Singspiel mit Klassenfrage
von Georg Kasch
Halle, 10. Mai 2019. Wenn's schon draufsteht, muss es ja stimmen: "Cetacea" (Wale) prangt auf der altmodischen Vitrine im Zentrum der Bühne. Darin: ein Mensch. Voluminös zwar und in blauer Kleidung. Aber doch ein Homo sapiens. Sein Name: Alexander. In Leon Englers Stück "Die Benennung der Tiere" liegt er schon zu Beginn in den Gleisen einer U-Bahn-Station, die hier mit in der Vitrine stecken. Und weil er so dick ist und sich selbst mit Tiernamen beschimpft, beschließen die, die ihn dort finden – Passantin Helena und U-Bahn-Wache Oskar –, dass er ein Wal sein müsse. Ist ja auch die idealere Projektionsfläche als ein dicker Loser. Während er also auf den Schienen liegt und blutet, reden um ihn herum die Schönen und Reichen, aber auch die Durchschnittsmenschen von ihren Sehnsüchten und Kümmernissen und schrammen dabei ständig am Eigentlichen vorbei: einen Menschen zu retten.
Lotz und Schmalz und Leberwurst
Skurril und ziemlich witzig ist Englers Stück, das – nach szenischen Lesungen sowohl beim Heidelberger Stückemarkt als auch beim Stückemarkt des Berliner Theatertreffens 2018 – nun in Halle uraufgeführt wurde. Hier prallen die großen Seinsfragen aufs Banale – Englers gefräßiger Held Alexander etwa rutscht ausgerechnet auf einer Leberwurststulle aus. Stellenweise wirkt das wie eine Mischung aus Wolfram Lotz und Ferdinand Schmalz. Engler reißt Sinnfragen und sonstige Gegenwartsthemen an wie ein ungeduldiges Kind, um sich an ironisch funkelnden Dialogen zu erfreuen.
Zur Hilfe, zur Hilfe! Oder auch nicht: Bettina Schneider, Till Schmidt, Alexander Pensel, Nils Thorben Bartling, Nils Andre Brünnig © Falk Wenzel
In Halle nimmt Regisseur Ronny Jakubaschk Englers leichten Ton ernst – und macht aus "Die Benennung der Tiere" ein veritables Singspiel, das den Blick für die Klassenunterschiede schärft. Beides ist zwar schon bei Engler angelegt. Aber Ausstatterin Anna Sörensen hat die Promis, die Alexander vermeintlich zu Hilfe eilen, in Variationen des Gleichen gesteckt: rote Lockenperücken über weißen Gesichtern, Anzüge mit Dollar- und Leopardenmuster. Höchst künstliche Virgin Queens sind sie, Elon Musk (der Auto- und Raketenbauer), König Mswati III. aus Swasiland (der letzten absolutistischen Monarchie in Afrika) und Modebloggerin Chiara Ferragni. Jörg Kunze aber pumpt mit seinem sich vor großen Vorbildern verneigenden Soundtrack mit Songs von ironischer Eleganz Leichtigkeit in den Abend.
Der Wal als Hoffnung "für uns kleine Leute"
Der beginnt erst einmal erstaunlich trocken: Bettina Schneiders Helena findet Nils Thorben Bartlings verzweifelten Alexander in der Vitrine, in der tatsächlich Schienen liegen und eine Bahnsteigkante. Am Notruf-Telefon wirkt sie ernsthaft besorgt. Aber schon das Fachgespräch mit der pedantischen U-Bahn-Wache Oskar – Till Schmidt versprüht den spröden Charme eines Hausmeisters – über Tier- und Leberwurstsorten verschiebt den Diskurs ins Surreale. Wenn Schmidt dann auch noch unter Hochdruck vom Wal als der letzten Hoffnung "für uns kleine Leute" singt zwischen Zarzuela und Brecht, erreicht der Abend zum ersten Mal Betriebstemperatur.
