Rächerin im Ballgetümmel
von Andrea Heinz
Wien/Online, 15. Dezember 2020. Zu den vielen Ungeheuerlichkeiten, die man als Deutsche*r über Wien und Österreich entweder nicht weiß oder, wenn man es weiß, kaum glauben kann, gehört der alljährliche Akademikerball. Er wird in der Hofburg abgehalten und ist der Nachfolger des Korporations-Balls, der von mehrheitlich schlagenden (Sie wissen schon, die wulstigen Narben, die die finsteren Nazis in "Babylon Berlin" auf der Wange haben) Studentenverbindungen veranstaltet wurde. Er wird immer wieder gerne von hochrangigen internationalen Rechtsextremist*innen besucht, auf der Straße wird heftig dagegen demonstriert, bisweilen wurden diese Demos (verfassungswidrigerweise) verboten.
Das, was nicht stimmt, ringt hier um Worte
von Gabi Hift
Wien, 30. Oktober 2020. Riesig ist das Federbett, das über der ganzen Bühne liegt. Als es gelüftet wird, zeigt sich darunter ein typisches Wohnzimmer aus den 80ern: Schrankwand des Grauens, Servierwagen, Standuhr, Marienstatue und ein noch verpackter Weihnachtsgartenzwerg (Bühne: Lili Anschütz). An einem Bord an der Wand erscheint, live getippt, eine Schrift: "Also. Anfangen. Warum muss sich das so schwer anfühlen." Ewelina Benbeneks "Tragödienbastard" ist der Gedankenstrom einer Frau, die zu immer neuen Erklärungen ansetzt und immer wieder ins Rechtfertigen rutscht. Gegenüber ihrer Großmutter in Polen, die wissen will, ob sie schon einen Mann gefunden hat, gegenüber den Eltern, die sich ein Leben lang einen deutschen Pass gewünscht haben, den sie, die Tochter nun hat. Erfolg hat sie, ein Studium abgeschlossen, aber „Was, wenn da das Gefühl bleibt, you know? Das Gefühl von Struggle, obwohl doch alles gut ist"?
Wollen wir kuscheln?
von Martin Thomas Pesl
Wien, 30. September 2020. Ein wohligeres Anfangsbild hätte Tomas Schweigen für die neue Saison am Schauspielhaus kaum finden können: Statt menschlicher Virenschleudern gibt es erst einmal Luft. Undefinierbare Stoffhäufchen auf der Bühne expandieren zu raumgreifenden Bällen, erst blau, dann rosa angeleuchtet und begleitet von epischem Sound, als fände hier Wiens gesündestes Clubbing statt. Bis alles aufgeblasen ist, braucht es seine Zeit. Dann setzt das klinische Weiß ein, das die Kulisse die nächsten zwei Stunden dominieren wird. Vera von Gunten schiebt sich zwischen zwei Ballons durch und sagt: "Ich bin ein Tetrisstein."
Ich kann dir was Line
von Martin Thomas Pesl
Wien, 27. Februar 2020. Es wirkt fast erfrischend, im Theater einen Text zu hören, in dem niemand die Welt retten will. Die Prä-Greta-Generation, der Wilke Weermanns "Angstbeißer" angehören, findet noch eher Amokflüge als Flugscham aufregend.
Spiel mir das Lied vom Öl-Tod
von Martin Thomas Pesl
Wien, 11. Januar 2020. Nobody ist ein Cowboy, und zwar ein nihilistischer. "All things are made of something, the no-thing", sagt er in Gestalt des Schauspielers Jesse Inman, und später singt es der Musiker Andreas Spechtl ("Ja, Panik") auch melancholisch vom Band. Irgendwie haben die Figuren am Ende des neuen Stücks von Thomas Köck keine Lust mehr. Gerade noch gaben sie die Devise "nie vergessen" aus, dann folgt die Erinnerung "wir sterben alle", nämlich in dem Fall wirklich alle, wegen des klimabedingten Niedergangs, an dem – soweit man den einige Szenen zuvor von Til Schindler hinauskatapultierten Dystopien der "Carbon Democracy" folgen kann – Kapitalismus, Kohlenutzung und die Suche nach Öl schuld sind.
