Das Internet als Hochhaus und Theaterstück
von Steffen Becker
Mannheim, 24. Januar 2020. Das Nationaltheater Mannheim stellte seiner Hausautorin Enis Maci eine Wohnung in einem Hochhaus zur Verfügung. In der Einführung zur Uraufführung von ihrem Stück "Bataillon" heißt es, dieser Ort habe sich auf den Schreibprozess ausgewirkt. Das ist eine glatte Untertreibung. Nicht nur spielt ein Hochhaus, in dem – unter anderem – Monica Lewinsky einen Friseursalon betreibt und einer Klimaflüchtigen die Spülung ihres Lebens verpasst, in dem Auftragswerk eine tragende Rolle. In einem Architekturführer ist über das Collini-Center zu lesen, dass es in unübersehbaren Kontrast zur Stadt gesetzt wurde und die Architekten es als Einheit im Sinne eines Organismus auffassten. Das ist auch Leitprinzip der Textarchitektur von Enis Maci.
Tanz der Zeittotschläger
von Esther Boldt
Mannheim, 29. November 2019. "Es ist leicht, auf dem Papier zu philosophieren. Aber wie erträgt man dieses Leben?", fragt Kostja. Für einen Moment erstarren die Gesten der Umstehenden, für einen Moment herrscht Schweigen. Dann lachen und plaudern sie weiter, als sei nichts geschehen. Dabei ist die ganze Gesellschaft bereits vergilbt, steckt in fast ununterscheidbaren, sonnengelben Anzügen und Kleidern. Der Sturm der Gezeiten hat sie wieder an diese Küste gespült, wie Strandgut. Allein, die Jahre sind nicht spurlos an ihnen vorübergegangen.
Ohne Schrecken und Schauder
von Thomas Rothschild
Mannheim, 27. September 2019. Klar. Eine heutige Athene wagt es nicht, ihren Freispruch für Orest ernsthaft damit zu begründen, dass sie von keiner Mutter geboren wurde und deshalb kein "Weib" begünstigen werde, das seinen Mann umgebracht hat. Derlei frauenfeindliche Parteinahme verbietet der aktuelle Konsens wie Metternichs Zensur einst Majestätsbeleidigung. Ach wie fad ist doch ein Theater, das sich weder auf historische Normen und Bedingungen einlassen, noch gegenwärtige Übereinkünfte auf ihre Relativität überprüfen, sondern nur den herrschenden Konsens bestätigen möchte.
Macht und Amoral
von Steffen Becker
Mannheim, 21. Juni 2019. "IM ANFANG WAR DER STEIN, DER STEIN UND DIE BAHNTRASSEN (...) UND DIE ANKUNFT VON MENSCHEN ALLER NATIONALITÄTEN, DIE ALLE DENSELBEN DIALEKT SPRACHEN: SEX-COLTAN“, schreit der Text. Auch die Menschen, die den Mannheimer Club "Disco 2" betreten, um im afrikanischen Club "Tram 83" zu landen, sind abhängig vom Erz Coltan. Zumindest, wenn sie ein Smartphone ihr Eigen nennen. Schlechtes Gewissen müssen sie trotzdem nicht haben. Denn Fiston Mwanza Mujila hat mit seinem Roman keine Anklageschrift verfasst. Sein Thema ist weniger das Coltan als der Sex.
Macht contra Leben
von Shirin Sojitrawalla
Mannheim, 20. Juni 2019. Bei Schiller steht Elisabeth am Ende in ruhiger Fassung da und bezwingt sich, wie man das von ihr kennt, bis der Vorhang fällt. In Mannheim indes rutscht Elisabeth zusehends aus dem Fokus, und Maria Stuart schiebt sich auch zum Schluss wieder ins Scheinwerferlicht, bezwungen zwar, aber ruhig, und extrem lässig zündet sie sich noch eine Zigarette an, bevor das Licht ausgeht.
Allein unter Lemuren
von Harald Raab
Mannheim, 30. März 2019. Ein dickes gelbes Entchen im Maxiformat mit rotem Schnabel und roten Watschelfüßen begrüßt das Publikum. Das possierliche Wesen unternimmt tollpatschige Versuche, auf die Bühne zu gelangen. Es gelingt ihm nach einigen missglückten Versuchen endlich. Aus dem Wuschelkostüm schält sich der Clown – Hauptfigur eines Theaterabends, den man so schnell nicht vergessen wird.
Im Schatten der Camorra
von Thomas Rothschild
Mannheim, 24. Februar 2019. Die epidemische Verbreitung des Mitmachtheaters, der Angleichung an die Wirklichkeit auf Kosten der Artifizialität als auch der Romanbearbeitungen währt nun schon mehr als ein Jahrzehnt. Ebenso lang tadeln Verächter diese Moden. Das langweilt auf die Dauer. Man muss sich wohl mit ihnen abfinden wie mit der Abnahme der Regentage im Sommer. Freilich: Die Gründe für die Ablehnung sind deshalb nicht weniger zutreffend als die der Bahnfahrer, die unablässig die Verspätung von Zügen anprangern.
Tot gelabert
von Alexander Jürgs
Mannheim, 1. Dezember 2018. "Ich bin kein Schamane", sagt die Scham. Das entspricht ziemlich genau dem Humorniveau des an Kalauern nicht armen Abends. "Findet uns das Glück?" heißt er, der Regisseur Stefan Otteni hat ihn, inspiriert vom seit Jahren abstrus erfolgreichen Coffeetablebook "Findet mich das Glück?" des Schweizer Künstlerduos Fischli und Weiss, gemeinsam mit den Schauspielern, auch bei einigen öffentlichen Proben, erarbeitet.
Spurensuche im Kanzlerbungalow
von Elisabeth Maier
Mannheim, 29. September 2018. Keine zehn Kilometer Luftlinie entfernt von Oggersheim, dem Heimat- und Sterbeort von Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl, ist jetzt am Nationaltheater Mannheim eine wütende Abrechnung mit dem als Stifter der deutschen Einheit oft verherrlichten CDU-Politiker zu sehen. Den distanzierten Blick auf die deutsche Polit-Ikone wagt der Schweizer Dramatiker Lukas Bärfuss in seinem Auftragswerk, das jetzt in der Regie von Sandra Strunz uraufgeführt wurde.
Knallbunte Kolonial-Kiste
von Steffen Becker
Mannheim, 28. September 2018. Als das Theater in Mannheim Friedrich Schillers "Die Räuber" 1782 uraufführte, verlegte der Intendant die Handlung kurzerhand ins Mittelalter. Verlorene Zensoren-Müh' – das Stück um den Kampf zweier Brüder, um Erbe und Freiheit erregte die Zeitgenossen. 2018 steht der neue Hausregisseur Christian Weise vor einem ganz anderen Problem. Neue Intendanz, erste Premiere. Da liegt die Wahl des mit Mannheim so verbundenen Klassikers nahe. Sonderlich enthusiastisch klingt das Programmheft allerdings nicht. "Der Plot ist für einen heutigen Rezipienten nicht mehr zeitgemäß." Nimm dies, Schiller!
Männer spielen Nazis, Frauen gehen ab
von Steffen Becker
Mannheim, 9. Juni 2018. Auf dem Traumschiff oder im Nazibunker? Nehmen wir an, Sie wären Schauspieler*in. Wo sähen Sie sich lieber? Was würde Ihrer Karriere eher nutzen? Die Autorin Theresia Walser und ihr Regie-Symbiot Burkhard C. Kosminski verweben für die Ergründung dieser Frage zwei Stücke: "Ein bisschen Ruhe vor dem Sturm" war Walsers erstes Werk in Mannheim, unzählige Male gespielt, in Mannheim und anderswo. Alternde Hitler-Darsteller unterhalten sich darüber, ob man so eine Figur überhaupt spielen darf (aber eigentlich, wer es besser hinbekommen hat).