Nach und nach kommen jetzt die potentiellen Heilsbringer hinzu, die sich allesamt als um sich selbst kreisende Würstchen entpuppen: Nils Andre Brünnings eitles Babyface (Tesla-Gründer Elon Musk) und Alexander Pensels König, ein schnöseliger Knabe, klauen dem Wal erst das Wasser, um später mit den leeren Flaschen dessen Vitrine zu bewerfen. Nora Schultes Bloggerin quietscht als aufgedrehtes Selfie-Girl herum.
Die Drei, die doch nichts dran drehten: Babyface Musk, ein aufgedrehtes Selfie-Girl und ein schnöseliger Königsknabe: Nils Andre Brünnig, Nora Schulte, Alexander Pensel @ Falk Wenzel
Es ist ihnen allen hoch anzurechnen, dass sie Karikaturen schaffen, ohne hemmungslos zu überzeichnen. Aber keine*r von ihnen kann so herrlich deprimiert auftrumpfen wie Elke Richters Elfriede Jelinek. Jelinek steckte – so will's der Text – die ganze Zeit im Chiara-Ferragni-Kostüm, weil sie auch mal ein normales Leben führen wollte. Hier verschwindet Schultes Bloggerin hinter der Vitrine und Richter kommt als Lookalike hervor, nur 30 Jahre älter. Eine müde Herrscherin, halb Schiller-Königin, halb Nobelpreisträgerin mit müde-eleganter Suada. Hinreißend, wie sie über kleine Schwänze schimpft, nach ihrer Valium kramt und überall die Phallokratie wittert. Immer, wenn sie von Sex spricht, krümmt sich Swasi III., der so gierig mit Ferragni angebandelt hatte, und klammert sich fest an den Schuh, den er von der Bloggerin behalten hat.
Später besingen die drei in goldschimmernden Barockkleidern madrigalhaft die Kartoffel, finden Helena und Oscar den Eingang zum Wal, weil sie sich von diesem Gang Rettung erhoffen wie die des biblischen Jona, hört Alexanders Herz auf zu schlagen. Das ist zugleich alles sehr komisch und sehr traurig, weil die Menschen auf der Bühne die ganze Zeit nur einen Schritt von der (Wal-)Rettung entfernt sind, sich aber mit ihrer Heilserwartung selbst im Weg stehen.
Die Benennung der Tiere (UA)
von Leon Engler
Regie: Ronny Jakubaschk, Bühnen und Kostümbild: Anna Sörensen, Dramaturgie: Sophie Scherer, Musik: Jörg Kunze.
Mit: Bettina Schneider, Nils Thorben Bartling, Till Schmidt, Nils Andre Brünnig, Alexander Pensel, Nora Schulte, Elke Richter.
Premiere am 10. Mai 2019
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.buehnen-halle.de
Ein "verrücktes, aber durchdachtes, intelligentes Stück", eine "skurrile, hintersinnige Geschichte" hat Andreas Montag erlebt, wie er in der Mitteldeutschen Zeitung (13.5.2019) schreibt. Regisseur Ronny Jakubaschk habe seine Darsteller bestens eingestimmt, Anna Sörensen fantastische Kostüme und eine ebensolche Bühne gezaubert, Jörg Kunze die Musik beigesteuert – "alles fein". Unter den Darstellenden schieße Elke Richter als Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek "den Vogel ab".
Der Imam ist S-Klasse, Alter!
von Matthias Schmidt
Halle, 29.05.2016. Das war so nicht zu erwarten: dass es ein über weite Strecken recht heiterer Abend werden würde. Wenn ein Stück "Djihad Paradise" heißt, liegt eigentlich – darf man so sagen? – mehr Sprengstoff in der Luft. Und eine Portion Angst vor zu viel Pädagogik. Aber es ist gut so. Vielleicht ist das sogar der einzige Weg, diese Geschichte – basierend auf dem erfolgreichen Jugendbuch von Anna Kuschnarowa – über zwei deutsche Jugendliche, die zu Gotteskriegern werden, auf der Bühne zu erzählen: Als Adoleszenz-Geschichte mit ernsten wie komischen Momenten, als weitgehend undidaktisches Roadmovie, Wolfgang Herrndorfs "Tschick" durchaus verwandt.
