Eine Ampulle europäische Endzeitstimmung, bitte!

von Sophie Diesselhorst

Berlin, 22. April 2016. Das Krankenhausbett. Es ist weg. Auch die treibhausverglasungsartige Himmelsdecke, sie liegt auf dem Boden. Steven Scharfs Kopf hat noch ein Loch hineingeschlagen, als er sich aufrecht stehend unterwarf. Und nun steht er weiter da unter nackten Neonröhren. Die Himmelstreppe, die aussieht wie ein Minbar, geht noch viel höher als vorher geahnt. Aber ihre Stufen sind aus Papier, das hat François (Scharf) vorher schon gemerkt, als er sie einmal versuchsweise betrat.

Flucht aus dem Stück

Keine Erlösung möglich? Doch, durch die Unterwerfung, deutet diese Schlussszene von Stephan Kimmigs Houellebecq-Inszenierung im Deutschen Theater dann doch an – immerhin steht François ja jetzt nach zwei langen Stunden in einer Art Außenwelt, die er allerdings schleunigst durch die Hintertür verlässt. Diese Flucht aus dem Stück ist irgendwie das Logischste, das an diesem Abend passiert, der sich ansonsten der Logik von Houellebecqs Vision der nahen europäischen Zukunft beharrlich entzieht, indem er François, den Houellebecq-typischen Intellektuellen mit permanentem Lebensenergie-Verlust und Macho aus Verzweiflung, in Isolationshaft sperrt. Oder auch: als an Europäischer Endzeitstimmung leidenden Patienten mit Samthandschuhen anfasst.

Womit wir wieder beim Krankenhausbett wären, in dem François liegt oder sitzt und manchmal Besuch von der unverständlichen Welt bekommt, aber ihre Beziehung ist unverbindlich. Es gibt zum Beispiel einen Wahlkampf, in dem Marine Le Pen eine "wunderbare Rede in republikanischem Geiste" hält und dabei "sogar richtig hübsch aussieht" – endlich hat sie ihren Merkel-Komplex abgelegt und traut sich, revolutionär zu sein. Lorna Ishema leiht ihr in die Tricolore gehüllt siegesgewisse Überzeugungskraft; trotzdem haut die Besetzung der Front National-Frontfrau mit einer schwarzen Schauspielerin in diesem Kontext irgendwie nicht hin, weil sie etwas Verkrampftes hat.

Unterwerfung3 560 Arno Declair hBitte schon mal freimachen: Steven Scharf als François und Lorna Ishema als seine Geliebte Myriam © Arno Declair

Das dürfte daran liegen, dass die Inszenierung insgesamt so wenig politische Haltung bezieht wie ihr Protagonist, der es auch irgendwann mal ausspricht: "Ich bin so politisiert wie ein Handtuch." Der Effekt wäre wohl ein anderer, wenn Kimmig sein Psychogramm scharf stellen würde. Aber dadurch, dass es einfach überhaupt keinen weltlichen Hintergrund gibt, vor dem man François' geistige Stagnation wirklich als solche wahrnehmen oder vielleicht sogar doch eine Entwicklung beobachten könnte, wird es immer schwieriger, der Erzählung des Abends zu folgen, die dann auch irgendwie vor sich selbst kapituliert und zum Beispiel zu François' Erzählung von einem Sex-Abend mit zwei Frauen vom "Eskort-Service", in der das Eier-Lecken eine große, weil Gefühls-erweckende Rolle spielt, zwei große Gummi-Hüpfbälle auf der Bühne erscheinen lässt.

Natürlich ganz nebenbei. Umso seltsamer wirken in diesem sorgfältig sinnentleerten Kontext eben Szenen wie die Le-Pen-Rede von Lorna Ishema oder eine minutenlange Einspielung von Werbevideos der (französischen) Identitären Bewegung – da kommt man sich als Zuschauer*in kurz vor wie in einer unfreiwilligen Wahlkampfveranstaltung.

Das Lächeln des Patriarchats

Es wird ja dann auch noch gewählt. Der Sieger, Präsident Ben Abbes (Cammil Jammal) von der Muslimbruderschaft, macht im Anschluss seine Aufwartung an François' Krankenhausbett und erklärt ihm seine Post-Unterwerfungs-Privilegien und wie jetzt alles laufen wird: Zum Beispiel wird die Arbeitslosigkeit dramatisch gesenkt – was, gibt Ben Abbes charmant lächelnd zu, natürlich auch am Rückzug der Frauen aus dem Arbeitsleben liegt. Großes Gelächter beim DT-Premierenpublikum. Wir und die: Dem hat diese Inszenierung wahrlich nichts entgegenzusetzen, ganz im Gegenteil. Ob gewollt oder aus Ratlosigkeit, leistet sie genau der Geisteshaltung Vorschub, die sich aktuell am deutlichsten in der Errichtung neuer sichtbarer und unsichtbarer Grenzen in und um Europa manifestiert – und die Houellebecq in der Vorlage sehr viel genauer fasst.