Wut mit Kulisse
von Alexander Jürgs
Mannheim, 5. Mai 2018. Hier spricht das Prekariat. Überlebensgroß, die Köpfe fünf, sechs, sieben Meter hoch, neongreller Hintergrund. Per Videoprojektion lässt Volker Lösch die Pizzaboten und Putzkräfte, die Mini- und Ein-Euro-Jobber, die Zeitarbeiter und die Soloselbständigen, die freie Werbegrafikerin, die Regieassistentin, den Mann von der Security-Firma, der kaum einmal weniger als zwölf Stunden schuftet, zu Wort kommen. Sie sprechen vom Druck bei der Arbeit, von den miesen Löhnen, von den Gängelungen durchs Jobcenter, von der Scham, am "gesellschaftlichen Leben" nicht teilhaben haben zu können, und davon, wie schwer es ist, sich gegen all diesen Mist zu organisieren. "Das Schlimme ist, dass jeder, der Vollzeit arbeitet und das Leben genießt, nicht weiß, was das bedeutet: Hartz IV", sagt eine Frau. "Hartz IV, das ist wie ein Todesurteil."
Weg mit der Zeit
von Harald Raab
Mannheim, 19. April 2018. Wenn ein ausgestopftes Huhn auf Rollen über die Bühne gezogen, eine alte Frau von einem Schauspieler gemimt wird, der seine Perücke verliert und uns seinen Glatzkopf zeigt; wenn sich Männer im Suff in den Armen liegen und wie Wilhelm-Busch-Karikaturen grotesk herum hopsen und irgendwann einer sich einen Wassereimer über den Kopf stülpt, dann ist das: eine Komödie!
Gesellschaft im Verzug
von Alexander Jürgs
Mannheim, 15. Dezember 2017. Die Stimme kommt aus dem Dunklen. Sie klagt, sie zeigt die Angst. Es ist ein Sohn, der da spricht, ein Sohn, dessen Vater sich, aus welchem Grund auch immer, selbst angezündet hat, ein Sohn, der sich nun nicht in dieses Krankenhauszimmer traut, in dem der Vater liegt. Eine Hautpartikelwüste nennen die Ärzte den Körper des Mannes. Verbrannt auf Stufe drei. Während David Müller den Monolog dieses Sohnes spricht, entzündet er Streichholz um Streichholz. Das Feuer lodert, erhellt sein Gesicht.
Diktatur des positiven Denkens
von Shirin Sojitrawalla
Mannheim, 7. Oktober 2017. Wäre es nach Noah Haidle gegangen, hätte aus dieser Cookie ein weiblicher Willy Loman werden können. Eine Handlungsreisende in Sachen Schönheit, die wahnsinnig wird am amerikanischen Traum und der Diktatur des positiven Denkens. Bei Burkhard C. Kosminski ist Cookie eine aufgekratzte Wanderpredigerin, für die Aufgeben überhaupt keine Option ist, immer streng nach der Devise: Mit einem Messer im Rücken gehe ich noch lange nicht nach Hause. Cookie erscheint in Mannheim nicht wie ein Mensch, sondern wie eine Comicfigur.
Lieben und lieben lassen
von Steffen Becker
Mannheim, 27. September 2017. Wie kann ich dich finden, zu mir ziehen und überreden zu bleiben? Das fragen die Autorin Anja Hilling und Regisseurin Friederike Heller in Mannheim eine Schar erwartungsfroher Schwarz-/Weiß-Menschen. Entsprechend ihrer Farben sortieren sie sich auf der Bühne in die einzigen Rollen, die das Stück bietet: Liebende und Geliebte. Beschworen wird die Magie eines Sommernachttraums. Die Protagonisten appellieren aneinander, es zu treiben und dabei die "wahre Nummer deiner Jahre" zu nennen.
Flugsand im Wind der Zeit
von Harald Raab
Mannheim, 22. Januar 2017. Papier, Papier: eine ganze Bühne voll weißer Papierbahnen. An den Wänden, an der Decke, am Boden. Selbst der Vorhang ist aus Papier. Das Papier verweist auf das Experiment, eine märchenhafte Erzählung zu spielen: Hier wird weniger direkt agiert als berichtet, dass gehandelt wird. Hier wird meist nicht dialogisch gesprochen, sondern auch erzählt, dass jemand etwas gesagt hat. Statt unmittelbarer Dramatik ein Narrativ à la Gebrüder Grimm.
Was das Netz mit uns macht
von Alexander Jürgs
Mannheim, 15. Januar 2017. Was für eine kranke Idee. Aber besonders abwegig oder gar undenkbar erscheint sie einem dann doch nicht. Da ist ein Elternpaar, das heimlich Filme davon dreht, wie es seine Tochter – Martina, sieben Jahre alt, Pferdeschwanz und niedliche Kleidchen tragend – zurechtweist, mit Vorwürfen überhäuft und belehrt. Die Videos davon stellen die beiden ins Netz, damit verdienen sie ihr Geld. Und die, die diese Filme konsumieren, dürfen auch noch Wünsche äußern, dürfen Situationen bestellen, die das Paar dann an der Tochter durchexerziert. "Scripted reality", inszenierter Familienkrach, der möglichst "natural" rüberkommen soll. Schöne kaputte Facebook-Welt.
"Nicht mit mir, Freunde!"
von Alexander Jürgs
Mannheim, 12. November 2016. Das Bühnenbild gibt vor, worum es gehen wird: Dass das Geschlecht eine Falle ist, dass es den Lauf eines Lebens bestimmt. Dieses Bühnenbild hier ist ein knallrosa Teppich aus Plüsch. Aufgehängt an der Decke breitet er sich über den kompletten Boden aus. Und aus dem Schlitz in der Mitte dieses Plüschmonsters wird nun eben ein Mädchen, wird Norma geboren und in die Welt geworfen. Auf dem Rücken liegt sie da, strampelt mit den Beinen, wird bespaßt, gewickelt und gequält.
Postfaktisches Theater
von Steffen Becker
1. November 2016. Mitte Januar platzte eine Bombe in Mannheim. Kurz nach der Kölner Silvesternacht wurde eine Frau von einem Flüchtling vergewaltigt – direkt am Wahrzeichen der Stadt, dem Wasserturm. Er soll nordafrikanisch ausgesehen und eine Jacke getragen haben wie sie als Spende in der nahegelegenen Erstaufnahmeeinrichtung verteilt worden war. Im Mannheimer Nationaltheater fragt Klaus Rodewald, Moderator der Uraufführung "Spiel ohne Grenzen", ob das Publikum das für wahr oder falsch hält – und ob es ein gutes oder ein schlechtes Gerücht ist.
Paule Popstar steigt auf und ab
von Michael Laages
Mannheim, 3. Oktober 2016. Gewisse Ähnlichkeiten gibt’s zwischen Lutz Hübner und Simon Stephens – beide Dramatiker sind unerhört produktiv und werden extrem regelmäßig ur- und erstaufgeführt, und nachgespielt obendrein. Und beiden gelingt das mit einer Methode, die derart handfest und wasserdicht ist, dass es kaum noch darum geht, ob stärkere oder schwächere Theatertexte aus ihrer Schreibwerkstatt auf die Bühnen gelangen. "Blindlings", das Anfang des Jahres in Kiel von Ulrike Maack und Wilfried Minks erstaufgeführte Stephens-Stück, war allemal ein stärkeres, vom Kindsmord war die Rede. Fast so stark war es wie "Pornographie", das stärkste des Engländers, das die Bombenanschläge in London vor gut zehn Jahren zum Gesellschaftspanorama auffächerte. "Birdland" jetzt, das Burkhard C. Kosminski sich vorgenommen hat, Schauspiel-Intendant am Nationaltheater in Mannheim, ist demgegenüber ein sehr schwaches.