Warum einfach, wenn’s auch schwierig geht
von Matthias Schmidt
Halle, 12. März 2016. Zwischen der Garderobe und dem Getränkeverkauf stehen Oswald Spengler und Gottfried Benn. Unter ihnen ein Schild: "wir dürfen nicht mitspielen". Sie sind zirka 50 Zentimer groß und eigentlich Teil der Personage von Florian Illies' Bestseller "1913. Der Sommer des Jahrhunderts". Am Puppentheater Halle bilden sie die Vorhut zu einer sehr unterhaltsamen Geschichtslektion in Miniaturformat. Unterhaltsam zuallererst, weil die Puppen schlicht bezaubernd aussehen, selbst Spengler und Benn, realistisch und zugleich ihre Vorbilder sanft karikierend. Thomas Mann ist ein ziemlich eitler Literatursnob, Franz Kafka ein ziemlich verklemmter Liebesdepp, Arnold Schönberg ein leicht paranoider Hasenfuß, Oskar Kokoschka ein komisches Triebtier.
Raskolnikows Scheibenwelt
von Tobias Prüwer
Halle, 27. Februar 2016. "Es ist ganz schön spät geworden. Zeit, mich zu stellen, auch wenn ich immer noch nicht weiß, warum." Nach dreieinhalb Stunden, Pause inklusive, gesteht Doppelmörder Raskolnikow endlich seine Untat gegenüber den Behörden. Als langes Stück Literaturtheater hat Matthias Brenner "Schuld und Sühne" am Neuen Theater Halle inszeniert. Er verpackt Fjodor Dostojewskis Stoff in einen extrem konzentrierten, die Zuschauerkonzentration extrem fordernden Sprechtheaterabend.
Eine Art Klassentreffen
von Hartmut Krug
Halle, 3. Januar 2016. Drei wollten zur See fahren, eigentlich, eine wollte singen, etliche hatten technische Berufe gelernt, vom Zerspanungsfacharbeiter bis zum Flugzeugmechaniker mit der Spezialisierung Außenhaut, einer war Melker mit Abitur, ein anderer Journalist mit Hochschulabschluss. Nur eine wollte von Anfang an Schauspielerin werden. Aber zu all diesen Berufen und Ausbildungen gehört das "eigentlich", schließlich trafen sie sich alle im Sommer 1979 an der Berliner Schauspielschule Ernst Busch im gemeinsamen Studienjahr, und heute, 36 Jahre später, sind sie Schauspieler. Beim Fernsehen oder am Theater, frei oder in festem Engagement.
Es war einmal in der DDR
von Tobias Prüwer
Halle, 13. November 2015. "Was machen wir, wenn die Lage da draußen eskaliert?" Ratlos blickt Oberstleutnant Schäfer über den Schlagbaum ins Publikum, das in diesem Moment selbst Teil jener Menge ist, die an der "Bornholmer Straße" am Abend des 9. November 1989 den Grenzübertritt nach West-Berlin verlangt. Nach dem gleichnamigen Film von Christian Schwochow ist der Wendezeit-Stoff als Bühnenadaption im Neuen Theater Halle zu sehen. Regisseur Jörg Steinberg hält sich eisern ans Drehbuch.
Arsen mit spitzen Tönen
von Tobias Prüwer
Halle, 30. Oktober 2015. Gut gemeint ist nicht gleich gut gemacht. Diese Binsenweisheit wird von der faktischen Macht des Anekdotischen immer mal wieder bestätigt. Sicherlich wollten die Eltern von Ruth und Ani nur deren Bestes, als sie das Geschwisterpaar einer harten durchökonomisierten Erziehung unterzogen. Und mit noch größerer Sicherheit will Nora Abdel-Maksoud mit "Mad Madams" für eine bessere Gegenwart streiten und dem Publikum nichts Geringeres als die Augen öffnen. Ihr selbstverfasstes Stück bringt sie in am Neuen Theater Halle in eigener Regie zur Uraufführung. Weil sich, will man Marx folgen, Geschichte in zweierlei Form wiederholt, tritt hier das politische Theater nicht als Tragödie, sondern Farce in Erscheinung.
