Da kann man Fleisch ranpacken!
von Frank Schlößer
Rostock, 17. Oktober 2020. Puntila hat die These von Theodor Adorno geknackt. Wenn er zweiacht im Turm hat, dann lebt er das richtige Leben. Dann ist er leutselig, spontan, großzügig. Dann ist er sogar in der Lage, sein anderes, falsches Leben zu reflektieren: Es täte ihm so leid! Denn wenn er einen dieser Anfälle hätte, wenn er gelegentlich "sternhagelnüchtern" sei, dann würde er zum Tier, zu Sklavenhalter, zum Kapitalisten. Aber was soll er machen! Schließlich hat er 90 Kühe!
Schlagt ihre Klingen klein!
von Nikolaus Merck
Rostock, 14. September 2019. Zuerst, kaum ist der Partylärm verstummt – "ein Pferd", rufen sie im Hintergrund, "ein Königreich für ein Pferd", wie? das Ende am Anfang? alles Folgende nur eine Rückblende? – zuerst also schwebt Richard vom Bühnenhimmel herab vor dem Klettergerüst, das Martin Fischer doppelseitig und formatfüllend auf die Bühne des Volkstheaters hat zimmern lassen. Der schwarz-blutige Engel der Geschichte? Oder doch nur der ungeschickte Bruder von Helene Fischer, der sich da mühsam aus dem Fluggeschirr befreit? Am Ende schluckt derselbe Richard eine Giftpille, bevor ihn noch Richmond, wie von Shakespeare vorgesehen, aus dem Leben zum Tode befördert und da ist er der Reichsmarschall Göring, der sich dem Urteil des Nürnberger Gerichts entzieht.
Außenseiter, Lügner, Tausendsassa
von Frank Schlößer
Rostock, 5. April 2019. Zum Teppichklopfen und für Schweinebammel, für Gogo-Dance und zum Drüberkotzen – die fünf Klettergerüste in verschiedenen Höhen sind das Universalspielzeug des Abends. Bis in ihre maximale Tiefe geöffnet und optisch durch eine Video-Leinwand erweitert, bietet Ariane Salzbrunns Bühne im Volkstheater Raum und Wege für alle Konstellationen zwischen Individuum und Gesellschaft. Dazu gibt es ein paar olle Matratzen für diese und jene Gelegenheit. Für die Zuschauer im Parkett ist kaum zu bemerken, dass auch der Bühnenboden zwei Ebenen hat und es ermöglicht, eine Figur gegen die andere zu erhöhen. Viel Platz also, der ausgespielt wird in Konstanze Lauterbachs Inszenierung: Peer Gynts komplette Reise durch die Welt findet in einem Bild statt – diese Bühne ist jederzeit überzeugend Meer und Marokko, Wald und Irrenanstalt.
Einen Dreh weiter
von Christian Rakow
Rostock, 27. Oktober 2018. "Rosé à Marxeille" heißt der Titel, mit einem "x" für ein "s", quasi "Ein Gläschen Rosé in Karl-Marx-Stadt", aber mediterran umweht. Und die Truppe nennt sich "Leien des Alltags", nicht mit "a", sondern eben mit "e", praktisch: Alltag ausborgen, mit leisen Anklängen an die Laien vulgo "Experten des Alltags" bei Rimini Protokoll.
Kein Schiff wird kommen
von Melanie Huber
Rostock, 27. April 2018. In der Schlussszene geht auf, was aufgehen soll: Die dauerpalavernde Schickeria wird von der Bühne geschwemmt und verliert sich in den dunklen Stoffwellen des Parketts. Chorgesang der serbischen Geflüchteten (Singakademie Rostock) erfüllt den Zuschauerraum und der im Rang angebrachte Leuchtschriftzug "Gloria N." kommt endlich seiner eigentlichen, dem Wortlaut entsprechenden Bestimmung zu. (Gloria 'n cielo e pace 'n terra = Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden.) Langsam geht das Licht aus und von der Hinterbühne ist leises Glucksen zu hören: Selbst der Todeskampf ist ein egozentrisches Spiel für die publikumsheischende Künstlertruppe, das seine Wirkung nicht verfehlt.
Chaos mit rotem Faden
von Frank Schlößer
Rostock, 16. Dezember 2017. Vor sechzig Jahren starb eine Straßenköterin aus Moskau. Weshalb erinnert man sich noch heute daran? Es ist der Ort ihres Todes: Erdorbit, Sputnik 2. Wir sind Laika dafür dankbar, dass sie am 3. November 1957 über fünf Stunden dafür brauchte. Denn ihr Flug zeigte: Wenn Hündinnen den Orbit überleben können, dann können das echte Männer – wie zum Beispiel Juri Gagarin. Braves Hündchen, hat sie doch was gemacht aus ihrem Leben!