Der Blauwal soll sein Maul halten!
von Theresa Luise Gindlstrasser
Wien, 9. Februar 2019. "Es geht in diesem Text um alles. Es ist ein Wal […] Ein Blauwal", so Wolfram Lotz. Für diesen Blauwal genannt "Sommer" erhielt Sean Keller das Hans-Gratzer-Stipendium 2018. Lotz hatte den Wettbewerb als Mentor begleitet. Nun erfolgte die Uraufführung am Schauspielhaus Wien in der Regie von Elsa-Sophie Jach. Deren, im Regieduo mit Thomas Köck erarbeitete, Inszenierung von Köcks Text Die Zukunft reicht uns nicht (Klagt, Kinder, klagt!) wurde 2018 zu den Autor*innentheatertagen und zum nachtkritik Theatertreffen eingeladen und war für den Nestroy nominiert.
Auf der Suche nach der Süße
von Gabi Hift
Wien, 12. Januar 2019. "Warum erzählen wir die Geschichten?" – Auf steiler, heller Schräge stehen fünf in lange schwarze Roben gekleidete priesterliche Gestalten. "Was zu suchen sind wir hergekommen?" Die Geschichte, die sie uns erzählen, handelt von einem Road Trip, von Bruder und Schwester, die auf der alten Gastarbeiterroute hinunter nach Süden fahren, in jenen Ort, von dem aus ihr Vater vor Jahrzehnten nach Deutschland aufgebrochen ist. Sie wollen die Stelle finden, wo ihr Großvater bei einem Autounfall gestorben ist. Als sie Kinder waren, hat der Vater deshalb in den Nächten geschrien, er war in psychiatrischer Behandlung. Nun wollen die Geschwister hinunter und an der Stelle einen Baum pflanzen. Während sie fahren, kommen aus dem Autoradio Nachrichtenfetzen, Tagesmeldungen, Stories und Liedfragmente, die rätselhaften Mustern zu folgen scheinen.
Schimmis Schimmmmpansenkostüm
von Leo Lippert
Wien, 24. November 2018. Im "Nachbarhaus" des Wiener Schauspielhauses ist es heiß und stickig. Der nicht allzu große Raum, der normalerweise als Theaterbar funktioniert, ist vollgestopft mit Stühlen, Schemeln, Bänken, auf denen die Zuschauer*innen nach halbwegs aushaltbaren Sitzpositionen suchen. Aufgescheuchte Theaterangestellte drängen eifrig noch ein paar Ersatzplastikhocker in die Menge. Es riecht nach Studi-Theater, Kellerkabarett. Sichtachsen gibt es so gut wie keine. Wenn man es nicht gerade in die erste Reihe schafft, wird man unweigerlich Dinge verpassen. (Nicht dass das eine Empfehlung wäre, sich in die erste Reihe zu setzen – dazu später). Man wird den ganzen Abend darauf warten, dass das Einpferchen des Publikums irgendeinen größeren Sinn ergäbe, dass das Nicht-Sehen-Können, das körperliche Bedrängtsein irgendwie inhaltlich reflektiert würde. Es scheint aber bloß organisatorische Nachlässigkeit zu sein.
Europa eingemottet
von Theresa Luise Gindlstrasser
Wien, 26. September 2018. Weiße Gesichter und weit aufgerissene, schwarz untermalte Augen. Diese Zombies tragen glänzende Anzüge, zucken vorwärts, ducken sich nieder und versacken in verkrampften Posen. Ein Barmann dirigiert die Lichtverhältnisse von neonröhrig zu schummrig-lila. Dumpfe Orgeltöne, sehr wie Watte, machen ein konstantes, hypnotisierendes Rauschen aus. Vor einer grün marmorierten Barkulisse, und der Barmann spricht: Dass die Motten auf die Dunkelheit warten um alsdann ins Licht zu fliegen und zu sterben, dass es keinen Gott geben kann, dass es also keine Schöpfung gibt. Willkommen im Brüssel-Kabinett!