Jetzt neu: Der Puppen-Macho mit Knöpfen
von Harald Raab
Mannheim, 26. Mai 2016. In roten und schwarzen Ganzkörper-Trikots wuseln sie wie Lemuren im dunklen Bühnenraum herum. Weißer Nebel wabert. Volkes Stimme als antiker Chor. Er verkündet, dass es aus der Verstricktheit des Lebens keinen Ausweg gibt. Später, in Frack und Hut, wird die Truppe zur "Gesellschaft der Freunde des Verbrechens". Sie sorgt dafür, dass jeder brav im Mainstream mitmarschiert. "Vergewaltigen, erschießen, ausweisen", ist ihr Schlachtruf.
Es ist vorbei! Oder will der nur spielen?
von Ralf-Carl Langhals
Mannheim, 21. Mai 2016. Mit einem Schlag wird es dunkel. Was im Einlasslicht wie eine schlichte Schräge aussah, offenbart sich als Schuttrampe in Förderbandoptik, eine geniale wie halsbrecherische Bühnenidee von Carola Reuther. Wie Zuckerrüben oder gar die männlichen Küken, die derzeit auf allen TV-Bildschirmen dem sichern Tod durch Schreddern entgegenrumpeln, poltern die Darstellerinnen mit vollem Körpereinsatz und lautem Getöse gefährlich nah zur Bühnenrampe. Was für ein Auftritt! Schlammverschmiert stürzen sich 18 hochmotivierte junge Damen prompt in den Text: "Zeus, Schützer der Flehenden, seh’ gnädig herab auf unseren Zug, der zum Schiff sich erhob...". Aus Ägypten sind sie vor der Zwangsverheiratung mit ihren Vettern geflohen und begehren nun Schutz im griechischen Argos.
Güte geht durch den Magen
von Thomas Rothschild
Mannheim, 20. Januar 2016. Brechts Shen Te hätte diese Köchin einer Highschool-Cafeteria mit dem sprechenden Namen Constant warnen können. Aber Constant bleibt bis zum Ende ein guter Mensch, und das geht übel aus. "Du bist immer so fröhlich", sagt ihre Freundin Sylvia (Carmen Witt) zu ihr. Und Constant weist ihren Partner Tom Collins (Michael Fuchs), der seine Vaterschaft leugnet, auf eine Besonderheit der gemeinsamen Tochter hin: "Ihr Mund. Immer mit kleinem Lächeln in den Winkeln. Wie ich."
Menschen in Bumshotels
von Harald Raab
Mannheim, 9. Januar 2016. "Sie sagt, sie ist die Biene und ich bin der Wal. So kommen wir nie zusammen." Es ist wohl auch besser so für den Jungen mit der Brille (Sven Prietz). Erfülltes Liebesverlangen hat eine immer kürzere Halbwertszeit. Er arbeitet an der Rezeption eines billigen Stundenhotels drunten am Hafen und muss drei One-Night-Stands mit Wiederholungscharakter sorgfältig auseinandersortieren. Seine Auserwählte, das Mädchen mit dem Fahrrad (Anne-Marie Lux), werkelt droben auf dem Berg. Eine Liebesbeziehung moderner Art. Statt heißer Küsse in Echtzeit SMS-Sehnsuchtsgeflüster. Jugendmoral im lustfreien japanischen Arbeitsalltag heute, während die Elterngeneration noch die Kreuz und die Quer realiter vögelt – wenn auch mit schlechtem Gewissen.
Schuld, die sich einschreibt
von Steffen Becker
Mannheim, 25. September 2015. Mein Opa wurde in vergleichsweise hohem Alter Vater meiner Mutter. Der Krieg kam dazwischen. Ostfront, also Hardcore. Genaues weiß man nicht. Er hat über Erlebnisse nicht gesprochen. In Erinnerung bleibt er als stattlicher Mann, der auf Fotos in Uniform sehr gut aussieht.
Realitätscheck Willkommenskultur
von Harald Raab
Mannheim, 17. September 2015. Deutschland 2015, ein Spätsommermärchen: Großes Theater wird nicht mehr nur in Schauspielhäusern geboten. Reality-Show auf Bahnhöfen und in Erstaufnahmelagern. Die Deutschen überbieten sich im Helfen, misten ihre überquellenden Kleiderschränke aus, entrümpeln die mit Spielzeug vollgestopften Kinderzimmer, entsorgen Lebensmittel, deren Haltbarkeitsdatum abläuft. Alles schleppen sie zu den armen Flüchtlingen, die ins Land strömen. Man zeigt dem übrigen, ach so kalten Europa, dass die Welt am deutschen Wesen eigentlich genesen müsste.
Die vor- und zurückfliehende Zeit
von Alexander Kohlmann
Mannheim, 10. Januar 2015. Wer kennt das nicht? Die Teenager-Träume im Freibad. Ein schwarzes Wasser ist das in Roland Schimmelpfennigs neuem Stück, das Freibad im Sommer – bei Nacht. Im Licht der Taschenlampe werden auf der tiefen, dunklen Bühne Gestalten erkennbar, das Mädchen im Bikini, Annäherungen zwischen einem Paar, und alles beobachtet von einem Nachtwächter, nie war die Welt größer, nie waren wir freier als in solchen Momenten.
Beim Zeus, wie schwer ist doch die Kunst
von Martina Senghas
Mannheim, 17. Dezember 2014. Dietmar Dath ist Mitte 40, Autor von dreizehn Romanen, Feuilletonist und Filmkritiker, Übersetzer und Verfasser von Hörspielen, Sachbüchern und Theaterstücken – er schreibt also viel und er schreibt gerne über das große Ganze: über Herrschaft und Befreiung, Produktionsbedingungen und Erkenntnistheorie, technischen Fortschritt und Kunst. Dath ist bekennender Marxist, entsprechend geht es auch in seinem neuen Theaterstück "Farbenblinde Arbeit" von Anfang an politisch zur Sache. Also rein ins Milieu der kulturell und gesellschaftlich Engagierten, in dem das Stück angesiedelt ist.
Zeitgeistvampire, Kampfstuten, Karrierehyänen
von Esther Boldt
Mannheim, 29. Oktober 2014. Das letzte Wort im Kampf der Geschlechter ist noch nicht gesprochen. Angesichts dieser Wortspielperlen wäre es auch schade drum: Männer sind da Entwicklungsländer, eingelagerte Eizellen Gefrierschrank-Engelchen und eine Handvoll herumstehender Frauen ein Geschlechtskränzchen. Es hagelt Durchsetzungsmechanismen mit Kampfstuten und Karrierehyänen. In ihrem neuen Stück "Herrinnen" umkreist Theresia Walser die Untiefen des heutigen Frauseins, tappt aber auch tief hinein – auf High-Heels oder barfüßig. Am Nationaltheater Mannheim hat Hausherr Burkhard C. Kosminski das Stück nun uraufgeführt, das sechste Auftragswerk seit 2006, das er der jüngsten Tochter Martin Walsers vergab.
Psycho-Shooting
von Harald Raab
Mannheim, 22. März 2014. Familienaufstellung im Fotoatelier. Grelles Weiß zieht sich von zwei Wänden herab, wie Stoffbahnen, die auch noch den Boden bedecken. Spitzwinklig ragt die Bühne in den Zuschauerraum. Lichtdesign vom Feinsten und Minimalismus pur beim großen Fotoshooting. Tragödie und Komödie – Familienbande halt.
Schlag auf Schlag
von Steffen Becker
Mannheim, 5. Januar 2014. Haben Sie sich beim Gang auf die Bank schon mal vorgestellt, der Person, die über ihren Haus-/Konsum-/Studienkredit entscheidet, nicht in den Hintern zu kriechen, sondern ihr so richtig eine reinzuhauen? Stellvertretend für die Hilfe bei der Steuerhinterziehung von Superreichen, für den Kollaps ganzer Volkswirtschaften, für das ganze scheiß System? Man sollte, man könnte, aber man tut es nicht. In diesem Zyklus aus Wut und Passivität lokalisiert das neue Stück von Marianna Salzmann "Hurenkinder – Schusterjungen" seine Figuren.