Frau Plattenbau und ihre Industriegebietskinder
von Tobias Prüwer
Halle, 29. Mai 2015. Willkommen in der zur Open-Air-Bühne umfunktionierten Gasometerruine in Halle-Neustadt! Das in der DDR angelegte gigantische Plattenbauviertel war einst Vorzeigemodell für neues Wohnen nach sozialistischem Menschenbild. Nach der Wende halbierte sich die Bevölkerung auf rund 40.000. Wer konnte, zog weg, der Anteil der Transferbezieher ist hoch. Halle-Neustadt ist das, was man ein Problemviertel nennt.
Der Pfau auf dem Laufsteg
von Michael Laages
Halle, 11. April 2015. Den letzten Blick auf den fatalen Weg des Freundes von einst wirft hier der Autor selbst: überlebensgroß Klaus Mann, als Foto kurz vor dem Freitod 1949 auf die Leinwand im Theater projiziert und mit der knarzenden Mikrophonstimme des amerikanischen Soldaten von damals. Als Heimkehrer in amerikanischer Uniform hat er "seinen" Gustaf noch einmal auf der Bühne gesehen, zehn Jahre zuvor war dieser Gründgens und dessen Karriere das Sujet für Manns "Mephisto"-Roman.
Politik in Badelatschen
von Tobias Prüwer
Halle, 14. Februar 2015. Gen Ende kommt die Feuerwehr. Drei Herren, behelmt und in voller Montur, laufen den Technikrang ab, um sich zu überzeugen, dass es im Neuen Theater Halle wirklich nicht brennt. Minuten zuvor hatte die Farce ihren stärksten Moment: Der ausgemachte "Volksfeind" rief zur Vollversammlung. Das Publikum höchstselbst sollte darüber abstimmen, ob man lieber über Coli-Bakterien in der Wasserversorgung diskutieren oder die Systemfrage stellen möchte; bevor die Kulisse – intendiert – von Explosionen heimgesucht wird.
Gute Menschen, schlechte Menschen
von Ute Grundmann
Halle/Saale, 29. Januar 2015. Keine brüllenden Wutbürger, sondern scharf artikulierende Schauspieler. Keine Straße mit Demonstrationszügen und ausländerfeindlichen Plakaten, sondern ein ödes, bürgerliches Wohnzimmer. Obwohl in Philipp Löhles Stück die Parallelen zu den derzeitigen "Pegida"-Kampagnen und Demonstrationen auf der Hand liegen, hat Ronny Jakubaschk "Wir sind keine Barbaren!" genau ohne diese Parallelen inszeniert: als rasante Spirale von Vorurteilen zwar, aber ohne das allzu Offensichtliche zu zeigen. Und das bekommt der 90 Minuten kurzen Aufführung gut.
Blutspenden für blutleere Figuren
von Ute Grundmann
Halle, 15. November 2014. Ein Gerichtsverfahren läuft rückwärts. Aussagen, schon gemacht, werden widerrufen. Zeugen, die nichts gesehen haben und den Angeklagten nicht wiedererkennen, finden sich plötzlich in dessen Fesseln wieder. Und über allem schweben zwei riesige, graue Findlinge, die vom Gerichtsdiener wie das Pendel einer Uhr aufgezogen werden. Alles kann wahr sein oder alles ein Traum in Jo Fabians Inszenierung "Der Spiegel im Spiegel" nach Michael Endes gleichnamigem Erzählungsband.