Die Gleichschaltung der Zufriedenen
von Andrea Heinz
Wien, 12. Mai 2018. Man fängt bei dieser Geschichte am Besten von vorne an. Im Herbst 2017 startete das Wiener Schauspielhaus die "Seestadt-Saga", eine "begehbare Social-Media-Serie". Protagonist*innen waren fiktive Figuren, die in der (realen) Seestadt Aspern, einem (sehr weit draußen liegenden) Wiener Stadtentwicklungsprojekt, lebten. Marko Herz (der viele an den österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz erinnerte) gründete dort die "Liste Seestadt", eine Bürgerbewegung, die in der Folge immer mehr ins rechte politische Lager driftete.
Mit ISDN-Geschwindigkeit
von Eva Biringer
Wien, 24. März 2018. Es soll Autoren geben, die sich beim Arbeiten mit Hilfe von Apps selbst aus dem Internet verbannen. Vorsichtige Vermutung: Enis Maci gehört nicht dazu. Ihr Stück "Mitwisser" gleicht in der Struktur seinem Gegenstand, der unendlichen Randomness des Internets. Ein brillanter, unverschämt überfordernder Text über Schuld, Gewalt und Rache, über Drogenparties und Ehrenmorde, der vom Ästchen aufs Stöckchen kommt oder, in der Sprache des Web 2.0, von einem offenen Tab zum nächsten. Im Zentrum stehen drei wahre Begebenheiten. In einer Rentnerenklave in Florida bringt ein Jugendlicher seine Eltern um und lädt danach die halbe Schule zur Homeparty ein. Auf die Frage nach dem Grund für seine Tat antwortet er: "Warum nicht?"
Der Körper in Zeiten seiner technischen Modifizierbarkeit
von Andrea Heinz
Wien, 27. Januar 2018. Manchmal braucht man auch einen Parka in der Wüste. Zumindest in dieser Wüste "des Öls, des Staubs, der Information", in dieser "Wüste des Kapitalismus", in der Mehdi Moradpours "Ein Körper für Jetzt und Heute", im Wiener Schauspielhaus uraufgeführt in der Regie von Zino Wey, spielt. Zwar wird die Bühne beherrscht von einem großen, mit Graffiti verunzierten Brunnen, wie es ihn in jeder x-beliebigen Stadt gibt – aber die Bananenstauden dahinter geben schon den Hinweis: Man befindet sich hier eher nicht im christlichen Abendland.
Frühstück mit Muttermord
von Martin Pesl
Wien, 31. Dezember 2017. Am Schauspielhaus Wien umfasst die Dramaturgie auch Fachkräfte aus Bereichen wie Kostüm und Musik. Wie ein freies Kollektiv, wo alle alles entscheiden, schafft die Theaterfamilie von Tomas Schweigen seit 2015 verspielte Ereignisse, die manchmal glücken und immer besonders sind. Die diesjährige Silvesterpremiere verantwortet Jacob Suske, der Komponist unter den Dramaturgen. Sein in Luzern entwickeltes Format der "elektronischen Kammeroper" legt er in Koautorschaft mit der Lyrikerin Ann Cotten auf eine Elektro-"Elektra" um und führt selbst Regie. "Pathos ist ein legitimes Mittel", steht im Ankündigungstext des Theaters, doch dieses Mittel nutzt Suske nie. Im Gegenteil regiert zwei Stunden lang, wie der flye Untertitel "Was ist das für 1 Morgen?" ahnen lässt, überspitzte ironische Distanz.
