Schwerpunkt Niedersachsen - Auftakt zur Berichterstattung über das Theater zwischen Harz und Nordseeküste
Punktsiege auf dem platten Land
von André Mumot
17. Oktober 2012. Es streckt sich, dieses zweitgrößte Bundesland der Republik – über die Heide bis hoch zur Nordseeküste. Es klettert die Harzhänge hinauf und wird im Osten irgendwann von der Elbe begrenzt. Und von weitem betrachtet, macht es, das kann man immer wieder hören, einen ziemlich neutralen, unaufregenden Eindruck. Wenig Folklore kommt einem in den Sinn, wenn man an Niedersachsen denkt, man hat auch keinen typischen Dialekt im Ohr. Politikerkarrieren werden in der norddeutschen Tiefebene gemacht, aber wem fiele eine landestypische Küchenspezialität ein? Grünkohlgerichte isst man hier. Mit Braunschweiger Pinkelwurst. Und das Theaterland? Von Hamburg aus betrachtet, von Berlin, von Wien aus erscheinen die Häuser, die in Celle oder in Lüneburg auf Publikumsfang gehen, gewiss wie der Inbegriff glanzloser deutscher Provinzkultur. Man kann das wohl so stehen lassen, wir finden aber: man sollte es nicht.
Schauspiel Hannover: Aufwind nach dem Gegenwind
"Die Niedersachsen reden sich gerne selber schlecht", sagt Lars-Ole Walburg, der gerade seine vierte Spielzeit am Schauspiel Hannover mit guten Auslastungszahlen begonnen hat. Der Start war holprig gewesen, die Akzeptanz mäßig. "Sie sind sehr offenherzig, die Niedersachsen, das mag ich. Sie haben mich mit ihrer Begeisterungsfähigkeit überrascht, aber sie sparen auch nicht mit deutlicher Kritik, wenn ihnen etwas nicht gefällt."
Das kleine Wendland-Protestdorf etwa, das 2010 von Regisseur Florian Fiedler mit Jugendlichen aus der Stadt auf dem Platz vor der Nebenspielstätte errichtet wurde, ist bei der Bürgerschaft, vor allem jedoch bei der sich überaus empört gerierenden CDU-Fraktion, auf wenig Gegenliebe gestoßen. "Ich würde das wieder machen", sagt Walburg, "aber genützt hat es uns nicht, eher geschadet." In Hannover herrscht bei manchem noch immer Misstrauen, hier wünscht man sich noch, dass Theater Theater macht und nicht Soziokultur mit Agit-Prop-Anstrich.
Inzwischen aber atmet Walburg vorsichtig auf, verweist auf ausverkaufte Vorstellungen, verlegt die kontroverseren Produktionen von der Großen Bühne auf die alternativen Spielorte und bleibt seiner bei den Kritikern beliebten Vorstellung künstlerischer Herausforderung und politischer Wachsamkeit treu. "Die 200.000 Besucher, die mein Vorgänger Wilfried Schulz pro Spielzeit erreicht hat, steuere ich gar nicht an, aber 180.000 sind mein erklärtes Ziel. Auch ich will die Bude voll kriegen."
Kein Kahlschlag wie im Ruhrgebiet
Die Situation ist hier, wie überall, bedrohlich. Die Subventionen werden gekürzt, und die festgelegten Tariferhöhungen machen es unmöglich, unter den bisherigen Bedingungen weiterzuarbeiten. Bislang jedoch musste in Niedersachsen noch keines der etablierten Häuser schließen. Das Theater für Niedersachsen (TfN), eine Fusion aus dem ehemaligen Stadttheater Hildesheim und der Landesbühne Hannover, stand 2011 kurz vor dem Aus, nachdem die Stadt Hildesheim geplant hatte, ihre Förderung einzustellen. Nach starken Protesten aus der Bevölkerung jedoch konnte dies abgewendet werden. Heute steht das Drei-Sparten-Unternehmen, das mit Schauspiel, Oper, Konzertprogramm und seiner eigenen Musical-Company nicht nur das Haus in Hildesheim bedient, sondern durch große Teile des Bundeslandes tourt, stabil da. Die Finanzierung ist bis 2014 gesichert, die größtenteils freundlich-gefälligen Vorstellungen werden gut besucht, das TfN ist früher als erwartet wieder liquide.
"Die Kulturpolitik in Niedersachsen geht vorläufig klug und bedächtig vor", räumt Lars-Ole Walburg ein. "Der Kahlschlag, den andere Regionen wie das Ruhrgebiet hinnehmen mussten, ist uns bislang erspart geblieben." Doch der Optimismus ist verhalten. "Wir stehen gerade alle so ein bisschen unter Schockstarre. Bis zur Landtagswahl im kommenden Januar wagt niemand, über harte Einschnitte zu reden. Was danach passieren wird, kann man aber nicht wissen."
So wappnet sich die Theaterlandschaft Niedersachsens, so gut sie kann. Neben den beiden Landesbühnen (dem TfN und der in Wilhelmshaven ansässigen Landesbühne Nord) sind es die drei Staatstheater in Hannover, Braunschweig und Oldenburg, sowie die kommunalen Theater: das Schlosstheater Celle, das Theater Lüneburg, die Städtischen Bühnen Osnabrück, sowie das Deutsche Theater in Göttingen.
