Werden die Theater in der "Flüchtlingkrise" wieder wichtig?
Die Demut des Theaters
von Sophie Diesselhorst
5. Oktober 2015. Ist das, was die Theater in Reaktion auf die "Flüchtlingsdebatte" veranstalten, Kunst oder Sozialarbeit – oder ist das die falsche Frage? Hat das Thema die Theater möglicherweise auf den Weg gebracht zu einem neuen Verständnis ihres gesellschaftlichen Auftrags?
Flüchtlinge als Sonderlinge?
Die reine Dokumentationsebene wollen wir verlassen und mit Stichproben sowohl die neuen Formen des akt- oder auch artivistischen Engagements als auch die Verfrachtung des Themas auf die gute alte Bühne untersuchen – um der These nachzugehen, die der Münchner Soziologe Armin Nassehi im August in einem Artikel für die FAZ so formulierte: "Nicht unerwähnt lassen sollte man (...), dass es einen besonderen Typus des gebildeten Engagierten gibt, gerne im Zusammenhang mit Hochkulturinstitutionen wie dem Theater oder mit kirchlicher Beteiligung, die geradezu darum kämpfen, dem Flüchtling etwas vom Status des politischen Sonderlings und kulturell Interessanten zurückzugeben", so Nassehi. "Es werden Begegnungen organisiert, Kulturen und Religionen treffen aufeinander, es ist viel von Praxis die Rede, man möchte etwas von persönlichen Schicksalen hören und mehr Gemeinschaftlichkeit und Gemeinsamkeit erzeugen, als es einer modernen Gesellschaft womöglich guttut." Nassehi beobachtet in diesem Engagement eine "Zwangsauthentisierung" der Flüchtlinge, "womit sich vielleicht ein engagiertes Milieu eher Distinktion von den pöbelnden Kleinbürgern vor Flüchtlingsunterkünften verschafft als Lösungen für Flüchtlinge".
Solchen Überlegungen muss der Theaterbetrieb sich selbstkritisch stellen, wenn sein Engagement übers Surfen auf der großen Welle der Willkommenskultur hinaus eine Eigendynamik entwickeln soll.
Stichprobe Mannheim
3. Oktober 2015. Erste Station: Deutsches Nationaltheater Mannheim. Tag der deutschen Einheit. Tag der neuen deutschen Einheit? Angekündigt ist zusätzlich zur Doppel-Premiere "Ein Blick von der Brücke / Mannheim Arrival" eine "Lange Nacht der Begegnung". Sie beginnt mit Info-Ständen von Mannheimer Flüchtlingshilfe-Organisationen im Foyer und einer Rede des Migrationsforschers Klaus Bade.
In diesem bürgerlichen Rahmen schießt sich Bade auf "die Kulturpessimisten" ein und ruft sie zur Resignation auf, also dazu, sich der realen Situation zu stellen – die so aussähe, dass auf absehbare Zeit kein Ende der Wanderbewegungen gen Europa absehbar ist. Bade ruft auch ins gutwillig zwischenklatschende Mannheimer Publikum: "Ein Willkommensgruß ist noch keine Willkommenskultur." Er gehört zu denen, die schon lange vorhergesagt haben, was dem deutschen Innenminister zufolge völlig überraschend kommt.
"Mannheim Arrival"
Im Zentrum der Mannheimer Langen Nacht steht aber unzweifelhaft das Theater. Also, jenes Theater, in das man sich aufs Klingeln hin begibt und dann als Publikum äußerlich unbeteiligt zuschaut, wie sich ein Bühnengeschehen entwickelt. Der Intendant des Deutschen Nationaltheaters Burkhard C. Kosminski hat das Stück "Ein Blick von der Brücke" von Arthur Miller zusammengespannt mit einem Dokumentartheaterprojekt namens "Mannheim Arrival", in dem individuelle Fluchtgeschichten von in Mannheim Lebenden erzählt werden, aufgenommen und zu Monologen verdichtet von dem Journalisten (und Theaterkritiker) Peter Michalzik. Es ist eine Porträtreihe, Schauspieler*innen aus dem Mannheimer Ensemble – plus in jeder Vorstellung ein anderer Gast-Promi: Auf Ulrike Folkerts werden u.a. André Jung, Alexander Khuon, Ulrich Matthes und Dominique Horwitz folgen – sprechen die in der Ich-Form gehaltenen Texte, die Porträtierten werden als Bild auf eine große Leinwand projiziert oder sitzen auf der Bühne, im Profil oder mit dem Rücken zum Publikum.
