Lea Ruckpaul: Bye Bye Lolita
An alle Arschlöcher da draußen
11. September 2024. In ihrem Romandebüt arbeitet sich die Schauspielerin Lea Ruckpaul an Vladimir Nabokovs Klassiker "Lolita" ab – und lässt die Titelfigur als erwachsene Frau auf die Ereignisse zurückblicken.
Von Shirin Sojitrawalla
11. September 2024. "Wenn Du geredet hättest, Desdemona", heißt ein 80er-Jahre-Buchhit der Autorin Christine Brückner, "Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen" sein Untertitel. Frauen, die zum Schweigen verdammt sind, ergreifen darin in gewitzten Monologen das Wort. Daran kann man denken, wenn Lea Ruckpaul nun Lolita herself ins Reden bringt, Vladimir Nabokovs Mädchenalptraum, erschienen 1955 und danach vielfach besprochen und vorgeführt.
Lo-li-ta – bekanntestes Missbrauchsopfer der Literaturgeschichte und nicht tot zu kriegende Männerphantasie – erinnert sich als inzwischen fast vierzig Jahre alte Frau, wie sich damals zugetragen hat. Mit dem Literaturprofessor namens Humbert Humbert und mit ihrer übergriffigen Mutter Charlotte. "Bye Bye Lolita" ist der erste Roman der Schauspielerin Lea Ruckpaul (Residenztheater München), die auch schon als Dramatikerin von sich reden machte.
Lolita führt bei ihr eine Art Selbstgespräch, es könnte sich auch um eine Beichte, eine Zeugenaussage oder eine Therapiesitzung handeln. Heraus kommt in jedem Fall ein langer Monolog und die Selbstermächtigung einer Figur. Ruckpauls Debüt liest sich wie ein Coming-of-Age-Roman, der die Pubertätsschübe aus "Frühlings Erwachen" aufnimmt und das fragwürdige Konzept "Mädchen" untersucht wie eine Geschlechtskrankheit. Lolita kämpft sich darin ins Leben und wirft ihren Opferstatus über Bord. Sie ist nicht nur unschuldiges Girl, sondern erinnert auch an die Protagonistin aus Lars von Triers feministischem Sex-Drama "Nymphomaniac". Das Lolita-Sein avanciert zur Super-Power.
Perspektivenwechsel
Auf der Handlungsebene ändert sich nicht viel, wenn auch Entscheidendes, mehr wird nicht verraten. Der gewaltige Unterschied: Die Ich-Erzählerin, genannt Lolita, ersetzt hier Nabokovs Ich-Erzähler Humbert Humbert. Eine Perspektivverschiebung von maximaler Tragweite, denn diese Lolita versteckt sich nicht, sondern stellt sexualmoralische Fragen: "Wenn ich jetzt zu dem Schluss käme, dass ich einmal oder sogar mehrmals Lust empfunden habe, beim Ficken mit Humbert Humbert, würde das dann heißen, er hat mich nicht vergewaltigt?" Weibliches Begehren trifft auf giftige Männlichkeit.
Zu Anfang ist Dolores Haze, genannt Lolita, abgekürzt Lo, 12 Jahre alt, also glasklar ein Kind. Das schützt sie nicht vor den Blicken der anderen.
Dabei verwischen sich die Bilder, die man von ihr hat. Filmversionen, Theateradaptionen und Lolitaklischees fallen in eins; rote Herzchenbrille auf der Stupsnase und Lolli im Kussmund. Lolita als lebensgroße Projektionsfläche.
Diejenigen, die in ihr schon immer das missbrauchte Kind gesehen haben, können das auch in Ruckpauls Roman tun. Die anderen, die sie als kühne Verführerin stilisieren, bekommen ebenso Futter für ihre Argumente. Diese Ambivalenz muss man aushalten beim Lesen dieses Romans. Sein ursprünglich angekündigter Untertitel setzt den Ton: "Diesmal geschrieben von Lolita, Ihr Arschlöcher". Die Arschlöcher sind wir, allen voran diejenigen, die Lolita zur ultimativen Kindfrau, zum Trash-It-Girl kürten.
Betreutes Lesen
Ruckpauls Lolita, die sich selbst als unzuverlässige Erzählerin outet, schlägt dabei einen frivolen Gossenton an, gebärdet sich oft rau und vulgär. Fresse-Ficken-Formulierungen schlüpfen bei ihr wie Kaulquappen. Dazu kommen schöne Komposita wie "Stiefvaterakzeptanz" oder "Aquamarinaugen" sowie schlagkräftige Sätze: "Das Patriarchat sitzt im Körper meiner Mami und bräunt sich in ihrer Aufmerksamkeit." Gegen Ende krankt die Erzählung dann an ihrer Hopplahopp-Dramaturgie und am Übereifer in Sachen Interpretation. Betreutes Lesen. Da hätte Ruckpaul ruhig mehr an die Aussagekraft ihrer Schreibkunst glauben dürfen.
Die Frage, ob ihr Roman ein feministischer sei, verneinte sie in einem Interview und erwiderte: "Es ist ein Roman über Freiheit." Es geht um die Freiheit, mehr zu sein als das, was die anderen von einem denken, und um das Recht auf Nichtkonformität. Dabei wirft Ruckpaul moralische Fragen auf, ohne sich eindeutig zu positionieren. Das ist dem Gegenstand (Mädchen, das) angemessen und bleibt gleichzeitig etwas unbefriedigend.
Bye Bye Lolita
von Lea Ruckpaul
Voland & Quist, 306 Seiten, 26 Euro
www.voland-quist.de
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