Rykova, allerliebst als etwas schnippische Studentin Marlene, verkauft nebenbei noch Brezeln in der Bahn. Selbst Arthur Klemt, der etwas schwabbelige, vielleicht sogar schleimige Zug- und Marlene-Begleiter, hat nicht selbst er etwas Grundsympathisches?

Existenzial-Clowns

Doch, doch. Das Problem ist nur: Die Figuren, die der Autor Nis-Momme Stockmann für sein jüngstes Stück "Phosphoros (früher: Der Clown)" erfunden hat, ticken anders. Der Professor ist ein eitler, arroganter Sack, der seine Studenten beleidigt und seiner Frau erklärt, er sei zu Höherem berufen; ein Hypochonder obendrein. Anne ist ein verlogenes Biest, die ihrem Mann einen Brief unterschlägt und ihm verschweigt, dass der Krebstest negativ ausgefallen ist.

Der Bassist versklavt seine Freundin, weil er sich zu fein dafür ist, sein Instrument selbst durch die Welt zu befördern. Der Rezeptionist ist ein "fieses Arschloch", der sich an der Not seines einzigen Gastes aufgeilt. Und Marlene ist eine Giftspritze mit kaltem Herzen, der man es fast ein bisschen gönnt, dass sie an diesen dummdreisten Jörg gerät, der ihr im Personalabteil auf die Pelle rückt.

phosphoros1 560 andreaspohlmann uBunte Runde: "Phosphoros" © Andreas Pohlmann

Man könnte nun fragen: Wer hat recht – der Text, also die säuerliche, jungmännische Stockmann'sche Misanthropie, die sich in einem 200-Seiten-Konvolut breitmacht, oder aber die menschenfreundliche Regie von Anne Lenk, die die extrem verschränkten und verschachtelten Dialoge auf der leeren Bühne sich ausbreiten lässt, unter einer bedrohlich schwankenden XXL-Lampe als einzigem Dekorationsstück – schwankend deswegen, weil ein Jahrhundertsturm im Anflug ist, der am Ende auch Katzens Vordach wegreißt, um das der Professor sich nicht hat kümmern wollen? Fest steht, dass beides kaum unter einen Hut passt und dass der Abend unheilbar daran krankt.

Trägheit der Masse

Was Stockmann letztlich erzählen will, ist nicht leicht zu ergründen. Da "Phosphoros" als Auftragswerk im Kontext des "Faust"-Projekts am Residenztheater steht, liegt die Vermutung nah, der Autor habe wie sein Professor erforschen wollen, "was die Welt im Innersten zusammenhält".

phosphoros 280 andreaspohlmann uJohannes Zirner als Physikprofessor
© Andreas Pohlmann
Jedenfalls steckt der Text bis zum Rand voll mit theoretischen Diskursen, die Johannes Zirner so leichtzüngig wie möglich über die Lippen bringen muss. In seinem grotesken Pullover ist Lew Katz ein "Clown". Allerdings weiß er nicht (wie er seiner Therapeutin gesteht), "was für ein Clown": dummer August, Pierrot …?

Dies verbindet ihn mit Basil, dem in einer prekären Situation gestrandeten Musiker: Beide Figuren räsonieren über das frappierende Missverhältnis zwischen ihrer Selbsteinschätzung als Künstler bzw. Intellektueller und der Dummheit oder Trägheit der Masse, die ihnen lauscht bzw. nicht lauscht. Eben diese Nichtaufgehobenheit in der Welt macht sie zu (Existenzial-)Clowns.

Schaffner und Hunde

Anne Lenks Versuch, das Ungetüm auf die Bühne zu stemmen, zielt, partiell zumindest, auf groteske Zuspitzung. So müssen die Schauspieler auch hechelnd die Hunde spielen, die die Leute in ihrer Einsamkeit sich anschaffen. Der Text, im Prinzip durchaus psycho-realistisch angelegt wie ein Filmskript, gibt solche Verschärfungen nur mühsam her. Nicht besser funktionieren Doppelbesetzungen ohne Kostümwechsel: Wenn der Zugschaffner in seinem hellblauen Zugschaffneranzug plötzlich den Dekan an der Uni spielt, der Lew Katz strafversetzt, ist das eigentlich nur lächerlich und entschärft die Situation komplett. Insgesamt wirkte der Abend eher wie eine Durchlaufprobe (die Souffleuse wurde oft gebraucht), aber bis zur Premiere in München sind noch ein paar Tage Zeit. Wenn auch Zeit relativ ist.

Phosphoros (UA)
von Nis-Momme Stockmann
Koproduktion des Residenztheater München/Ruhrfestspiele Recklinghausen
Regie: Anne Lenk, Bühne: Judith Oswald, Kostüme: Silja Landsberg, Musik: Jan Faszbender, Licht: Uwe Grünewald, Dramaturgie: Andrea Koschwitz.
Mit: Johannes Zirner, Juliane Köhler, Katrin Röver, Genija Rykova, Franz Pätzold, Lukas Turtur, Thomas Gräßle, Katharina Pichler, Arthur Klemt.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.ruhrfestspiele.de

 

Wie wird Nis-Momme Stockmann sonst noch inszeniert? Im März 2014 ließ Ulrich Rasche in den Berliner Sophiensaelen zur Kosmischen Oktave Chöre maschieren. Und im Februar verlegte Milan Peschel Stockmanns Freund krank fürs Deutschen Theater, mit hohem Sehnsuchtspuls, an die Route 66.