Die vielen Geschichten von uns
von Bernd Mand
Mannheim, 7. Dezember 2013.Wir sehen es jeden Tag. Übers Jahr verteilt kommt da eine beachtliche Menge zusammen. Rechnet man nun die Jahrzehnte aufeinander, dann will man gar nicht weiter darüber nachdenken, wie viele Bilder von uns selbst wir eigentlich sehen. Im Badezimmer, Fensterscheiben, wenn wir Glück haben in den Augen unseres Gegenübers – überall findet man sich selbst und schließlich, na ja, doch nirgendwo. Und doch gibt es manchmal diese Treffen mit einem selbst, die uns für einen Moment die Augen öffnen und mitunter neue Wege. Ulrike Syha hat nun ein Stück für das Mannheimer Nationaltheater geschrieben, in dem sich ihre drei Protagonisten, denn Helden mag man sie doch lieber nicht nennen, auch irgendwie über die Zeit hinweg öfter mal gefunden haben oder zumindest, das, was sie für sich selbst hielten. Oder sich sogar ganz ausgedacht haben. Am Ende spielt das auch keine wirkliche Rolle, denn im lose schwebenden Irgendwo in Zentralchina können sie sich nun nicht mehr davon laufen.
Work hard, play harder
von Dennis Baranski
Mannheim, 5. Oktober 2013. Sie bilden Meinungen, beeinflussen die Legislative und operieren doch meist fern der öffentlichen Wahrnehmung: Lobbyisten und Berater haben sich bedenklich tief in unserem parlamentarischen Regierungssystem eingenistet, was die Dramatikerin Felicia Zeller in ihrer Zeit als Hausautorin am Mannheimer Nationaltheater beschäftigte. Ihre Auseinandersetzung mit den Mechanismen der Macht gebar "Die Welt von hinten wie von vorne", eine dichte Collage im Duktus der politischen Klasse, die Intendant Burkhard C. Kosminski zur Uraufführung im Schauspielhaus gebracht hat.
Zoff nach der Firmenübernahme
von Harald Raab
Mannheim, 17. Juli 2013. Ein riesiges Plastikungetüm wälzt sich auf der violett beleuchteten Bühne hin und her und malträtiert die darunter liegenden Menschen. Sie schreien, wollen sich von der Last befreien. Rettung naht: Terminator 1 ist Danton, Terminator 2 Robespierre. Sie durchlöchern den Monstersack der Aristokratie. Die Luft entweicht. Das Volk hat die schwere Bürde los – die Revolutionäre freilich an der eigenen Gurgel. Der Blick ist nun frei auf eine gigantische Lego-Landschaft, Blau, Weiß, Rot. In ihr hampeln die Menschlein und spielen Dantons Tod, das Drama von der Revolution, die ihre Kinder frisst: Sommertheater am Mannheimer Nationaltheater.
Keinparteienstaat mit Mutti
von Dennis Baranski
Mannheim, 26. Juni 2013. Wer Jonathan Meese mit einer Auftragsarbeit bedenkt, der weiß, was er bekommt und was er hernach zu verantworten hat. Seit rund anderthalb Jahrzehntenten sind das die immer gleichen Versatzstücke, die immer gleichen Gesten, die immer gleichen Provokationen. Wenn der Bürgerschreck mit "Generaltanz den Erzschiller" bei den Mannheimer Schillertagen auf der Schauspielhausbühne nicht schockierte, dann deshalb, weil sein teuerster Trumpf längst verspielt ist: das Überraschungsmoment.
Darwins Alpträumchen
von Dennis Baranski
Mannheim, 1. Juni 2013. "Du bist alleine in deinem Haus am See", beginnt das Ensemble chorisch ein Szenario zu zeichnen, das scheinbar einen Suizid abbildet. "Du", das sind Sie und ich, das ist Jedermann – allerdings einer mit beträchtlichem Vermögen. Doch bis das Spiel vom vermeintlichen Sterben eines reichen Mannes erzählen kann, muss erst einmal Leben entstehen. Und das nimmt Philipp Löhle wörtlich. Tatsächlich sogar streng wissenschaftlich.
Im hellen Licht der Stein des Weisen
von Dennis Baranski
Mannheim, 23. März 2013. Zertrümmerte Parkett- und Bestuhlungsreste liegen um einen riesigen, rotbraunen Quader verstreut und zeugen von dessen mächtigem Einschlag. Wo eigentlich die vorderen Ränge des Schauspielhauses stehen, liegt sie nun schwer in unserer Mitte: die unverrückbare steinerne Wahrheit. Darauf ein Mensch, der Ur-Mensch, aufgebahrt wie ein heiliges Stück Schlachtvieh, beinahe nackt und nur eben solange unschuldig, bis er zuckend und tobend aus unruhigem Schlaf erwacht. Es ist Gerichtstag heut.
Abgründige Abschweifungen
von Dennis Baranski
Mannheim, 25. Januar 2013. "Ich soll, muss anfangen. Es tut mir leid", überwindet Schauspielerin Michaela Klamminger sich und das Schweigen, um alsbald unterbrochen zu werden. Sei's drum. Denn einmal losgetreten, wollen die Sprechkaskaden so schnell kein Ende mehr finden – ab jetzt fällt man sich gerne ins Wort. Womit, das legte die Dramatikerin Gesine Danckwart fest, deren Auftragsarbeit "Wunderland" nun auf der Studiobühne des Mannheimer Nationaltheaters uraufgeführt wurde.
Entmachtete Matronen
von Elisabeth Maier
Mannheim, 12. Januar 2013. Die eiskalte Schönheit der Macht untersucht Theresia Walser in ihrem neuen Stück "Ich bin wie ihr, ich liebe Äpfel". Auf blutroten Ledersesseln warten drei Diktatorengattinnen auf eine Pressekonferenz. Vor 100 Journalisten soll enthüllt werden, wann und wie ihr Leben verfilmt wird. Aus dieser Situation entwickelt Walser einen sprachlich starken, dialogbetonten Zickenkrieg mit komischen Untertönen, die Schauspielchef Burkhard C. Kosminski bei seiner Uraufführung am Nationaltheater Mannheim mit Nachdruck zum Klingen bringt.
Pech mit dem Liebesglück
von Dennis Baranski
Mannheim, 15. November 2012. "Verdammt und zugenäht", nun hat Grete so lange studiert, und ausgerechnet jetzt will ihr kein origineller Fluch einfallen. Denn da steht er, neben ihrer gerade verursachten Himbeerjoghurt-Pfütze, ist augenscheinlich Akademiker und gleichsam überwältigt – um beide ist es in diesem Augenblick geschehen. Ja, eine Liebesgeschichte hat der viel gespielte und mit zahlreichen Preisen geadelte Autor Martin Heckmanns für das Mannheimer Nationaltheater geschrieben. Dagegen ist freilich nichts einzuwenden, doch dem Dramatiker, viel mehr seinem gelungenen Theatertext, sollte in der Quadratestadt Unheil widerfahren: Dominic Friedel brachte "Einer und eine" auf der Studiobühne des Werkhauses zur Uraufführung und gab damit sein Debüt als Hausregisseur.