Turnen, singen, toben
von Hartmut Krug
Rostock, 13. Oktober 2017. Sie poltern durch die Tür und fallen über den Tisch, an dem sie dann zueinander finden, sich auf die Nerven gehen und hinter ihren riesigen Spielkarten verstecken: Johanna Schalls Inszenierung von Eugène Labiches Schwank "Das Sparschwein" am Volkstheater Rostock zeigt sich von Beginn an als ein hochtouriger Slapstick-Tanz von komischen Landeiern. Wenn diese endlich ihr volles Sparschwein schlachten, das durch die Einzahlungen der Verlierer bei den Kartenspielen voll geworden ist, und sich für eine Fahrt nach Paris entscheiden, dann ahnt man sofort: Das wird nicht gut gehen – auch, weil jeder einen anderen Plan hat, was er in Paris machen möchte.
Das Dunkel in der Mitte des Tunnels
von Hartmut Krug
Rostock, 9. Oktober 2016. Vor der Premiere stellte Intendant und Geschäftsführer Joachim Kümmritz, umringt von seinen Regisseuren geplanter Inszenierungen, der Presse die nächsten Pläne des Volkstheaters vor. Dabei lautete das Zauberwort für die zukünftige Arbeit "spartenübergreifend". Geplant sind: "Ein Käfig voller Narren", das Rockballett "Carmen", der "Messias", eine Peter Weiss-Collage und, unter dem launigen Obertitel "Die unartigen Kinder": "Shockheaded Peter", "Die Bakchen" und "Antigone". Auf die Frage nach seiner Vorstellung von der Zukunft des Volkstheaters sprach Kümmritz so viel- wie nichtssagend von einem "vernünftigen Mehrspartentheater" und wies darauf hin, dass der Aufsichtsrat noch im Oktober über ein Strukturpapier diskutieren werde.
Wenn die Oberflächen dicht halten
von Matthias Schümann
Rostock, 28. Januar 2016. Drei Männer stehen regungslos auf der Bühne, sie sprechen mit ruhigen Stimmen. Ihre letzten Gedanken drehen sich um ihre Familien, die eben gehabte Liebesnacht. Darum, dass es keinen Gott gibt. Die drei Männer treiben in der eiskalten Ostsee, der Fischkutter, auf dem sie eben noch unterwegs waren, ist gesunken. Wenig später sind sie tot: Kapitän, Maschinist und Lehrling. Der Fischkutter hieß "Beluga" und versank im März 1999 zwischen Rügen und Bornholm. Die Autorin und Regisseurin Yvonne Groneberg nahm sich dieses Stoffs nun an, hat für das Volkstheater Rostock ein Stück geschrieben und inszeniert: "Beluga schweigt". Seit dem Unglück konkurrieren zwei Auffassungen über die Ursachen. Die eine, offizielle: Die Seeleute handelten fahrlässig, der Kapitän versenkte die "Beluga" durch eine versehentlich offen gelassene Luke. Die andere Version: Die "Beluga" geriet in ein geheimes Nato-Manöver auf der Ostsee und wurde versehentlich versenkt.
Im Steinhagel
von Matthias Schümann
Rostock, 7. November 2015. "Es herrscht ein schöner Geist von Verträglichkeit in unserer Stadt!" Der Mann, der diesen ersten Satz feierlich ins Publikum spricht, trägt Schlips und Kragen, dazu einen taubenblauen Anzug. Doch seine Augen sind gerötet, die Gesichtsfarbe ist ungesund, er scheint wie von Staub bedeckt. Es handelt sich um den Stadtvogt Peter Stockmann aus Henrik Ibsens "Ein Volksfeind". Das Stück handelt von kommunalpolitischen Händeln und Ränkespielen, in denen eine Aussage nur so viel wert ist, wie sie in die Argumentation der in der Stadtverwaltung tonangebenden Kräfte passt, weshalb es gern als Kommentar auf lokale Kulturpolitik inszeniert wird.
Getränkedosenringparabel
von Hartmut Krug
Rostock, 26. September 2015. Das Motto der zweiten Spielzeit von Sewan Latchinian lautet "Toleranz in religiösen und kulturellen Fragen". Auftakt war der "2. Stapellauf Toleranz", ein ursprünglich siebenteilig geplantes Spektakel, das wegen der zeitweiligen Amtsenthebung des Intendanten nur dreiteilig geriet. Lessings "Nathan", Strawinskys "Le Sacre Du Printemps" und "Liebeslieder", das ganze mit langen Pausen von siebzehn bis ein Uhr morgens.