Kassandras Erben
von Andrea Heinz
Wien, 9. November 2017. Man befürchtet schon das Schlimmste. "Die Zukunft reicht uns nicht (Klagt, Kinder, klagt!) Eine postheroische Schuldenkantate" nennt sich das Stück von Thomas Köck, das er gemeinsam mit Elsa-Sophie Jach am Schauspielhaus Wien zur Uraufführung gebracht hat. Das Programmheft hat die Anmutung eines Proseminar-Readers: Wissenschaftliche Texte, Interviews und Zeitungsartikel, alles schön unterstrichen und angemalt, damit auch wirklich kein Zweifel aufkommt. Es geht hier um das Erbe. Darum, was für eine schrecklich kaputte Welt die Alten den Jungen hinterlassen werden.
Mittwoch: Wendepunkt
von Theresa Luise Gindlstrasser
Wien, 27. Oktober 2017. Es war wie Silvester. Auf der Website zählte es schon tagelang runter. Drei, zwei, eins: "F*ck! Verpennt. Das fängt ja gut an." Mit diesem Facebook-Post startete am 19. Oktober um 12:02 die erste Staffel der "Seestadt-Saga". Hektisches aufrufen der Social-Media-Profile. Bin ich mit allen Figuren befreundet? Was ist los? Passiert da was? Wo passiert denn nun was? Vier Minuten später ging es mit einem Post auf Instagram weiter. Teenager Kathi will nicht umziehen und fotografiert: "Leben du nervst!" Die Erziehungsberechtigten (Vera von Gunten und Sebastian Schindegger sind in Fiktion und Realität Schauspielende angestellt am Schauspielhaus) haben anders entschieden. Der Umzug in die Seestadt Aspern im Nordosten von Wien, einem der größten Stadtentwicklungsprojekte Europas, steht für den nächsten Tag fix.
Demokratie als Bühne
von Leopold Lippert
Wien, 29. Mai 2017. Nun also eine Theaterkritik schreiben über einen Abend, der zwar am Theater stattfindet, aber eigentlich ein diskursives politisches Format sein will, ein öffentlicher Salon. Der zwar andauernd performativ ist, aber darüber kaum nachdenkt, und so etwas wie eine Authentizität des Arguments immer schon voraussetzt. Der zwar Eintritt kostet, eine Bühne, ein Publikum, und ein paar Spielregeln hat, in dem aber Rollengestaltung und Rollenverteilung zumeist unklar sind, weil sie unausgesprochen bleiben.
Was Großvater nicht erzählte
von Veronika Krenn
Wien, 20. April 2017. "Ich stelle mir vor, dass dieses Stück ein Gespräch mit Dir ist, eines das erst beginnt", sagt Ivna Žic in einem imaginierten Brief an ihren Großvater. Er sei ein großer Erzähler gewesen, der seiner Enkelin von früh bis spät Geschichten erzählte, aber für seine eigene – bis zu seinem Tod – keine Worte fand. 70 Jahre danach macht die Autorin sich auf die Suche nach Spuren der Vergangenheit. Gemeinsam mit dem künstlerischen Schauspielhaus-Team, das sie inklusive Filmcrew bis nach Kärnten begleitet, stößt sie auf weitere, ebenso widersprüchliche Geschichten, allesamt Zeugnisse einer sich wandelnden Erinnerungskultur- und politik.
Kuh oder die Frage nach dem Geld
von Theresa Luise Gindlstrasser
Wien, 11. März 2017. Das Vokabel-, äh, Programmheft bereitet auf den Besuch der Vorstellung vor: "Exklusiv in dieser Ausgabe: Kleines ABC der Wirtschaft". "Derivat" zum Beispiel, oder "Leitzins", was war das alles nochmal eigentlich wirklich jetzt genau? Wissen wir nicht. Wissen wir viel zu wenig über Wirtschaft. Hat sich FUX gedacht und also "Frotzler-Fragmente. Eine postmonetäre Doppelconférence" im Wiener Schauspielhaus gemacht. FUX, das sind Nele Stuhler und Falk Rößler (die diesmal ohne Stephan Dorn zusammen gearbeitet haben), wurde 2011 beim Angewandte-Theaterwissenschafts-Studium in Gießen als Gruppe gegründet. Schon die letzte Arbeit "FUX gewinnt" wies aufs Interesse an der Geldwirtschaft voraus.