Eine Halb-Entrückung, die wohl die Transformation vom "echten Flüchtling" zur Theaterfigur markieren soll. Lang und elliptisch sind die einzelnen Erzählungen, stark macht sie, dass die Suchbewegungen nicht hinausradiert wurden. Dramaturgisch wackelt "Mannheim Arrival" dagegen – wie in Björn Bickers vergleichbarem Text Illegal (aus dem Jahr 2008) sind chorische Passagen eingestreut, die aber anders als bei Bicker, wo sich in ihnen eine politische Bewegung formiert, hier lediglich für Abwechslung sorgen sollen.
Ästhetik aus Demut gemacht
Der Chor bildet auch den größten Aufwand, den die Inszenierung betreibt. Ihre Ästhetik ist aus Demut gemacht, Demut der Illusionsmaschine Theater vor den Realitäten, um die es hier geht. Das ist mutmaßlich bereits ein typisches Phänomen, wenn das Theater Flucht und Asyl auf die Bühne holt. Ästhetisch Pate stehen könnten für "Mannheim Arrival" die Pioniere des "Flüchtlingstheaters", die Freie-Szene-Gruppe Bühne für Menschenrechte mit ihren seit 2013 durch die Lande reisenden "Asyl-Monologen", deren sparsame Ausstattung allerdings maßgeblich von Mittel-Mangel bestimmt ist. Übrigens sind sie mittlerweile auch auf "großer Bühne" angekommen und stehen auf dem Spielplan des Berliner Maxim Gorki-Theaters. Auch wenn die "Demuts-Ästhetik" also gerade schwer en vogue ist: Sie hat eine Halbwertszeit, zumal mit dem Genre "Flüchtlingsporträt" gerade jedes Medium, das etwas auf sich hält, experimentiert. Und, viel wichtiger: Ließe sich nicht echte Teilhabe viel wirkungsvoller vorführen auf der Bühne, indem man die Türen öffnete für die Ästhetiken, die die "neuen Deutschen" mitbringen? In Mannheim wird damit immerhin auf musikalischer Ebene begonnen, eine international zusammengesetzte Band begleitet den Abend von Anfang an.
Vertreter des "Packs": Nichts zu hoffen für die Menschheit
Im Mittelpunkt der Arthur-Miller-Inszenierung "Ein Blick von der Brücke" in der ersten Hälfte stehen die Schon-Eingetroffenen – eine in Frieden gewachsene Gesellschaft wird symbolisiert durch eine Wand, an der mehrere Retro-Tapeten übereinander kleben. "Ein Blick von der Brücke" spielt in den USA nach dem zweiten Weltkrieg und nimmt an einer exemplarischen Geschichte die Reibungen aufs Korn, die die "Armutsmigration" aus dem zerstörten Europa im "Melting Pot" New York erzeugt. Im Zentrum steht der Hafenarbeiter Eddie, der Illegale bei sich unterbringt, ohne lange darüber nachzudenken. Als einer seiner Schützlinge mit Eddies Nichte anbandelt, schlägt Hilfsbereitschaft in aggressiven Rassismus um.