Trotzdem sieht auch diese Vorlage – in dieser Inszenierung – alt aus. Als wäre sie überholt worden von den schlimmen Geschehnissen der letzten anderthalb Jahre, den Terror-Anschlägen in Paris und Brüssel und der weiteren Polarisierung der politischen Diskussion; aber es gibt ja als Gegengewicht auch eine erwachende Zivilgesellschaft, die sich in Frankreich Nuit Debout nennt und den öffentlichen Raum als analoges Debattenforum wiedererobert. All das bleibt an diesem Abend im Deutschen Theater draußen.

 

Unterwerfung
nach dem Roman von Michel Houellebecq
Fassung von David Heiligers und Stephan Kimmig
Regie: Stephan Kimmig, Bühne: Katja Haß, Kostüme: Sigi Colpe, Musik: Michael Verhovec, Video: Julian Krubasik, Licht: Robert Grauel, Dramaturgie: David Heiligers.
Mit: Lorna Ishema, Camill Jammal, Marcel Kohler, Wolfgang Pregler, Steven Scharf.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.deutschestheater.de


Michel Houellebecqs Roman Unterwerfung läuft derzeit landauf und landab, zum Beispiel in Hamburg (Regie: Karin Beier), in Wien (Regie: Ali M. Abdullah) und in Dresden (Regie: Malte C. Lachmann).

 

Kritikenrundschau

Wolfgang Höbel schreibt auf Spiegel Online (23.4.2016, aufgeschlagen 24.4.2016): Stephan Kimmigs Inszenierung folge einem "klaren Konzept", das spreche für ihre "intellektuelle Kraft", sei aber auch ein "bisschen ihr Verhängnis". Steven Scharf spiele François als "depressiven Leidensmann - und immerfort gegen einen sterilen, schneeweißen Krankensaal an". Kimmig erzähle eine "Krankengeschichte, die nicht bloß Frankreich, sondern ganz Europa" meine, wo sich die liberalen Gesellschaften selbst zerfleischten. Deshalb müsse Scharf einen "krampfgeschüttelten Schwermutsmenschen" spielen. Trotzdem sei es ein "großes Vergnügen", ihm zuzusehen, wie er sich "in schüchternen Tanzbewegungen freizumachen versucht von der Last der Verklemmungen". Die "schöne Schauspielerin" Lorna Ishema sei in allen Frauenrollen "eine Art idealtypischer Männertraum, der dem maladen Helden mal als Pflegerin und mal als Madonna eine Aussicht auf Erlösung verschafft".

Christine Wahl schreibt im Berliner Tagesspiegel (23.4.2016, aufgeschlagen 24.4.2016): Kimmigs Fassung mit ihrer veränderten "Erzählchronologie" biete Verständnismühen für alle diejenigen, die den Roman nicht kennten. François sei in dieser Version der "klinische Patient Europa", personifiziert im "weißen, heterosexuellen, alternden (und gegenständlich wie metaphorisch entsprechend potenzgestörten) Angst- oder vielleicht auch Angstlustneurotiker". Alle Handlung entspringe "offenbar dem Kopfkino dieses Patienten", den Steven Scharf als "einerseits passiven, andererseits latent grundhibbeligen Schlafanzughosenträger" spiele. Die starke Setzung durch dieses "Patientenpsychogramm" sei einerseits verständlich, entschärfe andererseits aber das "Aufregerpotenzial" des Stoffes. Der Abend mutiere so zu "einer Art Metatheater", das das "komplette Houellebecq’sche Erzählfleisch" abspecke, und dem man die Vermeidungsstrategie so deutlich anmerke, dass man sich frage, "warum das DT den Stoff denn eigentlich inszeniert hat".