Der Neandertaler in uns
von Eva Biringer
Wien, 1. Februar 2017. Was macht Sisyphos im Supermarkt? Er trägt ein Neandertalerkostüm und scheitert am Transport seiner Einkäufe. Kaum hat er sich evolutionsbedingt aufgerichtet, kullert ihm ein Dutzend Salatgurken aus der Hand und er muss sich bücken, um sie aufzusammeln, um sie wieder fallenzulassen, um sie wieder aufzusammeln... Warum keine Tüte? Vielleicht waren ihm die fünfzehn Cent zu viel. Schließlich schmeißt er alles Grünzeug hin. Andere Neandertaler kommen ihm zu Hilfe und schauen nach, was man mit Salatgurken noch so alles machen kann, Maniküre, Mundhygiene, Feuermachen, aha, oder man fitzelt die Plastikfolie rauf und runter wie ein Kondom. Klingt bescheuert? Ist es auch. Willkommen in der Welt von Lisa Lie.
Erhöre unseren Antrag
von Eva Biringer
Wien, 13. Januar 2017. Das Prekariat hat gute Laune. Beim Betreten des Zuschauerraums loopt einem Discopop entgegen, Girlanden blinken im Takt. Die möglicherweise klischeehafte Annahme, junge Menschen gingen Freitag abends lieber trinken als ins Theater, ist mit dem Publikum des Schauspielhauses widerlegt. Liegt vielleicht auch am Stück. Dabei ließ dessen Titel "Diese Mauer fasst sich selbst zusammen und der Stern hat gesprochen, der Stern hat auch was gesagt", Schlimmes ahnen, zum Beispiel Hashtag Meta Anführungsstriche Theater.
Lebend davongekommen
von Martin Pesl
Wien, 1. Dezember 2016. Die Dame an der Kasse begrüßt mich mit Namen. Sie hat leicht raten, denn für jeden Viertelstundenslot ist nur genau eine Person angemeldet. Ich soll warten, bis ich dran bin – 20:45 Uhr – und dann beim Nebeneingang klingeln. "Wo es so puffmäßig aussieht." Alle dürfen bis Mitternacht bleiben in Thomas Bo Nilssons Performance-Installation. Es ist bereits seine zweite im Wiener Schauspielhaus dieses Jahr.
Rebell Duckface
von Theresa Luise Gindlstrasser
Wien, 25. November 2016. "Ach Kudlich", sagen sie am Ende. Sie. Also wir. Weil wir, das Publikum, wir bekommen Pappschilder in die Hände gedrückt. Wir sind aber auch sie. Also ein historisches Publikum, das sich mit dem Ende der Erbuntertänigkeit zufrieden gibt, die gleichzeitige Fesselung in das durch die Raiffeisenbank entstehende Kreditwesen gar nicht recht bedenken will. "Ach Kudlich", sagen die und nehmen den Politiker Hans Kudlich somit sowas von nicht ernst. Er, der "Bauernbefreier", der 1848 im österreichischen Reichstag den Antrag auf Aufhebung der bäuerlichen Untertänigkeitsverhältnisse gestellt hat, er ist in der Inszenierung von Marco Štorman immer schon eine lächerliche Gestalt.