Burkhard C. Kosminskis Regie stilisiert Eddie vorsichtshalber zum in jeder Hinsicht unmöglichen Vollidioten, der seine Nichte von Anfang ungebührlich begrapscht und auch sonst nichts für die Menschheit hoffen macht. So wird diese erste Hälfte des Doppelabends zu einem schwachen Aufguss von Klaus Brades Auftaktrede mit der Mahnung zum langfristigen "Willkommensdenken", denn es ist viel zu einfach, Eddie dem "Pack" zuzuordnen.
Arbeitsplätze gesucht
Nach dem Theater gab es eine ganz normale Premierenparty. Die "Lange Nacht der Begegnung" beschränkte sich also weitgehend auf die konventionelle Begegnung von Bühnenschauspiel und Publikum. Wobei die Überforderung mancher Zuschauer*innen (der "Kulturpessimist*innen"?) sichtbar wurde, indem bei der Premiere gegen Mitte des langen zweiten Teils mit "Mannheim Arrival" ein kleiner Exodus einsetzte. Die Länge von "Mannheim Arrival" funktioniert besser als die indirekte Setzung der auf der Bühne anwesenden Porträtierten als Mittel gegen die "Zwangsauthentisierung" – denn sie führt die Protagonisten unweigerlich zurück in die Verwechselbarkeit, wenn dem Publikum die Köpfe vor Überinformation zu schwirren beginnen.
Unsichtbar für Otto Normalzuschauer*in, aber dafür in Pressemitteilungen des DNT umso stärker angepriesen und als "Zwei Module"-Taktik präsentiert, ist das begleitende Engagement des Theaters für die Geflüchteten, die an den beiden Produktionen beteiligt waren. Sie erhielten "individuelle, auf das jeweilige Bildungsniveau zugeschnittene Qualifikationsangebote, wie z.B. Sprachförderung oder berufsvorbereitende Kurse", gibt das NTM Auskunft. "Ferner versucht das NTM und seine Partner auch Ausbildungs- oder Arbeitsplätze bei Unternehmen der Metropolregion Rhein-Neckar zu vermitteln." Sollte das auch nur in einem Fall gelingen, wäre das "Die große Geste" des aufwändigen Unterfangens. Und es stünde 1:0 für die Sozialarbeit.
Ein Blick von der Brücke / Mannheim Arrival
von Arthur Miller / Peter Michalzik (Mitarbeit Lea Gerschwitz)
In Zusammenarbeit mit der Mannheimer Bürgerbühne
Regie: Burkhard C. Kosminski, Bühne: Florian Etti, Kostüme: Ute Lindenberg, Musik: Hans Platzgumer, Musikalische Leitung: Markus Sprengler, Video: Nils Blumenkamp, Licht: Nicole Berry, Dramaturgie: Lea Gerschwitz (a. G.) / Tilman Neuffer (a. G.)
Ein Blick von der Brücke mit: Ramin Akbari, Lamin Beyai, Mehretab Birikti, Ibrahim Camara, Thierno Daillo, Bahar Feratova, Azeb Tsegay Gebreselassi, Werede Mogos Gesesew, Michele Habtom, Solomon Haile, Shima Hamzehiyan, Nazeri Mohammad Hassan, Gabriel Hdraty, Modou Jarju, Marina Karoyan, Nazibrola Karoyan, Firehiwot Girma Kirstos, Semere Negasi Legese, Senay Mehari, Kidane Sium, Nodar Teliev, Alexander Tesfamariom, Dawit Weldu, Abel Yebio.
Mannheim Arrival mit: Ali Mohammed Abdirahman, Ramin Akbari, Momodou Ceesay, Shagufta Habib, Fariha Hussen, Muna Hussen, Modou Jarju, Ghafar Nurzaei, Poulina Fuaad Sheba, Linda Lendita Sylejmani.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.nationaltheater-mannheim.de
Einen "nachdenklich stimmenden Beitrag zum Saison-Leitmotiv 'Integration durch kulturelle Teilhabe'" des NTM hat Volker Oesterreich im ersten Teil des Abends mit Arthur Miller gesehen und schreibt in der Rhein Neckar Zeitung (5.10.2015): "Der Kunstanspruch dieser Produktion ist nicht allzu hoch, sehr viel wichtiger ist das Thema", und das werde im zweiten Teil der Doppelpremiere noch mehr zugespitzt. In "Mannheim Arrival" wirke ein Schicksal erschütternder als das andere, "aber der Ton bleibt sachlich und klar, heischt nie weinerlich um Mitleid", so Oesterreich: "Eine enorme Leistung, durch die sich dieses Bürgerbühnen-Projekt auszeichnet."
