Du bist eh so viel

Die Schauspielerin Stefanie Reinsperger ist dick. Für viele Menschen kommt das einem Skandal gleich. Nun schlägt sie zurück.

Von Stephanie Drees

2. Juni 2022. Drei Frauen. Es ist Sommer, es ist heiß, zwischen den Körpern auf der Liegewiese des Schwimmbads ist wenig Platz. Die Frauen bahnen sich ihren Weg, sie reden, sie lachen. Eine der Frauen ist Schauspielerin, sie ist groß, blond und dick. Sie spielt viele Arten von Rollen, viele Arten von Frauen, von Charakteren. Von einem Mann auf der Liegewiese wird sie erkannt, er ruft ihren Namen, "Sie sind doch die…", sie will zunächst nicht antworten, weil in ihr eine Ahnung keimt, wohin das Gespräch führen wird. Aber sie will freundlich sein, den Smalltalk zulassen, über das Spielen, das Theater, der Mann hat sie auf der Bühne gesehen. Und dann, nach ein wenig Vorgeplänkel-Ping-Pong, kommt der Liegewiesen-Gast zur Sache: "(…) wissens, wos I Eana scho imma moi sogn woit: Des Kleid, wos Sie do onghobt hob’n in Soizburg bei dem 'Jedermann'. Do homs wirklich unmöglich ausgschaut. Des hot Eana goa net passt. Versteh I bis heit net, warum Sie so was ozogn hom. Dass Sie si do nit gschämt hob’n. Des wor wirklich net schön zum Anschaun.“

Die Körper der anderen

Die Schauspielerin ist Stefanie Reinsperger. Ihr Buch "Ganz schön wütend" erzählt von einigen dieser Szenen, den verbalen (und teils auch körperlichen) tagtäglichen Übergriffen, die viele Menschen als Petitessen abtun, als etwas, das man nicht an sich heranlassen sollte – auch, weil es allen, die ungefragt die Körper anderer kommentieren, Macht verleiht. Dieses Spannungsfeld thematisiert Reinsperger, wählt aber einen anderen Weg, als den sozial erwünschten. Sie schluckt nicht die Scham herunter, füttert nicht die Maxime, dass alle, die dick sind, auch eine dicke Haut haben müssen. Sie wählt den Weg der Wut. Schreibt über die Kraft, die in ihr liegen kann. In lose aneinandergereihten Kapiteln lässt sie die Leser:innen in ihren Kopf schauen. Das Buch diffundiert zwischen persönlichem Essay und schlaglichtartigem Memoir. Das Motiv der Wut verbindet die Kapitel. 

Alltagsszenen in der Bahn stehen neben Reflexionen über Rollenbeschreibungen in angebotenen Drehbüchern ("Maria, 33, eine wuchtige, brummige Erscheinung", "Clara, 45, dick, offensichtlich nicht an Sport interessiert") und neben dem Moment, als Reinsperger in Salzburg bis zur ihrer Gästewohnung verfolgt wird. Wie sie bedroht wird. Dass sie es wagen konnte. Diese Rolle, mit diesem Körper.

Stefanie Reinsperger war die "Buhlschaft" in Hugo von Hofmannsthals "Jedermann" bei den Salzburger Buchcover Reinsperger 3D midiFestspielen. Die Verführerin, der Inbegriff der Erotik. 2017 war das und sie längst eine der großen ihrer Generation. Sie spielte früh am Wiener Volkstheater, wurde Ensemblemitglied an der Burg und ist nun eine feste Größe am Berliner Ensemble. Sie spielt im Fernsehen eine Dortmunder Tatort-Kommissarin. Wenn über sie geschrieben wird, ist viel von Energie, Präsenz, Vollblutspiel, Leidenschaft die Rede. Von der Bewältigung großer Textmassen und wie sie durch sie hindurchfließen, wie sie Worte transformieren kann. Auch im Buch webt sie in einer größtenteils einfach gehaltenen, direkten Sprache diese Spiellust in den Bewusstseinsstrom. Bewährte literarische Verfahren kommen zum Einsatz, zum Beispiel fließen Innen- und Außenwelt oft ineinander. Kurzgedichte und poetische Spielereien, in denen zentrale Wörter des Textes zerlegt und neu zusammengesetzt werden, stehen zwischen den Kapiteln. Leicht abgedrehte, allegorische Dialoge zweier Druckkochtöpfe vermitteln spielerisch Gedanken um Selbstfindung, Liebe, Einsamkeit. Letzteres ist manchmal lustig, oft lässlich.

Spannend ist das, was unmittelbar und ungeschönt den Blick auf einen Erfahrungsschatz freilegt, der viel über unser neurotisches Verhältnis zu Normen, Idealen, Erwartungen und vor allem Zuschreibungen erzählt. Der weibliche Körper, er ist nach wie vor Allgemeingut. Er darf jederzeit bewertet und kommentiert werden, er muss sich im wahrsten Sinne einpassen. Es gibt immer noch die guten und die bösen Dicken (Erstgenannte wollen abnehmen, Letztgenannte nicht – oder tun nicht genug dafür), es gibt immer noch verhältnismäßig wenige Filme, Serien und Theatertexte, in denen das zentrale Thema der dicken Figur nicht ihr Dicksein ist.