Matthias Heine von der Welt (25.4.2016) findet: "Regisseur Kimmig und die seinen machen alles richtig. Sie nehmen den Roman nicht als kreischende Warnung vor dem Islam, sondern als das, was alle Houellebecq-Romane sind: zunehmend komischer werdende, wollüstig sich in Dekadenz ergebende Reflexionen über Frankreich und damit auch über Europa." Und dennoch sei es ein "erregungsloser, etwas streberhaft hinplätschernder Abend, der eigentlich nur beweist: Deutsche Bühnen können auch aus den allergrößten Menschheitsthemen appetitliches Diskurs-Sushi auf dem Rundfließband schnippeln."

Dirk Pilz schreibt in der Berliner Zeitung (25.4.2016), die beste Nachricht des Abends sei, dass die Inszenierung sich nach Kräften bemühe, schlichte Zuschreibungsmechanismen zu vermeiden. "(K)eine Maschinengewehre, keine Männer mit Bärten, keine IS-Flaggen, keine Mohammed-Karikaturen." Es sei ein nüchterner, fast ausgekühlter Abend, der aber nicht haltungslos bleibe. Die Inszenierung nehme sich die Freiheit, "keine vorschnelle Meinung zu formulieren, sondern ein Figurendasein begreifen zu wollen". Leider wolle der Abend am Ende doch Warnzeichen sein und wird schließlich doch noch "plump und polternd".

André Mumot von Deutschlandradio Kultur (aufgerufen am 25.4.2016) findet: "Es hätte diese neuerliche Adaption nicht gebraucht, zumal der Roman so wenig bietet, was wirklich für die Bühne taugt." Der ganze Abend offenbare sich als bemühte Kurzfassung für Lesefaule, für alle, die mitreden möchten, ohne sich die Mühe machen zu müssen, sich eigenständig durch die provozierend nüchterne Gedankenwelt Houellebecqs hindurchzukämpfen. "Diese 'Unterwerfung' bleibt Referatstheater und Pflichterfüllung."

Mounia Meiborg von der Süddeutschen Zeitung (25.4.2016) findet, Kimmig löse den Text von den im Roman beschriebenen Szenen und konstruiere mit der Krankenhausszenerie eine neue, symbolträchtige Rahmenhandlung. Die Machtübernahme einer islamischen Partei erscheine hier als Fiebertraum eines psychisch beschädigten Mannes. "Aber diese Deutung hält einen Sicherheitsabstand zum Stoff." So finde der Abend keine Haltung zur Dystopie, von der er berichte. "Das Faszinierende an Houellebecqs Roman ist das Nebeneinander von Bekanntem und Undenkbaren. Hier aber ist alles in eine klinische Parallelwelt gerückt."

Hubert Spiegel schreibt in der FAZ (25.4.2016): "Indem Kimmig aus François einen Patienten macht, einen hibbeligen Schwermutsneurotiker, der aus der Pyjamahose gar nicht mehr heraus möchte, nimmt die Inszenierung von Anfang an die falsche Richtung." Sie bringe sich damit um jede Brisanz. "Houellebecqs Roman, das zeigen bislang vier Dramatisierungen in Hamburg, Dresden, Wien und Berlin, hält viel aus. Aber was er gar nicht gut verträgt, das sind Beruhigungsmittel, wie sie ihm Stephan Kimmig jetzt verabreicht hat."

 

Kommentare  
Unterwerfung, Berlin: politisiert wie ein Handtuch
Dem Abend fehlt jegliche Haltung – zu seinem Stoff, seinem Protagonisten, der Welt, die Houellebecq so dezidiert auseinandernimmt. Eine Gesellschaft, die sich zunehmend als ihrer Werte verlustig ansieht und zunehmend bereit ist, einfachen Antworten und simplen Gewissheiten zu folgen – ist uns das, was im Mittelpunkt von Houellebecqs Roman steht, denn in Zeiten von Pegida, AfD, Donald Trump und implodierenden Volksparteien denn ganz unbekannt? Und doch verweigert der Abend jeglichen Versuch auch nur zu behaupten, dass hier könnte irgendetwas mit uns zu tun haben. Handwerklich betrachten ist er eine Abfolge von Romanlesungen mit schwerfälligen Szenenandeutungen ohne roten Faden oder irgendeine dramaturgische Stringenz. Er schlingert unwuchtig dahin, auch weil er keinerlei Ziel hat, auf das er zusteuert. Da passt es auch, dass er eine eigentlich ganz schöne Schlussszene komplett versemmelt: Da erklärt der islamische Präsident dem im Bett liegenden François seine Politik und lullt in damit in seliger Selbstvergessenheit ein. Nur leider dauert die zunehmend geschwätzige Szene viel zu lange und nutzt Kimmig die Gelegenheit nicht, hier ein Ende zu setzen. Stattdessen kommt noch die Decke herunter, findet sich der sich dem neuen unterwerfende Protagonist in einem neuen weiten Universum wieder und kann, seiner persönlichen Verantwortung entledigt, seine selbstgewählte Zelle endlich verlassen. Was bei Houellebecq in seiner Logik erschreckt, verpufft hier unbesehen. “Ich bin politisiert wie ein Handtuch”, sagt François an einer Stelle. Für diesen Abend gilt nämliches.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/04/23/politisiert-wie-ein-handtuch/
Unterwerfung, Berlin: zu wenig Theater gespielt
Der Regisseur Stephan Kimmig und sein Dramaturg David Heiligers waren sich des Problems dieses Theaterabends bewusst. In der Berliner Morgenpost sprachen sie wenige Tage vor der Premiere über die Herausforderung, “Leere zu zeigen, ohne dass es langweilig wird”. Das ist schon bei Schillers “Don Carlos” vor einem Jahr nicht gelungen, als der Abend unter der Glasglocke erstarrte. Das glückt auch diesmal nicht. Im Lauf der zwei Stunden entsteht immer wieder Unruhe im Saal durch Zuschauer, die sich Richtung Ausgang durchkämpfen.