Fight Club
von Theresa Luise Gindlstrasser
Wien, 15. April 2016. Level 6 ist "closed for audience". Deswegen werden die verbliebenen Publikumspersonen pünktlich um ein Uhr nachts aus dem Schauspielhaus raus komplimentiert. Zwei Zeitfenster erlauben den Eintritt in die sogenannte 504-Stunden-Installation "Cellar Door" von Thomas Bo Nilsson, dem Signa-Bühnenbildner und Meat-Regisseur, am Schauspielhaus Wien. Level 4 und Level 5 sind "open for visit", der Kauf einer Karte ermächtigt zum vierstündigen Verbleib in der wirren Virtual-Reality-Welt. Wobei diese Erlebnisinstallation in den zur völligen Orientierungslosigkeit verunstalteten Räumlichkeiten nur einen Teil des Triptychons "Cellar Door" ausmacht. Ein zwölfminütiger Trailer suggeriert eine Vorgeschichte, eine Website bietet Insider-Info. Und: Dort soll es auch einen Live-Stream des Geschehens geben, sollen einzelne Darstellende befehligt werden können. Diese Funktion schien aber deaktiviert, oder sonst irgendwas an meiner Handhabung defekt zu sein.
Alles auf Anfang
von Kai Krösche
Wien, 8. April 2016. THX 1138 klingt, wie die meisten benutzerorientierten Sprachsysteme, freundlich. Hier und da schwingt noch eine irritierende Künstlichkeit in einzelnen Betonungen mit – aber letztlich hört man diese Stimme gern. Man verzeiht ihr auch, wie schonungslos sie einem vorrechnet, dass man ein Drittel seines Lebens mit Schlafen und weitere Unmengen an Zeit mit sinnlosem Warten verbringt, während man selbst im Tröpfeln des Regens steht und, nun ja, wartet. Doch, man lässt es ihr sogar durchgehen, dass sie uns und andere Menschen konsequent als "User" bezeichnet. Schließlich folgt man ihren Richtungsanweisungen und macht sich, die Kopfhörer an den Ohren, vom Schauspielhaus aus auf den Weg hinein in den 9. Wiener Gemeindebezirk.
Von Kokosnuss zu Coca-Cola
von Johannes Siegmund
Wien, 25. Februar 2016. "Haben wir denn eine Verpflichtung die grenzenlosen Torheiten unserer Ahnen in alle Ewigkeit zu wiederholen?", fragt sich der Lebensreformer August Engelhardt zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Nudist und Frutarier steigt aus und gründet auf einer Pazifikinsel einen Kokosnusskult. Ab jetzt ernährt er sich nur noch von Kokosnüssen, denn die Kokosnuss muss eine göttliche Frucht sein, ähnelt sie doch dem menschlichen Kopf und wächst so nah an der Sonne. Die Theateradaption von Christian Krachts Roman "Imperium" am Schauspielhaus Wien fasst das Scheitern von Engelhardts Utopie in eine postdramatische Form.
L. O. V. E.
von Theresa Luise Gindlstrasser
Wien, 14. Januar 2016. Drinnen Weltvergessenheit, dabei draußen Weltuntergang. Aber nicht die ganze Welt ist untergegangen am 14. Juli 1789. An diesem Abend des Sturms auf die Bastille begegnen sich in Arthur Schnitzlers "Der grüne Kakadu" weit über 20 Figuren in der titelgebenden Spelunke. Da gibt es zahlungskräftige Adlige, einen geschäftstüchtigen Wirt und also allerlei Theater. Schauspielende praktizieren drinnen, was die Revolution draußen erst noch bewahrheiten muss. Das Publikum wird verhöhnt, es werden ihm Geschichten von Gaunereien verkauft, aber alles, weil es ja Theater ist, verursacht angenehmes Grausen bloß.
Melodie der Verstörung
von Martin Pesl
Wien, 6. November 2015. Ha, reingefallen! Erst eifriges Googeln auf der Heimfahrt verrät, dass es die Zwischenfälle in "Möglicherweise gab es einen Zwischenfall" eben nur möglicherweise gab. Das Stück des Engländers Chris Thorpe arbeitet sich in verzahnten Monologen (und einem Dialog) an vier scheinbar historische Ereignisse heran, die der ehrgeizige Zuschauer fieberhaft der Realität zuzuordnen versucht, entsetzt über sein mangelndes Geschichtswissen.