Drohender Hurrikan
von Frank Schlößer
Rostock, 28. Februar 2015. Kein Regisseur muss künstliche Bezüge zur Realität aufbauen, wenn er die Brecht-Weill-Oper "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" an einem Stadttheater inszeniert – schon gar nicht in Rostock: Diese Oper über eine Stadt, wo jedem die Todestrafe droht, der kein Geld hat. Der Beschluss des Stadtparlamentes, den jahrzehntelangen schleichenden Personalabbau am Volkstheater nun auch durch strukturelle Kürzungen des Tanztheaters und der Opernsparte zu beschleunigen, war zur gestrigen Premiere gerade drei Tage alt. Das Publikum teilt den Trotz, mit dem sich Intendant Sewan Latchinian nach dem ersten Schock des Beschlusses der Rostocker Bürgerschaft für's Weiterkämpfen ausspricht.
Das Wunder in der Tonne
von Juliane Voigt
Rostock, 26. November 2014. Ein Mann findet ein Baby in der Mülltonne und bekommt neuen Lebensmut. Ein Weihnachtsmärchen? Klingt fast so: Hans ist verwahrlost bis auf die Knochen, selbstverschuldet hat er Job und Familie verloren, sumpft nun vor sich hin. Bis er in Steven Uhlys Roman "Glückskind" auf das Kind stößt – und sich auf seine Umgebung einlassen, sich helfen lassen muss, um sich zu helfen.
Hier ist was los!
von Hartmut Krug
Rostock, 20. September 2014. Auf dem lange verwaisten, ungemütlichen Vorplatz des Rostocker Volkstheaters ist plötzlich was los. Ein Leuchtturm und große Eisbären aus Pappmaché empfangen den Besucher. Sewan Latchinian, neuer Intendant, versucht, sein Haus mit viel Phantasie und Aufwand in die öffentliche Aufmerksamkeit zu rücken. Mit Mitteln, die schon an seiner vorherigen Spielstätte, der Neuen Bühne Senftenberg, erfolgreich waren.
Junger Mann mit Hintergrund
von Juliane Voigt
Rostock, 21. September 2013. Es geht derbe zu und zünftig, auf der Bühne des Volkstheaters Rostock. Cornelia Crombholz, für ein Jahr Schauspieldirektorin am Haus, bis im kommenden Sommer die Intendanz von Sewan Latchinian beginnt, nimmt das mit dem Volkstheater scheinbar durchaus wörtlich und inszeniert als Einstand "Till Eulenspiegel". Mit besonderem Hinweis darauf, dass der Name des bekannten Schalk-Narren mit "leck mir´n Arß" ins Hochdeutsche zu übersetzen ist. Und damit lässt sich fröhliche Urständ feiern. Die Premiere war vom hanseatischen Publikum hoffnungsvoll und kritisch erwartet worden - das Theater ist seit Jahren Sorgenkind der Stadt –, gefeiert wurde sie am Ende mit großem Applaus.
Kindergeburtstagslärm mit Leichenschau
von Georg Kasch
Rostock, 17. März 2012. Die Rostocker haben's nicht leicht: Weil das Große Haus über Nacht geschlossen wurde, spielt das Volkstheater seine wichtigen Produktionen jetzt in einem gut 400 Zuschauer fassenden Theaterzelt. Und das hat seine Tücken: Hoch und offen ist der Raum, die Akustik entsprechend schwierig, es zieht. Wer hier spielt, kämpft nicht nur gegen das Rattern der Straßenbahn, das Rauschen der Klimaanlage und das Quietschen der Stühle an, sondern auch um die Aufmerksamkeit des Publikums, die sich leicht verliert.
Auf dem Sofa
von Esther Slevogt
Rostock, 18. November 2011. Manchmal fragt man sich schon, wie das kommt, dass die Welt in vielen zeitgenössischen Theaterstücken so sehr der Welt gleicht, wie man sie aus dem Fernsehen kennt. Dass die Welt, zum Beispiel in Oliver Klucks nun am Volkstheater Rostock uraufgeführtem Stück "Über die Möglichkeiten der Punkbewegung Zur Gestaltung des Regionalen Stadtraums", meist nur noch aus einem (im vorliegenden Fall kunstledernen) Talkshow-Sofa besteht, auf dem sich allerlei Personen des öffentlichen und weniger öffentlichen Lebens zu tendenziell unerheblichen Fragen äußern. Bei jedem neuen Gast verwandelt sich das Möbelstück in Rostock kurzfristig in eine Art Schleudersitz, wird von den beiden dauerlächelnden Moderatoren in rasantem Tempo einmal von der einen Seite der von Hugo Gretler entworfenen Bühne auf die andere geschoben, und kommt jedes Mal so ruckartig zum Stillstand, dass die Gäste fast vom Sofa fliegen.