An diesem Abend wird viel zu wenig Theater gespielt. Eine weitere Schwäche von “Unterwerfung” ist, dass er sich zu ausgiebig mit den Sex-Phantasien der depressiven Macho-Hauptfigur befasst anstatt sich auf die spannenden politischen Fragen, die der Stoff aufwirft, zu konzentrieren.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/04/23/patient-europa-stephan-kimmig-adaptiert-am-deutschen-theater-houellebecqs-roman-unterwerfung/
Unterwerfung, Berlin: Miriams starke Szene
Habe die Unterwerfung am 18. 10.16 in Berlin gesehen. Aufmerksames Publikum, viel Applaus. Mich hat die Szene beeindruckt, in der Miriam Francois sagt, dass ihre Eltern nach Israel auswandern, sie aber gar nicht will, zumal sie mit Francois gerade guten Sex hatte und ihm gesagt hat, dass sie ihn liebt. Er ist nicht fähig, ihr vorzuschlagen, bei ihm zu bleiben. Ihre e-mails werden vorgelesen, in denen sie das abwechslungsreiche Leben in Tel Aviv beschreibt trotz der ständigen Bedrohung. Sie ist mit ihren Eltern aus Frankreich geflohen, weil sie um ihr Leben fürchteten. Jetzt ist das ganze Land Israel bedroht.