Die Fallhöhe des Schafotts
von Matthias Schmidt
Halle, 27. Juni 2014. Nach rund anderthalb Stunden wäre es eigentlich vorbei. Die Revolutionäre haben sich entzweit, zerfleischt und aufs Schafott geschafft. Dantons Frau hat sich umgebracht und Camilles Gattin mit einem kecken "Es lebe der König" ihre Verhaftung provoziert. Auch eine Art Selbstmord. Aber in Halle ist es hier noch nicht vorbei. In Halle kommt noch was: auf leeren Fässern wird ein ekstatischer Rhythmus getrommelt und chorisch das Vermächtnis der Französischen Revolution in die Nacht gerufen. Von allen bis auf Robespierre, der auf einem Balkon und also über den Dingen steht. Sinngemäß sagen sie, wir haben alles für euch vorbereitet – die Freiheit erkämpfen müsst ihr selbst. Eine Botschaft. Wir? Für einen Moment glaubt man, die Schauspieler seien eben tatsächlich aus ihren Rollen getreten.
Nicht Würfel nicht Scheibe
von Matthias Schmidt
Halle, 24. Mai 2013. Das Beste an der immerhin fast dreistündigen Inszenierung war der Schluß, die letzten Minuten. In diesen dröhnt die wuchtige Erkennungsmelodie der HBO-Serie "Game of Thrones" aus den Boxen, während Michelangelos riesige David-Statue aus der Unterbühne heraufgefahren wird. Der sterbende Galileo sitzt daneben: klein, grau, gescheitert. Eine Prozession von Mönchen umkreist ihn wie die Planeten die Sonne. Was für ein Bild, was für eine Metapher! Der pathetisch-bombastische Soundtrack trägt die ganze Ambivalenz der Situation in sich – die Finsternis der Inquisition gegen die strahlende Renaissance. Und mittendrin steht, ach, ein schwacher Mensch.
Oh Thalia, da Du hangest
von Matthias Schmidt
Halle, 6. Juli 2012. Der Himmel über Halle blieb wie durch ein Wunder trocken – die Unwetterwarnung des Wetterdienstes endete eine halbe Stunde vor der Premiere des "Till Eulenspiegel". "Till, Meiner, ein Handwerk sollst du lernen", sagt die Mutter zu dem Jungen, der auf dem Dach des neuen theaters Halle herumturnt wie ein Kind mit ADHS. Doch Till denkt nicht daran, zieht lieber in die Welt hinaus, um den Menschen Streiche zu spielen. Wir sind in Halle. Es ist Sommertheater.
Red-Bellying contra Black-Facing
von Matthias Schmidt
Halle, 18. Mai 2012. Auf der Facebook-Seite des neuen theaters Halle ging es in den letzten Tagen heiß her. Teilweise wütend wurde diskutiert, ob sich bereits aus dem Untertitel der Inszenierung, "Venedigs Neger", ein Rassismusvorwurf ableiten lasse. Das Team um Regisseur Wolfgang Engel erlebte hier – und das schon Tage bevor jemand die Inszenierung gesehen hatte – was in diesen Tagen inflationär als shitstorm bezeichnet wird (ein Scheiß-Wort, ganz nebenbei gesagt). Intendant Matthias Brenner versuchte moderierend einzugreifen, so heftig ging es zur Sache, und Schauspieler Martin Reik, der den Othello spielt, verteidigte sich und die Freiheit der Kunst mit energischen Worten. Und nun, nach der Premiere? Kann man mit Shakespeare sagen: viel Lärm um Nichts.
Wenn Affen zu sehr lieben
von Ute Grundmann
Halle/Saale, 12. November 2011. King Kong und die weiße Frau tanzen engumschlungen, die Köpfe zusammen in das zottelige Fell gesteckt. Doch als der schwarze Affe vorsichtig, probeweise das Untier hervorkehrt, pfeift die weiße Frau ihn zurück und, als das nichts hilft, bricht sie ihm knirschend das Genick. Die "Ordnung" zwischen Tier und Mensch scheint wiederhergestellt, doch sie ist eine verkehrte: Denn der Affe ist eine Frau und die Frau ein Mann. Aber was ist eigentlich "männlich", was "weiblich", was "dürfen" Männer, was Frauen nicht dürfen und warum eigentlich nicht?