"Der erste Teil ist gut gemeint, in den Erzählertexten des Anwalts Alfieri (…) auch noch etwas zurechtgebogen auf die Thematik des zweiten Teils und taugt doch wenig zum Vorspiel, denn Millers Stück zeigt mehr verkorkste Liebesgeschichte und antikisierenden Fatalismus als Migrationsprobleme", schreibt Ralf-Carl Langhals im Mannheimer Morgen (5.10.2015). Im zweiten Teil werde klar: "Theater leistet mehr als Fernsehen." Das werde teils so konkret, "dass man es kaum aushalten kann", so Langhals: "Die schiere Masse der Einzelschicksale ist an diesem gut vierstündigen Abend kaum zu ertragen. Und man darf vermuten, dass die Spieldauer pure Absicht und hohe Dramaturgie ist."
"Auch schauspielerisches Können und die gefühlvolle musikalische Untermalung durch die von Flüchtlingen gestellte Band können nicht verbergen, dass die einstündige Inszenierung wie ein zu lang geratener historischer Kommentar zum Thema des Abends wirkt", schreibt Judith Engel in der taz (9.10.2015) über den ersten Teil des Abends. "Mannheim Arrival" setze dem an Aktualitätsgehalt und formal als performative Lesung "etwas entgegen". Aber obwohl es auf Engel durch die "verbindende Konstante" des beide Hälften des Abends bespielenden Schauspiel-Ensembles so wirkt, "als wäre diese Bühne der Ort, an dem Flucht und Unsicherheit über die Anerkennung als Flüchtling enden", ist sie insgesamt nicht zufrieden – und zieht den Vergleich mit Nicolas Stemanns Uraufführungs-Inszenierung von Elfriede Jelineks "Die Schutzbefohlenen": "Da schmetterten SchauspielerInnen dem mitwirkenden Flüchtlingschor entgegen 'Wir können euch nicht helfen, wir müssen euch doch spielen' und reflektierten die Schwierigkeit des 'Für jemanden Sprechen Könnens'." Solche Brüche fehlten in Kosminskis Mannheimer Doppel.
"In manchen Momenten erinnerte die Mannheimer Nacht (…) an einen alten VW-Bus, der mit guten Absichten beladen auf der Autobahn gen Süden fuhr, aber von der Aktualität dann doch überholt wurde – und zwar sowohl links als auch rechts", schreibt Lena Bopp in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (5.10.2015). Immerhin weise der zweite Teil "Mannheim Arrival" "in die Richtung, in die sich künftige Debatten werden wenden müssen", Debatten zur Frage: "Wo beginnt und wo endet eigentlich politisches Asyl?"
"Es ist ein unspektakulärer, aber dichter Abend", schreibt Sylvia Staude in der Frankfurter Rundschau (9.10.2015). "Seine Kraft kommt aus der Tatsache, dass er sagt, wie's ist, Flüchtling zu sein."
Stichprobe München
19. Oktober 2015. Zweieinhalb Tage lang luden Matthias Lilienthals Münchner Kammerspiele zu einem "Open Border Kongress" ein, der außerdem den Titel "Munich Welcome Theatre" trug und unter seinem Dach noch eine "Internationale Schlepper- und Schleuserkonferenz" beherbergte (die bereits im Vorfeld von CDU/CSU kritisiert worden war). Verwirrend? Lilienthal'sche Überforderungsstrategie ist bekannt aus HAU-Zeiten, wo alle zwei Wochen bei einem neuen Festival alles auf einmal passierte. So dass einem Hören und Sehen vergeht, auf dass man anfange in neue Richtungen zu denken?!