Im Schraubstock des Groteskzwangs
von Hartmut Krug
Rostock, 15. Oktober 2011. In Rostock existiert seit langem ein, nun sagen wir, kompliziertes Verhältnis zwischen Politik und Theater. Die einen verwalten Geld, die anderen wollen Theaterkunst liefern. Ob 2018 wirklich ein neues Theater gebaut sein und ob es dann noch ein Vierspartenensemble oder nur ein Bespieltheater geben wird, darüber wird heftig orakelt. Seit das Gebäude des Volkstheaters wegen Reparaturarbeiten geschlossen ist, offiziell bis Mitte nächsten Jahres, spielt man in einem Theaterzelt im Niemandsland des Werftgeländes.
Ein betrogener Betrüger in Traumschiff-Uniform
von Georg Kasch
Rostock, 30. Dezember 2010. Die Götter müssen vergnügt sein: Kaum hat Schwerenöter Jupiter in Gestalt des thebanischen Feldherrn Amphitryon dessen Gattin Alkmene flachgelegt, sitzt er schon mit Handlanger Merkur mitten im Publikum und schaut sich die Folgen seines unterleibsgesteuerten Treibens an. Der Ehekrach - Alkmene: "Wie, schon zurück?", Amphitryon: "Euer Empfang, das muss ich sagen, beleidigt meiner Liebe Glut." - amüsiert sie köstlich. Da weicht in Bettina Rehms Inszenierung von Molières "Amphitryon"-Komödie im Rostocker Theater am Stadthafen, der kleinen Spielstätte des Volkstheaters, allmählich der krampfige, an die Fortpflanzungsinstinkte appellierende Frohsinn des Beginns einem Vertrauen in den Text.
Alle Kinder werden Brüder
von Michael Laages
Rostock, 21. Juni 2009. Der Theatermusiker Franz Wittenbrink ist wirklich ein vielbeschäftigter Mann. Und wer weiß – vielleicht werden die Theaterhistoriker späterer Generationen beim Blick auf die unsere, auf die vergangenen eineinhalb Jahrzehnte also, dermaleinst über mindere Größen von Castorf bis Thalheimer milde hinwegsehen, um sich dem wesentlichen Zeichen der Zeit zuzuwenden: den wie am Fließband produzierten und fast immer auch wie am Schnürchen erfolgreich auf die Bühnen in Hamburg oder Wien oder Hannover purzelnden Liederabenden der Marke Wittenbrink. Franz heißt die Epoche.
Dieses bisschen Abgrund
von Michael Laages
Rostock, 27. März 2009. Der Mut verdient ja Respekt. Aber zu was er führt, ist nicht zu ahnen. Jedenfalls war und bleibt es elend schwer für die neue Rostocker Schauspiel-Direktorin Anu Saari, ausgerechnet das Theaterland Finnland mit Musiktheater und Dramatik aus jüngster Zeit an der neuen Wirkungsstätte zu einer Art Heimat werden zu lassen. Auf der "Insel Yksinen" jedenfalls, das heißt: im jüngsten Stück von Laura Ruohonen, erweist sich die finnische Theatersprache einmal mehr als mäßig dramatisch.
Wir lachen ganz gutmütig
von Christian Rakow
Rostock, 13. März 2009. Ein schickes offenes Penthouse mit weißem Mobiliar. Weiches Licht fällt auf die Szene. Durch ein Panoramafenster im Hintergrund erblickt man einen finnischen See (oder ist es doch die Mecklenburgische Schweiz?). Er ruht idyllisch wie in einem Urlaubsprospekt.
Skurrilitäten zwischen Sauna und Suff
von Hartmut Krug
Rostock, 11. Oktober 2008. "Ich bin oben", jubelt Matti auf dem Berg, doch dann klebt er mit den Lippen am Eis fest. In einer akrobatischen Aktion muss er sich seinen heißen Urin zur Befreiung an den Mund schütten, und unten, im Tal seiner Erinnerungswelt, wird ihm als Kind von der Mutter in ähnlicher Situation mit heißem Wasser geholfen.