Das lange Leiden an der Religion
von Bernd Mand
Mannheim, 27. September 2012. "Der müde Tod" heißt ein Stummfilm von Fritz Lang aus dem Jahr 1921. Kurz zusammengefasst geht es in der expressionistischen Romanze darum, dass eine junge Ehefrau vom Tod ihren Mann zurückfordert und nach einigen Umwegen schließlich in den Flammen eines brennendes Hauses mit ihrem geliebten Gatten wieder vereint wird. Aber das ist hier gar nicht das Thema. Die für uns wichtigste Szene des Films ist nämlich der Moment, indem der Tod der Ehefrau erklärt, dass ja auch er des Tötens überdrüssig geworden ist. Aber weil er eben Gottes Auftrag folgen muss, kann er nicht anders, als weiter fleißig Seelen einzusammeln.
Im drogeninduzierten Tiefschlaf
von Dennis Baranski
Mannheim, 21. September 2012. Es scheint, als habe das Mannheimer Theaterpublikum endgültig seinen Frieden mit Calixto Bieito geschlossen. Mag es nun an der unbestrittenen Handwerkskunst des – freilich nur noch andernorts – gefürchteten "Skandal-Regisseurs" liegen oder eher an einer gewissen Gewöhnung – man hat sich aufeinander eingestellt. Zum Spielzeitauftakt am Mannheimer Nationaltheater musste darum auch niemand übermäßige Enttäuschungen verkraften. Mit Pedro Calderón de la Barcas "Das Leben ein Traum" (1635) lieferte der Katalane erwartungsgemäß.
Into Outer Space With Tony Kushner
von Bernd Mand
Mannheim, 15. Juni 2012. Die amerikanische Dramatik hat es in unseren Breitengraden nicht leicht. Sozialromantische Klassiker gehören zwar zum festen Repertoire, und Cole Porter verirrt sich dann auch mal ins Opernhaus. Aber mit vielen zeitgenössischen Autoren aus Nordamerika kommt man nicht in Berührung. Grund dafür ist keine generelle Ablehnung, sondern vielmehr die Schwierigkeit, eine anständige Übersetzung zu finden. Das ist erst einmal kein rein sprachliches Problem, sondern eine Frage der kulturellen Identität und dem eigentlichen Wissen voneinander. Die deutschsprachige Erstaufführung von "Tiny Kushner", einem Monodramen-Reigen von Tony Kushner, dessen Übersetzung von Frank Heibert sprachlich gesehen dem Original ziemlich genau auf der Spur ist, geht als gutes Beispiel für das transnationale Übersetzungsproblem durch.
Der fade Beigeschmack einer staubigen Weltordnung
von Bernd Mand
Mannheim, 20. Mai 2012. Irgendwo da liegt es. Dieses Jenseits. Tief begraben unter unserem Lebensschutt, feinluftig im Wolkendunst oder einfach auf der gegenüberliegenden Uferseite, naja, nachzuweisen ist das auch heutzutage noch nicht. Aber darüber fabulieren, das machen wir Menschen nach wie vor inbrünstig und gut gelaunt, ganz so als würden wir damit auch noch einen Pokal gewinnen können. Sibylle Lewitscharoffs Debüt als Theaterautorin ist eine solche Variation zu einem Thema, das sich wohl so schnell auch nicht verabschieden wird.
Im Schatten-Seminar
von Harald Raab
Mannheim, 15. März 2012. "Und so sehen wir betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen." Marcel Reich-Ranickis etwas abgegriffenen, von Brecht gemopsten Spruch möchte man der Uraufführungspremiere "Nie war der Schatten" im Studio des Mannheimer Nationaltheaters nachrufen. Wollte doch der Autor und Regisseur Alejandro Tantanian "die Gegenwart des Abwesenden fühlbar machen". Ein großer Anspruch bei einem noch größeren Thema: der Schatten.
Ran an die Schmerzgrenzen
von Harald Raab
Mannheim, 26. Februar 2012. Das Kleist-Jubiläum zum 200. Todestag haben wir hinter uns. Das Ergründen des vielschichtigen Kleistschen Vermächtnisses aber wohl immer noch vor uns, trotz diverser Käthchen von Heilbronn, Arm in Arm mit einer Schwadron Prinzen von Homburg in vielen Hermannsschlachten auf deutschsprachigen Bühnen im vergangenen Jahr. Das Mannheimer Nationaltheater setzt die Kleist-Exegese fort mit Michael Kohlhaas. Der Text ist vom Dichter nicht als Bühnenwerk geschrieben, sondern als Erzählung. Deren Dramatisierung ist fraglos eine Herausforderung für die junge deutsche Regie-Hoffnung Simon Solberg. Er hat sie mit sinnlich prallen Bildern und Action bis an die Schmerzgrenze bravourös komödiantisch und doch hochsensibel und intelligent gemeistert.
Familienbande als Menschheitsdrama
von Harald Raab
Mannheim, 21. Januar 2012. In Zeiten der Krise und der Retromania in der Kunst ist er wieder da, Charlie Marx. Wir stellen erstaunt fest, wie recht er doch hat: Geschichte ereignet sich zweimal, einmal als Tragödie und danach als Farce. Aber man muss die Farce gar nicht auf Teufel komm raus auf die Bühne bringen. Der amerikanische Autor Tony Kushner zeigt es. Sein Diskussionstheater im Stil von "Tod eines Handlungsreisenden" und "Wer hat Angst vor Virginia Woolf", immer hart am Rande des Realen, schließt Surreales ein. Das Leben spielt die beste Farce inmitten der Alltagsdramen unserer Zeit.
Nicht ich selbst zu sein ist das, was ich bin
von Ralf-Carl Langhals
Mannheim, 27. Oktober 2011. "Wenn ich mein Leben bilanziere, ergibt die Summe, dass ich glücklich bin." Äußert eine Figur einen solchen Satz als einen ihrer ersten, können wir davon ausgehen, dass dieses Glück ein fragwürdiges ist. Der US-amerikanische Dramatiker Sharr White hat ihn seiner Hauptfigur in seinem im März in New York uraufgeführten Vierpersonenstück "Der andere Ort" dennoch mit Fleiß in den Mund geschrieben.
Weg mit diesen fiesen Wir-Parasiten
von Esther Boldt
Mannheim, 22. September 2011. So hat man sich einmal die Zukunft vorgestellt: Wie schwerelos tappt einer durch transparente Raumzellen, im weißen, leicht exzentrischen Raumanzug, der in seiner asymmetrischen Sackhaftigkeit von fern an Yohji Yamamotos Kollektionen aus den frühen 90ern erinnert. Der Forscherastronaut tippt auf die gläsernen Zellenwände, als seien sie Bildschirme und murmelt Unhörbares in keinen Bart. In diesem White Cube von einem Labor wird eine Revolution vorbereitet: Die Menschheit soll vom Virus der sozialen Anpassung befreit werden.
Mit der Bubu-Biene im Garten Eden
von Marcus Hladek
Mannheim, 30. April 2011. Sein Bellen läutet, Verzeihung, bellt das Stück ein. Das bisschen Hund, als das man sich den Chihuahua von Tante Margot (Almut Henkel) vorzustellen hat, hinterlässt Haufen und wird von allen außer seinem freundlich-dummen Frauchen als inkontinent belästert. Wenn das vom Nazi-Opa ererbte Haus vor der polnischen Grenze, um das sich alles dreht, zuletzt im House-of-Usher-Stil in sich zusammenbricht, liegt das Hundeviech darunter begraben. Ansonsten ist von ihm nichts zu sehen, was dem Titel so etwas wie ironische Beiläufigkeit verleiht und den Chihuahua in seiner Namenlosigkeit zum Running Gag macht.
Schwarze Frauen, weiße Tücher
von Ralf-Carl Langhals
Mannheim. 1. April 2011. Kein Buh, nirgends. Einem Regisseur wie Calixto Bieito wird es wahrscheinlich mulmig, wenn der ganze Saal jubelt. Und das tut er, einhellig, heftig und ungewöhnlich lange. Hat doch der in manchen Kreisen als "Skandal-Regisseur" verschriene Katalane nach seinen in Mannheim eher kontrovers diskutierten Inszenierungen Don Karlos und Lulu dort nun just jenen großen Sprechtheaterabend inszeniert, nach dem es konservative Theaterfreunde stets dürstete.