Im Zentrum des "Open Border Kongresses", der von Björn Bicker und Malte Jelden konzipiert wurde, stand ganz klar die Diskursanalyse bzw. -etablierung: Für die Gesprächspodien zu Themen wie "Perspektiven deutscher Einwanderungspolitik" oder "Deutschland postmigrantisch?!" war die große Bühne (nunmehr "Kammer 1") reserviert. Die Diskutanten saßen dort auf Neo-Biedermeier-Möbeln zusammen mit einem riesigen Blumenstrauß vorne auf der großen Bühne, hinter ihnen stieg eine Säule durchsichtiger Luftballons in den Bühnenhimmel, von denen zwischendurch auch mal einer platzte und ein knallendes Ausrufezeichen hinter eine der vielen Thesen setzte.
Trockenblumen-Thesensträuße
Als am Sonntagnachmittag über "Die Rolle der Kulturinstitutionen in der Einwanderungsgesellschaft" geredet wurde, wäre so ein Knall eher peinlich gewesen. Schließlich hätte das darauf verwiesen, dass auch Sprechblasen platzen können. In seiner steilen Keynote griff Mark Terkessidis Kulturstaatsministerin Monika Grütters ebenso an (ihr Integrationsmodell sei aus den 70er Jahren) wie den Theaterbetrieb ("Es herrscht eine mufflige Idee von Qualität in den hergekommenen Kulturinstitutionen"). Danach redeten die Wissenschaftlerin und Performerin Grada Kilomba, der Theatermacher Adnan Softić, Münchens Kulturreferent Hans-Georg Küppers und Hausherr Matthias Lilienthal, moderiert von der Kulturwissenschaftlerin Azadeh Sharifi, um den heißen Brei herum und wedelten mit ihren jeweiligen Trockenblumen-Thesensträußen – meistens.
Auf Sharifis Statement, die Theater würfen sich derzeit aktionistisch in den "Willkommenskultur"-Rausch, um einer Aufarbeitung ihrer Geschichte als Rassismus-Multiplikatoren zu entgehen, kamen immerhin indirekte Antworten – Küppers lobte die Volkshochschulen, die bereits nachhaltige Inklusionsarbeit leisteten, und forderte Lilienthal auf, das Projekt "Open Border Kongress" in Strukturen zu übersetzen. Lilienthal versprach, dass er das tun, sich außerdem um den "blinden Fleck Kolonialgeschichte" kümmern und die Belegschaft der Kammerspiele auf den in München repräsentativen Migrationsanteil von 37,2 Prozent bringen werde ("Im Moment sind wir bei 20, 25 Prozent, wofür ich mich entschuldigen möchte").
Mehr zur Sache ging es am Sonntagmittag, als die Verderbtheit der Willkommenskultur noch nicht ausgemachte Sache war, sondern gerade erst als Möglichkeit in den Raum gestellt wurde. Der eingangs zitierte Münchner Soziologe Armin Nassehi bezeichnete das Flüchtlingen-Winken-am-Hauptbahnhof als Reaktion auf Pegida, als Selbstvergewisserungsmaßnahme einer Gesellschaft, die sich für gut halten möchte. Der es also um das bestehende Wir geht und eigentlich nicht um die Neuankömmlinge. Ihm sekundierte die Schriftstellerin Jagoda Marinic: "Den helfenden Deutschen kannte ich schon, mir fehlt der Deutsche, der Augenhöhe kann."
Suspekte Hoffnung
Es lief in der von der "Zeit"-Journalistin Özlem Topçu moderierten Runde, in der außerdem noch die Migrationsforscher Vassilis Tsianos und Manuela Bojadzijev saßen, dann auf die Frage hinaus, ob das Thema Einwanderung die Zivilgesellschaft nachhaltig politisieren kann. Trotz seines Willkommenskultur-Skeptizismus räumte Armin Nassehi schließlich ein, dass die aktuelle Hilfsbereitschaft "durch alle Milieus" etwas Neues sei; dass Hilfsbereitschaft eine Grundüberzeugung zu produzieren im Stande sein könnte; und goss all seine Romantik in die Beschreibung der aktuellen als "kairologische Situation".