Lebende Weberschiffchen über schwindelndem Abgrund
von Matthias Schmidt
Halle, 16. September 2011. Das Fatale an Gerhart Hauptmanns "Webern" ist ja, dass wir ihre Armut nicht mehr nachvollziehen können. Unser Kapitalismus hat sich seitdem erheblich geputzt, seine Weber leben in der Dritten Welt. Wir sehen sie nur gelegentlich im Fernsehen. Ein naturalistischer (Rück-)Blick auf Figuren wie die schlesischen Weber würde folkloristisch anmuten. Oder unfreiwillig komisch, gerade wegen der im Dialekt geschriebenen Texte. Zudem war ihre Lage so eindeutig, vor dem Aufstand und auch, als sie niedergemetzelt beziehungsweise ins Zuchthaus gesteckt wurden, dass es kaum noch lohnt, darin herum zu psychologisieren.
Im Abspeck-Zirkus
Von Ralph Gambihler
Halle, 7. Mai 2011. Der Noch-Intendant hat seinen Schreibtisch noch nicht geräumt, da betritt der Neue schon die Bühne – freilich in freundlichem Einvernehmen. Christoph Werner, der vor sechs Jahren das schwierige Erbe Peter Sodanns angetreten hatte und nie so richtig in Fahrt kam, lud seinen designierten Nachfolger Matthias Brenner ein, schon mal die letzte Saalpremiere der Saison zu inszenieren. Der nahm an und dachte zuerst an Molière, entschied sich dann aber für die Komödie "Zscherben - ein Dorf nimmt ab!", ein Stück aus der Feder seines künftigen Studio- und Spielleiters Jörg Steinberg, das nun zur Uraufführung kam, gewissermaßen als Prolog für die im Sommer beginnende Intendanz des 53-jährige Schauspielers und Regisseurs.
Der Stoff, aus dem geplatzte Träume sind
von Matthias Schmidt
Halle, 13. November 2010. Mit Shakespeares letztem Drama "Der Sturm" verabschiedet sich der Intendant des "neuen theaters halle", Christoph Werner, als Regisseur von seinem Haus. Zum Spielzeitende wird er dahin zurückgehen, wo er vor fünf Jahren herkam – ans Puppentheater Halle. Als Blütezeit des neuen theaters wird man Werners Intendanz wohl leider nicht erinnern: Anfangs hemmte ihn der Streit mit dem von der Stadt hinausgeworfenen Gründer Peter Sodann (der das Haus bis heute nicht betritt), dann akzeptierte er Stellenstreichungen und musste schließlich den Verlust der Eigenständigkeit der Kulturinsel Halle hinnehmen, deren Mitte das "neue theater" war. Und zu befürchten ist, dass auch mit der eingeleiteten Schließung des Thalia Theaters das eigene Profil des "neuen theaters" innerhalb der Mehrsparten-GmbH weiter geschwächt wird.
Eine Reise zu sich selbst
von Joachim Lange
Halle, 27. November 2009. Es ist eine aktuelle Theatermode, aus Romanen oder Filmen Bühnenstücke zu machen. Auch in Halle. Gerade so, als gäbe es keine Autoren und Bühnenstoffe mehr. Was im Falle von Stücken, die die deutsch-deutsche Geschichte als Familiengeschichte erzählen und auch die zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer einbeziehen, sogar zutreffen mag.
Das gespenstische Eigenleben der Komik
von Wolfgang Behrens
Halle/Saale, 14. Februar 2009. Emanuel Striese ist in Halle weiß Gott kein Unbekannter. "Strieses Biertunnel", die Kneipe neben dem Neuen Theater, ist nach ihm benannt, und ein paar Schritte weiter findet man sogar ein Striese-Denkmal. Denn der Gründer und langjährige Leiter dieses Theaters Peter Sodann – manchem besser bekannt als ehemaliger Tatort-Kommissar Ehrlicher und Bundespräsident in spe – hatte ein Faible für den so unverwüstlichen wie unsterblichen Schmierentheaterdirektor aus Franz und Paul von Schönthans Schwank "Der Raub der Sabinerinnen". Ja, man könnte meinen, Sodann habe sich Striese zur Leitfigur erwählt, um sich nach dessen Bilde selbst zu inszenieren.