Reden ist Silber, Schwadronieren ist Gold
von Harald Raab
Mannheim, 6. Februar 2010. Wir bleiben im Gespräch. Wir sprechen uns noch. Wir dürfen den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen: Das Gespräch als manisches Grundrauschen aller menschlichen Beziehungen, besonders als hohles Gedöns in den Sphären der Politik. Die Kommunikationsmisere in der babylonischen Sprachverwirrung unserer Zeit hat sich die österreichische Schriftstellerin Kathrin Röggla als Generalthema vorgenommen. Nach Büchern wie "die alarmbereiten" und Stücken wie "draußen tobt die dunkelziffer" oder "worst case" jetzt ihre neue Theaterarbeit: "die unvermeidlichen".
Der Goldrausch von Hundseck
von Esther Boldt
Mannheim, 15. Januar 2010. Die Generation Praktikum hat die Schnauze voll: Sie will kein 13. Praktikum, sondern ihr Stück vom Kuchen. Will nine-to-five bei anständiger Bezahlung, ein Auto, sonntags Tatort und vielleicht ein Reihenhaus. Wie er das erreicht, hat der studierte Geologe Friedrich von den Spekulanten an der Börse gelernt: Werte imaginieren, wo keine sind – und diese meistbietend vermarkten. So zeichnet der Dauerpraktikant auf einer Karte des Schwarzwalds rasch ein paar Goldadern ein, überzeugt mit dem Ausdruck seinen letzten Chef, ins Geschäft einzusteigen und fertig ist der Goldrausch von Hundseck.
Klischee von larmoyanten Ossis
von Harald Raab
Mannheim, 18. Dezember 2010. Meck-Pomm ist in Deutschsüdwest so exotisch wie die Elfenbeinküste. Wer von den Kurpfälzern kennt einen Ossi oder war gar schon mal in Ossi-Land? Fest und ignorant steht sie noch in den Köpfen der meisten – die Mauer, Schutzwall gegen gesamtdeutsche Ansprüche der Brüder und Schwestern, dazu zu gehören. Doch sie sind nun einmal da, die Menschen mit ihren Transformationsproblemen. Materialisten wie wir und gar nicht dankbar und bescheiden. Zumindest im Nationaltheater Mannheim fordern sie Beachtung ein. Sie verstören – und das im doppelten Wortsinn.
Von Lebenslügen und anderen Feuchtgebieten
von Harald Raab
Mannheim, 20. November 2010. Spätestens seit Kurt Tucholsky und Loriot wissen wir: Männer und Frauen passen nicht zusammen. Das Autorenteam Theresia Walser und Karl-Heinz Ott setzen noch eins drauf: Mensch und Mensch, das kann nicht gut gehen. Ist natürlich kein brandneuer Stoff. Doch in ihrem aktuellen Stück "Die ganze Welt" finden sie eine ziemlich originelle Variante der Wer-hat-Angst-vor-Virginia-Woolf-Kampfzonen, Feuchtgebiete inklusive.
Köpfe unter Fremdkontrolle
von Esther Boldt
Mannheim, 23. Oktober 2010. Agnes ist echt ein Klassekerl. Mit ihren Boots und engen Stretchjeans, den kinnlangen, dunklen Locken, die sich lässig-elegant in die Luft zwirbeln. Mit ihrer Reibeisenstimme, die bärbeißig-scharf, aber auch mädchenhaft-zärtlich sein kann. Sie wohnt zwar in einem Motelzimmer zur Dauermiete und weiß nicht, was "matriarchal" heißt, aber sie hat einen staubtrockenen Humor und auch dann noch einen kessen Spruch auf den Lippen, wenn ihr Exmann ihr gerade so eine reingehauen hat, dass sie zu Boden ging.
Schlamparei (sic!) im Hexenhaus
von Ralf-Carl Langhals
Mannheim, 24. September 2010. Sie sind Managerin, Chefsekretärin, Filmproduzentin oder Wissenschaftlerin: Gabriele, Constanze, Maren und Helga haben zu tun – und Kinder mit Namen wie Lea-Marie, Antonia, Sudoku, Ludwig oder Leander. Da wird es schon mal eng, zwischen Meeting und Marketing noch schnell die Biogemüse-Streifen für die lieben Kleinen zu schneiden. Männer spielen in dieser bionade-biedermeierlichen Mittelklasse, die sich gehoben – und folgt man Autorin Felicia Zeller – auch ganz schön abgehoben nennen darf, kaum eine Rolle. Sie sind (immer noch) weit weg vom Besserverdiener-Wahnsinn zwischen Waldorf- und Waldkindergarten, fern von Kitas und Kindergeburtstagen, immun gegen den Logistikstress der Reit-, Ballett- und Klavierstunden ihrer Nachkommen. Besserverdiener-Männer bewegen sich als Senior Key Account Manager in Businesshotels oder auf Flughäfen, jedenfalls aber in anderen Umlaufbahnen als ihre verdienenden wie verdienten Besserwissergattinnen, weshalb Felicia Zeller einen von diesen Vätern buchstäblich auf den Mond geschossen und gleich zum Astronauten gemacht hat.
Boulevard mit Bürokraten
von Bernd Mand
Mannheim, 18. Juni 2010. Weit schaut es sich von hier aus. Weit und ein wenig dunstig. Die Kantine der Mannheimer Stadtverwaltung ist ein eigentümlicher Ort. Nicht nur für eine Theaterinszenierung. Über neun Etagen voller Ablagen und Regulierungskatalogen thront sie weitläufig und breit befenstert. Während unter ihr rote Plastiksitzschalen, Ordnerschränke und verwinkelte Gänge regieren. Lajos Talamonti zieht es mit seiner ersten Inszenierung für das Nationaltheater hinaus in die Stadt. Genauer gesagt zu ihrem Herzstück: der Verwaltung.
Verloren im illyrischen Trümmerland
von Bernd Mand
Mannheim, 12. Juni 2010. Blanke Holzdielen sind es, die einem letztendlich im Gedächtnis bleiben. Ein warmes rotbraunes Holzbett über dessen Nuten sich ein schweres Theaterschiff geschoben hat. Ein Schiff mit großem Namen und höchstwahrscheinlich ebenso großen Wünschen. Burkhard C. Kosminski hat Shakespeares Komödie "Was ihr wollt" am Mannheimer Nationaltheater über die Bühne gezogen und wohl zumindest auf dem unschuldigen Boden die eine oder andere Kerbe hinterlassen.
"Mit dem Boden immer im Portemonnaie"
von Bernd Mand
Mannheim, 12. Mai 2010. Wo fängt Ihre Welt eigentlich an? Beim Geburtsdatum? Beim Namensschild an Ihrer Wohnungstür? Vielleicht beim Einloggen in ihren Rechner am Arbeitsplatz? Oder ist es nicht vielmehr so, dass Sie es eigentlich gar nicht so genau sagen könnten. Die eigene Welt zu definieren ist keine einfache Angelegenheit. Nichts, was man schlichtweg selbst in die Hand nehmen könnte und zu einem sauberen Abschluss führen. Überall bleiben lose Enden, überall zwängt sich irgendetwas durch den Lattenzaun und setzt neue Unbekannte in die Gleichung ein.
Der süße Rausch der Macht
von Harald Raab
Mannheim, 24. April 2010. Dass er nach der begeisterten Aufnahme seines Erstlings "Die Räuber" mit seinem zweiten Stück "Die Verschwörung des Fiesco zu Genua" bei den Mannheimern kein Glück haben konnte, erkannte Schiller klar und unsentimental. Nach der Aufführung der eigenen Mannheimer Fassung von 1784 schrieb er: "Den Fiesco verstand das Publikum nicht. Republikanische Freiheit ist hierzulande ein Schall ohne Bedeutung – in den Adern der Pfälzer fließt kein römisches Blut."