Kritikenrundschau

Als "Stärken des Stücks" macht Ulrich Fischer im Deutschlandradio Fazit (31.5.2014) "das große Thema, die Vielfalt der Handlungsstränge und Figuren" aus, das Stück sei "interessant, unterhaltsam, mitunter kurzweilig" – "dann aber auch wieder mit Anspruch überfrachtet, wenn es um die Erörterung physikalischer Begriffe von Zeit geht". Die Schwächen seien von den Stärken kaum zu scheiden: die Vielfalt strenge die Zuschauer an, die Fülle grenze, gerade bei philosophischen Vertiefungen, an Überforderung. Wie der Dramatiker lasse die Uraufführungsregisseurin die Frage offen, ob die Einzelnen schuld an ihrer Misere sind oder die Umstände. "Am Ende steht der Appell, sich nicht in die Passivität abdrängen zu lassen – es geht darum, die Initiative zu ergreifen."

In "Phosphoros" schlage die Liebe auf den Magen wie eine zu üppige Mahlzeit, schreibt Pitt Herrmann in den Sonntagsnachrichten Herne (1.6.2014). Mit "gewohnt ausführlichen philosophischen Exkursen" füge Stockmann ein halbes Dutzend Geschichten und ihr vielköpfiges Personal kunstvoll zu einem "in der furios-temporeichen Urinszenierung Anne Lenks zwar sehr kurzweiligen, aber doch über dreistündigen Abend" zusammen. Bei dem sich weder der Autor noch die Regisseurin festlegten, "ob das alles nur ein (Alp-) Traum des hypochondrischen Professors Lew Katz ist, der sich am Ende in Wohlgefallen auflöst - arg klattrig, wie Theodor Fontane sagen würde".

"Stockmanns Grundton ist pessimistisch", diagnostiziert Kai-Uwe Brinkmann in den Ruhrnachrichten (2.6.2014). "Es gibt kein richtiges Leben im schablonenhaften falschen. Für helle Köpfe klingen alle Glücksformeln im Angebot schal, sie werden sich weiter martern." Anne Lenks Inszenierung für das Münchener Residenztheater arbeite mit harten Schnitten wie im Film und entwickele daraus ordentlich Dynamik. Den "bestens geführten Schauspielern" zuzuschauen, sei ein großer Spaß. Fazit: "Gut formulierter und clever inszenierter Weltschmerz. "

"Es dauert eine Weile, bis man sich auf den Zuschauerrängen in die komplexen Beziehungsgeflechte der Protagonisten eingefunden hat", schreibt Martina Möller in der Recklinghäuser Zeitung (2.6.2014). Aber dann mache "dieses fulminante Schauspiel" richtig Spaß. Die Schauspieler brächten die Vielfalt der Handlungen mit beeindruckender Präzision und packender Spielfreude auf die Bühne.

"Das Schöne an dem Autor Nis-Momme Stockmann ist, dass er darauf beharrt, die Kunst müsse inkommensurabel sein", so beginnt Egbert Tholls Kritik in der Süddeutschen Zeitung (10.6.2014). Man liest sein Stück "Phosphoros" unglaublich gern, empfinde "Freude an der Sprache, an Einfällen, an der Handlung", er breite die Nöte seiner Figuren wie konzentrische Kreise aus, "lässt einen Stein nach dem anderen in seinen Diskurssee fallen, die Kreise überlappen sich, gehen ineinander über". Regisseurin Anne Lenk "pfeift auf eine formale Lösung, sie macht praktisch ohne Bühnenbild, mit ganz wenigen Requisiten pralles, sattes, unmittelbares Theater von großer Behauptungskraft."

 

Kommentare  
Phosphoros, Recklinghausen: Orkan
Das zunehmende Gewusel wird zur Identitätsverwirrung, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und Nähe des weit Entfernten akzentuieren die Schwierigkeit der von unserer Gesellschaft als Ideal hochgehaltenen Individuation. Hier kann jeder alles sein und ist doch nichts so richtig – während man gleichzeitig versucht, die eigene Besonderheit zu betonen. Die natürlich die Anderen überstrahlen soll, weswegen aus der Parallelität schnell ein Wettkampf wird, ein sich gegenseitig von der Bühne verdrängen, des Usurpieren der Szenen des Anderen wird, die darin kulminiert, dass die Darsteller*innen irgendwann ihre eigenen Figuren von der Bühne treten. Regisseurin Lenk teilt die Spielfreude ihres Ensemble, scheut den grellen Effekt ebenso wenig wie den albernen Scherz und hält das Figuren- und Gesschichtenwirrwarr doch stets zusammen. Was entsteht, ist eine Rhythmisierung, Dynamisierung und Visualisierung eines doch immer wieder ins Theoretische und exemplarische abdriftenden Textes, der hier zu purem Spiel wird. Das Tempo ist hoch, der Orkan entsteht in den Szenenfragmenten und Figuren selbst. Ob er reinigend zu wirken vermag, ist dahin gestellt. Ein wahrhafter Bühnensturm, der begeistert und anregt, ist er in jedem Fall.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2015/06/21/hunde-im-orkan/#more-4590
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