Mit Frisch ins Lebens-Butterbrot beißen
von Ute Grundmann
Halle, 22. November 2008. Kürmann will die Wohnung, in der er mit Antoinette unglücklich war, am liebsten nie bezogen haben. Kein Problem: Aus einer Bodenklappe werden weiße Laken geholt, die Sofa und Tisch verdecken, aber nicht verschwinden lassen. Als Antoinette zum x-ten Mal aus der Kulisse gerufen wird, um eine Szene aus Kürmanns Leben zu wiederholen, hat sie gerade in ein Butterbrot gebissen und die hochhackigen Pumps gegen rotweiße Turnschuhe ausgetauscht. Das sieht zum eleganten "Kleinen Schwarzen" ziemlich merkwürdig aus, soll aber wohl signalisieren: Sie war schon in der wohlverdienten Pause, während Kürmann immer noch mit seinem Leben ringt.
Fäuste ballen und zur Decke schauen
von Johanna Lemke
Halle, 8. Oktober 2008. Die Fechtszene am Ende hat es dann doch rausgerissen in diesem "Hamlet" am Neuen Theater Halle: Es entsteht eine Konzentation in der Inszenierung von Christoph Werner, die man vorher vergeblich suchte. Dabei strebt hier vieles in die Höhe: Hamlets Bühne, das ist eine graue Pyramide aus Pappe, auf deren Spitze ein ebenfalls aus Pappe geschnittenes Denkmal von Hamlet Senior wankt.
Ewige Mechanik der Orgasmuserzwingung
von Ralph Gambihler
Halle, 27. September 2008. Wie viel feuilletonistischer Gehirnschmalz troff über diesem Roman? Über seine unerhört unverblümte und beim Publikum unerhört erfolgreiche Heldin Helen Memel? Es wird nicht wenig gewesen sein, genug jedenfalls, um das Feuilleton erneut zu versammeln, da nun die 18-jährige Protagonistin aus den Seiten des Buches herausgestiegen und erstmals ins Rampenlicht getreten ist.
Kinder!, ist das lustig
von Wolfgang Behrens
Halle, 22. Februar 2008. Der Kleinste kann sein Glück kaum fassen. Clemens Apel, der sechsjährige Darsteller des Ultimo – des zwölften und jüngsten Kindes von Professor Traugott Hermann Nägler – ballt im rauschenden Schlussapplaus die Faust wie weiland Boris Becker und bestätigt so sich und allen anderen den Triumph. Einen Triumph, den einige Stunden zuvor wohl die wenigsten erwartet hätten.
Essig und Böller
von Matthias Schmidt
Halle, 29. Dezember 2007. Los geht es mit einem Knalleffekt: eine Hinterbühnentür wird eingetreten und sieben junge Leute stürmen die "Werft", die kleine Bühne des "neuen theaters". Oh ja, sie stürmen, und sie werden es den ganzen Abend tun. Sie werden eine Pistole auf das Publikum richten, sie werden Bomben bauen und zünden, sie werden wild sein und – natürlich – sie werden kämpfen. Gegeneinander, gegen die sie umgebende Konsumgesellschaft und manchmal auch ohne Sinn und Ziel.
Die spinnen, die Römer
von Hartmut Krug
10. Oktober 2007. Kleists "Hermannsschlacht" ist ein Zeitstück, das den politischen Widerstand gegen Napoleon, den Besetzer Preußens, als nationale Befreiungstat auf die Bühne brachte. Weshalb das 1808 entstandene Stück mit gewissem Sicherheitsabstand erst 1821 gedruckt und 1839 uraufgeführt werden konnte.