Das Thema wird in einer anderen Szene weitergeführt, als der neue Präsident Francois sagt, dass die muslimische Regierung Christen in Ruhe leben lassen wird. Francois fragt: und die Juden? Der muslimische Präsident ist am Weggehen und antwortet nicht. Hinter ihm fällt die Tür zu. Es ist eine starke Szene, und ich frage mich, wie das Publikum diese Szene aufgenommen hat. Aus dem Roman warn sie mir nicht so deutlich und tragisch in Erinnerung. Warum hat Stephan Kimmig diese Szene herausgegriffen?
Unterwerfung, Berlin: westliches Abhärtungsprogramm
Krieg zu führen, liegt in der Natur des Menschen (Houellebecq – Unterwerfung)
Ich war gerade in Prag und habe versucht, mich mit dem BAEDEKER (17. Auflage 2013) schlau zu machen. Zur „samtenen Revolution“ heißt es da: „Die Wahrheit und die Liebe siegen über Lüge und Hass: So formulierte es Vaclav Havel im November 1989 bei einer Demonstration auf dem Wenzelsplatz“. Und die „berühmte Persönlichkeit“ Madeleine Albright wird mit den Worten zitiert: „Mein Leben lang glaubte ich an die Tugenden einer demokratischen Regierung, an die Notwendigkeit, sich gegen das Böse zu stellen und an den jahrhundertealten Wahlspruch der Tschechen: ‚Pravda vitezi‘ oder ‚Die Wahrheit wird siegen‘ “.
Da ist es ganz erfrischend, sich als Kontrastprogramm mit Houellebecq darüber zu wundern, warum der Westen so überaus stolz auf sein System war und es nicht selten sogar zum Krieg kam, um dieses System anderen Ländern aufzuzwingen, die diesbezüglich weniger enthusiastisch waren.
Nachdem sich das Leben von Houellebecqs Protagonisten in „Karte und Gebiet“ schon so ähnlich gestaltete wie die perfekt verarbeitete Fahrgastzelle eine Audi Allroad A6 – „friedlich, freudlos und endgültig neutral“ - und er sich bereits als Mordopfer sah, wobei der mit dem Fall beauftragte Hauptkommissar selten jemanden gesehen hatte, der ein so beschissenes Leber führte, nach all dem war ich verwundert, dass sich der Protagonist Francois wieder gern als Akteur in Porno-Clips hineinfantasiert und dies rüde verbalisiert.
Auf die rüden Verbalisierungen verzichtet auch die Inszenierung von Stephan Kimmig nicht, allerdings wird dadurch nicht irgendein Verlangen bis zur Unerträglichkeit gesteigert, sondern es wird – dichtgedrängt im vollbesetzten Deutschen Theater – das westliche Abhärtungsprogramm durchgezogen: Dass jeder Schein, jede Zwiebelschale trügt und dass die Existenz eines wahren Kerns höchst unsicher ist.
Nein, ich vermag beim besten Willen in dieser Couch-Potato Francois keinen Repräsentanten Frankreichs oder Europas auszumachen. Die Inszenierung im Deutschen Theater steht unter dem Schock eines grausamen Missverständnisses: Charlie Hebdo wollte sich über Houllebecq lustig machen, nicht über den Islam. Um jetzt ja nichts falsch zu machen, nimmt die Inszenierung beide, Houllebecq und den Islam, gehörig ernst und bietet sogar eine hingebungsvolle Interpretation an, wenn für den – dem Christentum entfremdeten – Menschen der Aufschwung ins himmlische Paradies verwehrt bleibt, mag ihm der Islam – nach ritueller Reinigung – die Welt als vollkommene göttliche Schöpfung, als absolutes Meisterwerk, als „Paradies auf Erden“ neu zu offenbaren und er hätte nichts zu bereuen. Und durch die Unterwerfung herrschte Liebe statt Krieg.
Auch das Publikum wollte ja nichts falsch machen und hat fast ängstlich die zweieinviertel Stunden ausgeharrt, um am Ende - wohlwollend und erleichtert - zu applaudieren.
Aber ach, mein Zweifel, dass jeder Schein nur trügt.
Unterwerfung, Berlin: eigene Denkfreude
Miriam und die Tonne
@3 Hallo Ingrid Schiffler,
ich glaube, UNTERWERFUNG ist nicht mehr so im Fokus, und Ihre Frage wird ins Leere gehen. Es ist vielleicht auch nicht gut, wenn die Inszenierer ihre Sicht der Dinge zu explizit darlegen, das behindert ja eher die eigene Denkfreude. Ich meinerseits habe mich gefreut, die Meinung von jemandem zu lesen, der sich das Stück am gleichen Abend angesehen hat. Zumal Sie offenbar jemand sind, der in der Menge an Material, das manchmal auch öde ist, wo die Schauspieler nur Text von sich geben, und nicht selten auch Schmutz, dass Sie jemand sind, der darin die Perle des Schönen und Guten wahrnimmt. Ich glaube, Houellebecq selbst würde es freuen, wie Sie das Verhältnis von Miriam zu Francois sehen, dass sie gern so guten Sex mit ihm hat, dass sie ihn liebt und gern bei ihm bleiben würde. Immerhin hat er sich auch beherrscht, als Miriam ihn fragte:
„ ‚Nehmen wir einmal an, du hättest recht mit deiner Meinung über das Patriarchat, dass es das einzige lebensfähige System ist. Trotzdem habe ich studiert, ich wurde dazu erzogen, mich als Individuum zu betrachten, das über ein dem Mann gleichwertiges Reflexions- und Entscheidungsvermögen verfügt. Und was passiert jetzt mit mir? Bin ich gut für die Tonne?‘
Vermutlich wäre ‚Ja‘ die richtige Antwort gewesen, aber ich schwieg, letzten Endes war ich wohl doch nicht so ehrlich.“
Im übrigen ist es eine Freiheit der Inszenierung, den muslimischen Präsidenten Ben Abbes selbst auftreten zu lassen. Im Roman richtet Francois die Frage „Und die Juden?“ an den Salon-Strategen Tanneur, er ihm auch eine Antwort gibt: Ben Abbes wünsche sich im Grunde, dass sich die Juden freiwillig dafür entscheiden, Frankreich zu verlassen und Israel zu emigrieren. Was Miriam und ihre Familie bereits getan haben.
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