Rehabilitation eines Begriffs

Eine Schauspielerin, deren Arbeitsinstrument ihr Körper ist, die ihn bewusst ausstellt und sich gleichzeitig wehrt – gegen die Festlegung als wandelndes Klischee, als Sidekick, als "unattraktive" beste Freundin der Heldin, als Amme, als Witzfigur, als zutiefst Unglückliche – provoziert in mehrfacher Hinsicht. Gleichzeitig gibt Stefanie Reinspergers exponierte Position ihr die Möglichkeit, daran mitzuwirken, den Begriff "dick" zu rehabilitieren. So, wie sie es selbst vorschlägt. Auch dafür braucht es eine Sprache.

Im Buch berichtet sie von sich, dem wütenden Kind, das im Theaterspielen früh einen Ort fand, an den die überbordenden Gefühle fließen konnten, über "Garderoben-Horror"-Erfahrungen, über Sätze wie "Steffi, bist eh so viel, du musst dann gar nicht mehr machen. Das ist halt dein Vorteil" mitten aus dem im woken Herzen des Kulturbetriebs. Von der Angst vor dem Hass, online wie offline. Das Buch erzählt nicht nur davon, wie es ist, als dicke Frau auf Bühnen und in der Öffentlichkeit zu stehen. Es geht viel darum, eine Sprache zu finden, die ehrlich mit der eigenen Verletztheit umgeht und es gleichzeitig vermag, klare Grenzen zu setzen. Nach innen wie nach außen. Allein das macht es wohl für viele Menschen anschlussfähig.

Reinsperger schreibt zu Beginn: "Nichts von dem, was ich schreibe und erlebt habe, ist neu. Das kann mir keiner erzählen. All das passiert jeden Tag jemandem in dieser unserer Gesellschaft. Und das macht mich wütend! Und ich möchte mir das nicht mehr gefallen lassen. Wir werden uns das nicht mehr gefallen lassen! Ja?"

Ist ein Vorschlag.

 

Ganz schön wütend
von Stefanie Reinsperger
Molden Verlag, 176 Seiten, 25 Euro.

 

 

 

 

 

 

Kommentare  
Reinsperger Buchkritik: Übergriffige Aussagen
Wenn mir diese Begebenheit im Schwimmbad passiert wäre, hätte ich mich nicht beherrschen können! Was geht es diesen Typ an, was ich trage? Was geht es irgendjemanden an was ich trage? Egal wie, so etwas muss ich nicht ertragen. Wenn jemand eine hässliche Visage hat gehe ich auch nicht hin und sage es einfach. Aber dem nächsten „Typ“ im Schwimmbad werde ich sagen, dass er mich damit provoziert. Das muss er doch verstehen oder?
Es ist einfach impertinent sich so eine Aussage zu erlauben. Viele Menschen denken ihren verbalen Auswurf überall mitteilen zu können und werden damit übergriffig! Eine Anmaßung wie ich meine. Die Öffentlichkeit könnte hier unterstützend einsetzen, tut es aber nicht. Und solange gibt es derartige Auswürfe, die vor Unausstehlichkeit nur so strotzen.
Viele Grüße aus Würzburg
Katharina Bethge
Reinsperger Buchkritik: Oft leises Leiden an der Übergriffigkeit
Das war natürlich eine primitive Impertinenz. Es gibt aber auch diese versteckte Impertinenz. Meine Mutter zum Beispiel war eine sehr dicke Frau. Es war keine Freßadipositas. Sie war trotzdem agil und soweit gesund, aber sozial in ihrem Beruf höchstbelastet, oft überfordert. Wenn sie dann wirklich mal was hatte, was hätte medizinisch behandelt werden müssen, gab es praktisch keinen Arzt, keine Ärztin und auch keine Krankenschwester, die ihr nicht als ERSTES gesagt hätte, dass sie halt zu dick wäre und erstmal abnehmen müsse, bevor sich lohnt, irgendetwas Heilsames sonst für sie einzusetzen... Sie ist also nicht mehr zum Arzt gegangen, auch nicht, als es mal echt schlimm war. Und starb unnötig zu früh im Alter von 71 Jahren. Ich konnte die leise, die laute und auch die scheinbar dinstinguierte Impertinenz von Kindesbeinen an bis zu ihrem Tod gut beobachten ebenso wie ihr leises Leiden an der Standard-Übergriffigkeit sowie ihre laute Abwehr, die obzön übergriffige Impertinenz durchaus auch mit obzön treffender Re-Impertinenz beantworten konnte. Und zwar SOFORT. Hätte sie ein Buch geschrieben darüber - zum Beispiel mit meiner sprachroutinierten Hilfe - hätte es niemand veröffentlicht. Weil sie keine namhafte Schauspielerin war und auch sonst keinem Verlag zu erlangene Reichweite durch Prominenz hätte garantieren können.
Reinsperger Buchkritik: Punkt getroffen
Toller Text, schöne Rezension, sehr lesenswert und hat den Punkt getroffen;
vermittelt viel über das Thema des Buches selbst!
Reinsperger Buchkritik: Eine Ansage
Ist eine Ansage.
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