Ich kaufe, also bin ich?
von Harald Raab
Mannheim, 24. Januar 2010. NORMA wie Aldi, nicht wie die gleichnamige Oper von Bellini: Hier spielt das richtige Leben im falschen, die großen Dramen der kleinen Existenzen, mitten in Mannheims Altstadtviertel, das Klein-Istanbul genannt wird. Hier ließ sich der Schweizer Reto Finger zu seinem neuen Stück "NORMA" inspirieren. Uraufführung hatte das poetische Dramolett am Sonntag im Studio Werkhaus des Nationaltheaters Mannheim.
Was ist ein Hals gegen einen Hemdkragen
von Tomo Mirko Pavlovic
Mannheim, 18. Dezember 2009. Herr Ellenbeck ist außergewöhnlich. Er gehört zu jenen letzten Männern, die für den Doppelten Windsor weniger als zwei Minuten benötigen. Korrekt gebundene Krawatten sind Ellenbecks Leben. Er hält sich an ihren Enden verzweifelt fest wie an einem gestorbenen geliebten Menschen. Anstecktücher. Kaschmirschals. Dicke und dünne Kunden, die einen Anzug von der Stange brauchen. Ellenbeck respektiert sie alle, auch wenn sie immer seltener vorbeikommen.
Heinrich, komm grill mit mir
von Esther Boldt
Mannheim, 28. November 2009. Da haben sich zwei gefunden! Er ist Glückssucher und sie Liebessuchende. Obwohl sie beide nicht so recht dran glauben, dass Glück und Liebe ausgerechnet für sie vorgesehen sind. Er hat festgestellt, dass sich das Glück in ihm einfach nicht ansiedeln kann. Vermutlich, singsangt er wortreich, ist sein Inneres mit Fliesen ausgekleidet, so dass es darin abrutscht. Nicht verweilen kann. Sie hat sich in Sachen Liebe ohnehin schon den Prinzessinnentraum abgeschminkt, auf dass die Frauenbefreiungstheorie nicht an ihrer Alltagspraxis scheitere. Und jetzt das: Grete tanzt auf einer Privatfete, Heinrich macht die Musik. Einen Leichtigkeitsmoment lang wähnt sie sich in einem Hollywoodfilm, er braucht erst mal einen Schnaps.
Der Kontrollwahn frisst seine Kinder
von Harald Raab
Mannheim, 7. Oktober 2009. Deutschland, deine Kinder: Mal als Prinzchen und Prinzessinnen, rundum überversorgt und in Zuckerwatte gepackt, mal als Wohlstandsverwahrloste nervend oder als No-Feature-Kids im Prekariats-Ghetto von vornherein abgeschrieben. Hilflosigkeit, Aggressionen und Versagensängste wabern in Gesellschaft und Mittelstandsfamilien. Das Bäumchen-wechsle-dich-Spiel der Schuldzuweisung wird mit verbiestertem Eifer gespielt. Den Puls der Zeit in Sachen Wohlstandsorientierungslosigkeit fühlt wieder einmal mehr Marius von Mayenburg.
Der Griff ins Höschen
von Astrid Biesemeier
Mannheim, 3. Oktober 2009. Vorsicht vor Frauen, die dauernd ihren hübschen Körper in allzu knappen Röckchen oder Kleidchen zur Schau stellen. Nicht nur, weil sie sehr wohl wissen, was sie tun. Sondern vor allem, weil sie nicht anders können. Lulu in der Inszenierung von Calixto Bieto am Nationaltheater Mannheim ist so eine Frau.
Kantinendramaturgie
von Anne Richter
Mannheim, 24. Juni 2009. Der Autor und Dramaturg René Pollesch und der Dramaturg Carl Hegemann haben nun auch in Mannheim zusammen halt gemacht. Das Motto der diesjährigen Schillertage "Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt" wollen die beiden auf Gesang übertragen. "Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er singt" lautet der gewaltige Titel der knapp einstündigen Uraufführung. Sie fand in dem kurzfristig zur Spielstätte umfunktionierten Aufenthaltsraum im Werkhaus des Nationaltheaters statt.
Surrealistische Messe mit Grünpflanzen
von Ralf-Carl Langhals
Mannheim, 19. Juni 2009. Man war ja auf alle Eventualitäten vorbereitet, im Parkett wie am Regiepult. Die einen witterten den Skandal des Jahres, die anderen glaubten zu wissen, dass der zwangserotisierte Katalane als Schauspielregisseur gar nicht so wüst sei, wie einen verschreckte Opernfreunde glauben machen. Calixto Bieito indes wünschte sich mit diversen Verlautbarungen Offenheit und Toleranz, auch bei denen, die musikvermischte Sprechopern und zeitgenössische Regie nicht mögen. Die Dramaturgie verkündete man streiche Text, um den Schillerfiguren näher zu kommen.
In jedem Hafen eine Frau
von Esther Boldt
Mannheim, 30. April 2009. Hinter den Fenstern liegt der Hafen mit seinen Frachtcontainern und Kränen, die bizarr in den Himmel staken, und am Horizont fließen Rhein und Neckar zusammen. Vor den Fenstern plaudern drei Schauspieler und zwei Musiker vor sich hin, singen Lieder zum Mitschunkeln und rahmen den Ausblick mit Anekdoten, mit Geschichten von Käpt’n Ahab, von einem "Fremdländer" mit goldenem Nasenring und anderem Gespinsten.
Tal der Ahnungslosen
von Ralf-Carl Langhals
Mannheim, 25. April 2009. Dass die besten Amerika-Geschichten von Leuten stammen, die nie dort waren, sollte zu denken geben. Ob Karl May oder Franz Kafka, Sehnsüchte, Detailkenntnisse und Vorstellungsvermögen reichen allemal, das Land der vermeintlich unbegrenzten Möglichkeiten als abenteuerlich zu erleben. Unsicher sind die Verhältnisse in Prärie und Wolkenkratzer ohnehin, daher nimmt es nicht Wunder, dass Kafka seinen Karl Roßmann, den traurigen Antihelden seines Romanfragments "Amerika", in Tagebüchern als "Der Verschollene" verewigen wollte.
Die Claudia als Wille und Vorstellung
von Tomo Mirko Pavlovic
Mannheim, 17. April 2009. Claudia ist ein Mensch, der nicht erzählt werden kann. Weder im Roman noch auf der Bühne. Denn Claudia ist eine einzige Vorstellung von sich selbst, von ihren Möglichkeiten, von fremden Träumen, von unseren Sehnsüchten. Will man die eine Claudia verstehen oder gar spielen, erklingt sofort eine zweite oder dritte Stimme, welche die erste übertönt, überlagert. Es kommt zu ungeahnten Verstärkungen, reizvollen Interferenzen, und man meint dann, etwas Bedeutendes herausgehört zu haben, vielleicht diesen einen klaren, dominanten Ton – so etwas wie eine Geschichte.
Der leuchtende Augenblick des Schicksals
von Esther Boldt
Mannheim, 5. März 2009. Es ist der Moment, in dem das ganze Leben auf einen Punkt zusammenschnurrt. In dem etwas umschlägt und eine Erkenntnis sich breit macht: Dass es so nicht weitergeht. Und dass dennoch alles Vergangene schöner war, als man dachte. Dies ist der "Königsmoment" – und "Königs Moment" ist der Titel des neuen Stückes des Autors, Schauspielers und Regisseurs Jan Neumann. "Ein Königsmoment", schreibt Neumann im Programmheft, "ist ein Moment in dem man alles versteht. Findet Herr König.