Eigentlich stand die Diskussion unter dem Titel "Deutschland postmigrantisch?!" Allerdings fassten die Diskutant*innen den Begriff "postmigrantisch" mit spitzen Fingern an. Sie referierten brav seine Genese in der Welt des Theaters (geboren wurde er mit Shermin Langhoffs Ballhaus Naunynstraße, das sich das "postmigrantische Theater" auf die Fahnen schrieb) und seine Karriere in die Wissenschaft hinein, wo er nun auf Evidenz auch in anderen Bereichen überprüft werde. Das utopische Moment, das in dem Wort steckt, schulterzuckte auch Jagoda Marinic weg, die Künstlerin in der Runde – er sei aus einer ihr suspekten Hoffnung geboren, "dass wir da sind, wo wir noch nicht sind".
Dass "postmigrantisch" im Theater nach wie vor ein lebendiges Konzept ist, bewies das Gastspiel Paradise Mastaz von Hajusom, den Hamburger Theaterveteranen der interkulturellen Arbeit. Eine rasante, charmante Aufhäufung der Fragen, die das so diverse wie eingeschworene Ensemble beschäftigen, und deren Relevanz fürs Publikum mit ausgestellten Theatermitteln wie Puppen erfolgreich bewiesen wird. Hallo, wach auf! Willkommen in der Einwanderungsgesellschaft, ihre Gründung hast du verschlafen! So fühlt man sich freundlich in die Seite geboxt, wenn die (Laien-)Schauspieler*innen sich mit Verve und identifikatorischer Überzeugungskraft in Rollen von Snob über Spießer bis Frontex-Offizier werfen. Das Theater kann sich also ohne Zaubertricks als Chef-Vermittler an die Spitze der "Flüchtlingsdebatte" setzen – wenn es die Türen öffnet für alle, die mittun wollen.
Theater als Brutkammer
Genau diese in letzter Zeit häufig zu vernehmende Forderung nahmen übrigens auch die Münchner Kammerspiele über die gesamte Dauer des "Open Border Kongresses" wörtlich: Sie öffneten ihre Türen, und zwar fast alle. So dass man in den Eingeweiden der Theatergebäude nach Belieben die Orientierung verlieren und wiederfinden konnte (siehe Video). Eine eigene Aktion, die an den Anonymous stateless immigrants Pavilion bei der diesjährigen Biennale Venedig erinnerte, bei dem vermeintliche Wegweiser den neugierigen Kunstgenießer in die Irre venezianischer Sackgässchen führen.
In den Kammerspielen gab es im Unterschied dazu ja dann doch einen "Pavillion" – sogar viele. In ihnen versammelte sich ein recht divers wirkendes Publikum, das zwar vor allem aus den eingeladenen Künster*innen, Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen zu bestehen schien – eine Art Urversammlung der Neuen Einwanderungsgesellschaft. Durch die Korridore wehte aber auch die Hoffnung, dass sie ihn, gestärkt durch die Gemeinsamkeit, draußen auf die Probe stellen werden. Draußen, jenseits des Theaters, das sich in diesem Fall als Brutkammer für einen sensiblen sozialen Prozess beworben hat.
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(Lieber Tobias Philippen,
vielen Dank für den Hinweis! Bedauerlicherweise handelt es sich hier um einen Redaktionsfehler. Bei der Umarbeitung einer entsprechenden Passage ist ein Nebensatz, der die beiden erwähnte, versehentlich rausgefallen. Wir haben die Namen Björn Bickers und Malte Jeldens jetzt wieder eingefügt.
Beste Grüße, Anne Peter / Redaktion)