Sektlaune am Deutschen Theater Göttingen
In letzterem herrscht derzeit Sektlaune, schließlich blickt man auf eine Rekordspielzeit zurück. Das von Stadt, Land und Kommune geförderte Haus, das etwa 540 Aufführungen im Jahr stemmt, kann ca. 2500 Abonnenten aufweisen und hatte in der vergangenen Spielzeit 106.000 Zuschauer – eine höhere Auslastung sei in den Aufzeichnungen bislang nicht zu finden, heißt es munter.
Das, was landauf, landab versucht wird – hier scheint es zu funktionieren. "Wir öffnen das Theater in die Stadt", erklärt Intendant Mark Zurmühle. "Wir biedern uns nicht mit Unterhaltungsware an, sondern greifen die lokalen Themen auf und beziehen den Landkreis und das Umfeld mit ein." Thomas Bernhards "Theatermacher" etwa wurde in alten Tanzsälen und Gaststätten kleiner Dörfer aufgeführt, und anschließend konnte das Publikum mit dem Ensemble zusammensitzen, Schnitzel essen, diskutieren. Das Theater soll nicht zur Berieselung dienen, sondern als Möglichkeit genutzt werden, die eigene Identität zu reflektieren: Jugendliche aus der Stadt tanzten und sangen die "West Side Story", und zurzeit richtet Mark Zurmühle eine Bürgerbühne ein, in der junge Menschen und Senioren ihre Lebenswelten abgleichen, Aufführungen entwickeln, Schwellenängste aufheben. "Außerdem planen wir einen Kultur-Bus, der die Menschen aus der Region leichter ins Theater und zu den anderen Kulturträgern bringt. Und wir arbeiten immer mehr mit der freien Szene zusammen, wodurch ganz andere Impulse ins Spiel kommen – und auch ganz neue Zuschauer."
Die Zugvögel der Freien Szene
Überhaupt: die freie Szene. Zwischen 90 und 100 Gruppen sind in Niedersachsen aktiv – und nicht wenige entspringen einer überaus regen universitären Schmiede. In Hildesheim, wo man Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis, Kulturvermittlung und Szenische Künste studiert, hat sich ein ungewöhnlich fruchtbarer Nährboden für junge Bühnentalente entwickelt. "Es entstehen hier sehr viele Erfolgsgeschichten", berichtet Daniela Koß von der Stiftung Niedersachsen, die auch das in Hannover stattfindende Festival "Best Off" für freies Niedersächsisches Theater mit organisiert. "Allerdings können wir manchmal kaum so schnell gucken, wie die Gruppen dann nach Berlin verschwinden."
Tears in Heaven). Das Duo "Markus und Markus", das im Rahmen einer experimentellen Studentenreihe namens "Kapitalismusschredder" eben noch eine schrill-wilde Anti-Korruptions-Performance im winzigen Hildesheimer Theaterhaus umsetzte, entwickelte wenig später im diesjährigen Projektlabor des Berliner Theatertreffens einen Abend mit Mentor René Pollesch.
Das Kollektiv "Vorschlag:Hammer" etwa ergatterte schon mit seiner allerersten Aufführung 2010 den Körber Preis für junge Regie, und die Premieren der beiden Folgestücke fanden im Ballhaus Ost statt (sieheEs gibt aber auch Tendenzen, die der Landflucht entgegenlaufen. Johannes Arnold etwa, ebenfalls Hildesheimer Absolvent, zog mit seinem "Theater 11. August" ins kleine Dörfchen Taaken, wo er in leerstehenden Geschäften einen überaus erfolgreichen Abend über die Entwicklung des ländlichen Umfelds und das Aussterben der Tante-Emma-Läden inszenierte. Abseits der Städte geht es also weit rühriger zu, als man meinen würde. In der Lüneburger Heide gibt es das "Jahrmarkt-Theater", das Musicals in einem Bauernhof aufführt, und das "Letzte Kleinod" fährt mit seinem eigenen ozeanblauen Zug durch Niedersachsen, hält auf Abstellgleisen in kleinen und kleinsten Ortschaften und erzählt in eigens konzipierten Aufführungen von den Orten selbst, von Waffenlagern, Ein- und Auswanderergeschichten, vom Leben der Menschen (siehe die Nachtkritik zu Atalanta).
nachtkritik.de schaut hin
Theater kämpft in Niedersachsen ums Überleben, wie überall sonst auch, es macht aber einen ziemlich lebendigen Eindruck dabei. nachtkritik.de jedenfalls schaut sich in den kommenden Wochen und Monaten, gefördert durch die Stiftung Niedersachsens, das zweitgrößte Bundesland genauer an. Hier in der Tiefebene, an der Küste, an den Hängen des Harzes, wo Stadt- und Staatstheater, ehrwürdige Häuser und kleine freie Gruppen längst begriffen haben, dass sie immer ein ganz konkretes Publikum begeistern, herausfordern, neu gewinnen müssen, lässt sich vielleicht sehr viel darüber erfahren, was Theater in Deutschland heute tatsächlich bedeutet, was es, abseits seiner selbstbezüglichen Diskurse, leistet, wo es scheitert und wo es triumphiert. Wir schauen hin. Wurde ja wirklich Zeit. Und vielleicht essen wir sogar Grünkohl. Mit Braunschweiger Pinkelwurst.
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