Das letzte Band des Politikers
von Ralf-Carl Langhals
Mannheim, 28. Februar 2009. Am Aschermittwoch soll ja alles vorbei sein. In Mannheim haben sich der politische Aschermittwoch und der große Kehraus bis zum Wochenende gehalten. Auf der Bühne des Nationaltheaters, wenige Tage zuvor noch Ort frohsinniger Ordensverleihungen, wird statt der Fasnacht ein Politiker begraben. Statt Hering gibt es Haxen, schließlich befinden wir uns szenisch irgendwo im tiefsten Bayern, wo, so will es Albert Ostermaier, eine linke Partei auf dem Vormarsch ist. Kurios.
Unendlichkeit der Breite nach
von Esther Boldt
Mannheim, 20. Januar 2009. Und diese beiden sollen mal eine Unendlichkeit miteinander gehabt haben? Er, mit Schnauzer, Kassengestell in der Visage und rotem Baseball-Pulli, sie im Kapuzenkleid, mit schicken Stiefeln und blaugrünen Strumpfhosen? Der stumme Stoffelspießer Oli, der jetzt schon ausschaut wie sein eigener Vater und Dani, die Zorn- und Ratlosigkeitsträgerin, die ihre Kapuze als Tarnkappe benutzt und wirkt, als sei sie aus einer "Star Trek"-Folge heraus gefallen? Unvorstellbar, dass diesen beiden mal die Unendlichkeit gewunken haben soll.
Iron Maiden, Golden Girl, Männerphantasie
von Otto Paul Burkhardt
Mannheim, 6. Januar 2009. Kommt ein netter Herr in Anzug und Krawatte auf die völlig leere, schwarze Bühne, setzt sich auf einen mitgebrachten Barhocker, sagt "Guten Abend" und fängt mit dem Prolog im O-Ton Schiller an. Erläutert zwischendrin, dass da nun Johannas Vater Thibaut d'Arc spricht. Berichtet vom Siegeszug der "Engelländer" in Frankreich. Fährt fort mit einem wehklagenden "Oh" und setzt laut in Klammern dazu "jetzt redet sich der Vater langsam in Rage".
Schwebeleicht verrätselt
von Otto Paul Burkhardt
Mannheim, 13. Dezember 2008. Frau Firm ist verschwunden. Einfach so. Von heute auf morgen. Alle sprechen darüber. Doch bei näherem Hinhören zeigt sich: Die Verbleibenden reden gar nicht wirklich über die Abwesende, sondern weiter über sich selbst. Sie warten auch nicht auf die Verschwundene, sondern warten auf sich selbst. Und wieder sind wir mitten in einem typischen Theresia-Walser-Kosmos: Eine Runde wunderlicher, verlorener Figuren, denen nicht nur Frau Firm, sondern gleichsam eine generelle Mitte fehlt. Die Personen umkreisen sich und diese Leere. Die Zeit dreht sich um sich selbst.
Die Vermessung der Liebesnähe und Distanz
von Esther Boldt
Mannheim, 15. November 2008. Steht ein Schaukasten auf der Bühne, gelborange leuchtend. Darin der reinste Biedermeierkitsch, Polstermöbelsitzecken, ein Flügel, und im Kamin glüht ein falsches Feuer. Über dem Kasten aber meldet ein Schriftzug in schönster Magritte-Schreibschrift Zweifel daran an, dass man dem Augenschein trauen sollte: "Ce n'est pas un salon bourgeois." Denn dies ist nur eine Bühne auf der Bühne, die Seitenbühne und das Materiallager liegen offen.
Johlen und atemloses Stillschweigen
von Ralf-Carl Langhals
Mannheim, 31. Oktober 2008. "Warum gar bis aufs Blut die Leut' sich quälen und schinden" versuchte einst Richard Wagners Hans Sachs zu ergründen. Nun, von Nürnberg bis in den mittleren Westen der USA ist es ein weiter Weg. Dennoch stellt diese meisterliche Frage letztlich auch Tracy Letts in seinem in den USA preisgekrönten Stück "Eine Familie/August: Osage County", das Mannheims Schauspieldirektor Burkhard C. Kosminski als deutschsprachige Erstaufführung am Nationaltheater auf die Bühne brachte.
Zuhaus in yadda yadda yadda
von Esther Boldt
Mannheim, 1.Oktober 2008. Es sind Fremde im Haus! Oder? Wo kommen die her? Sie kommen von der Bühne in den Zuschauerraum geschlappt, in Trainingshosen und jugendlichen Mützen. Auf der Bühne flattert einer in Pluderhosen und Turban herum, Musik hebt zu gedämpftem Pathos an, im Zuschauerraum wird ein bisschen gepöbelt, bevor die Jungs den Pluderhosenmann aus dem Saal werfen. Und dann geht’s los.
Habe nun, ach, na ja, ...
von Ralf-Carl Langhals
Mannheim, 25. Juni 2008. Ganze Welten sollen ja in ihm liegen, diesem zutiefst erkenntniskritischen Goetheschen "Ach", das den berühmtesten deutschen Akademiker nach seinem "Habe nun" und frustrierenden Mühen an diversen Fakultäten "unruhig auf seinem Sessel am Pulte" hin- und herreißt. In weniger hochstudierten Kreisen steht so ein "Ach" heute noch für sanftes Erstaunen, auch für ein eher ratloses "Na ja". Oder gar ein leicht bedauerndes "Schade".
Der Fremde auf meinem Berg
von Esther Boldt
Mannheim, 6. März 2008. Schon immer haftete den Bergen Mythisches an. Sie verkünden den Rand der Zivilisation und einen unbeherrschbaren Rest Natur – und das in nächster Nähe. Hier kann ein Blick von einem Gipfel fremde Welten eröffnen und ein Wetterumschwung Leben kosten. Aus einer solchen Grenzsituation hat der 27-jährige Schweizer Autor Lorenz Langenegger ein Stück gemacht, "Nah und hoch hinaus".
Papa ex Machina
Von Ralf-Carl Langhals
Mannheim, 15. Dezember 2007. Nur noch wenige Türchen am Adventskalender, dann ist es soweit: "Herbei, o ihr Gläub'gen!" Kämen sie nach Mannheim, hätten sie wenig Anlass zum fröhlich triumphieren. Dort, am Schauspielhaus des Nationaltheaters, hat just in der Nacht zum dritten Advent Christoph Nußbaumeders jüngstes Dramenkind das Scheinwerferlicht der Bühnenwelt erblickt.
Aber lieb, aber lieb sin se doch
von Ralf-Carl Langhals
Mannheim, 11. November 2007. Das Ungleichgewicht von Materie und Antimaterie ist eine der Voraussetzungen für die Stabilität unseres Universums, und somit auch für das Leben auf der Erde. Soweit die Teilchen- und Elementarteilchenphysik. Doch just die Antimaterie hat es Paul angetan. Ein ungewöhnliches Steckenpferd für einen 20-jährigen Autoverkäufer.
Der Subtext der Macht
von Esther Boldt
Mannheim, 5. Oktober 2007. Die Stoffsuchmaschine Dramaturgie läuft auf Hochtouren: Hierzulande ist der gleichnamige Film noch nicht mal im Kino angelaufen, schon wird Lars von Triers "Der Boss vom Ganzen" im Theater uraufgeführt. Im Nationaltheater Mannheim nimmt sich die junge, vergangenes Jahr vom Schauspiel Frankfurt gekommene Regisseurin Christiane J. Schneider des Textes an.
Vom Reißbrett des Dramatikers
von Esther Boldt
Mannheim, 15. Juni 2007. Weil der Mensch des Menschen ärgster Feind ist, werden den Künstlern zum Schlussapplaus Spiegel überreicht. Auf ihnen steht das Motto der 14. Internationalen Schillertage, "Bestie Mensch", und das Theater als moralische Anstalt bleckt vieldeutig seine Zähne.