Viel Glück, du neues politisches Zentrum!
von Theresa Luise Gindlstrasser
Wien, 31. Oktober 2015. Nach dem Volkstheater und dem Brut wurde nun auch am Schauspielhaus Wien die Spielzeit und eine neue Intendanz eröffnet. Während das Volkstheater mit der Leitung von Anna Badora lediglich eine neue Publikumstribüne bekam, wurde im Brut und Schauspielhaus deutlicher auf räumliche Veränderung gesetzt. Das Brut ist mit Kira Kirsch im Aussehen grau und seriös geworden, das Schauspielhaus mit Tomas Schweigen als neuem künstlerischem Leiter rot und grün. Das ist nicht ganz so seriös und vielmehr optisch übel, aber nach der Eröffnungspremiere "Punk & Politik" ein Spruch aus dem Volksmund: Don't you judge that book by its cover!
Das gemeine Kind
von Martin Pesl
Wien, 5. März 2015. Kaum möchte man glauben, dass es die letzte Premiere der Ära Andreas Beck am Schauspielhaus Wien ist: kein Karacho, keine Tränen, sondern ein schlichter Abend von 75 Minuten. Je fünf Musiker und Schauspieler, alle unaufdringlich gekleidet, betreten die Bühne. Die Spielfläche ist ein etwas verdreckter, aber unverstellter Mulchteppich. Im Eck stehen die Instrumente: E-Gitarre, Klarinette, Kontrabass, Akkordeon und Klavier. Diese Uraufführung beginnt wie ein biederes Hauskonzert.
Während Gott schläft
von Theresa Luise Gindlstrasser
Wien, 13. Februar 2015. Robert Borgmann inszeniert Clemens Mädge. Das heißt: Der Regisseur, der gerade mit der Inszenierung von "die unverheiratete" von Ewald Palmetshofer am Akademietheater zum Theatertreffen eingeladen wurde, inszeniert die Uraufführung eines Stückes von dem Autor, der 2012 für eben diesen Text mit dem Hans-Gratzer-Stipendium am Schauspielhaus Wien ausgezeichnet worden war. Das heißt noch lange nichts. Das heißt aber folgendes.
Im Western nichts Neues
von Martin Thomas Pesl
Wien, 9. Januar 2015. Um Udo herum tobt beängstigende Seltsamkeit. Er ist gekommen, um ein Verbrechen aufzuklären, dessen Schuldige, wie der Kneipenwirt erklärt, längst gefasst sei. Was wirklich passiert ist, will Udo wissen. Die ältere Whiskytrinkerin lacht laut auf. Der Schelm mit Hut und Stock – ein im Kindskörper gefangener Mann, der zwar nicht wachsen, dafür der eigenen Meinung zufolge auch nicht sterben kann – verabschiedet sich, er müsse Sticker tauschen gehen. Auch die zwei Dreikäsehochs, die einander mit Weichschaumschlagstöcken hauen und sogar zum Kacken zu blöd sind, geben sich nicht gerade kooperativ: Sie halten den Neuankömmling für einen T-Rex und testen ihr Repertoire origineller Drohungen an ihm aus: "Ich reiß dir die Brust auf und scheiß dir ins Herz." Später werden die beiden ums Leben kommen und im Wagen der alten Dame landen, weil die nämlich Bestatterin ist.
Der Vater ist immer der Gärtner...
von Reinhard Kriechbaum
Wien, 11. Oktober 2014. … aber wer ist dann sein Mörder? Und wer sind die Mitwisser? Das mitwissen wir seit gestern, haben es erfahren im Schauspielhaus Wien. Geahnt haben wir es schon deutlich länger, denn Thiemo Strutzenberger (Jahrgang 1982) grast in seinem Stück "Hunde Gottes" auf einer schon mehrmals abgearbeiteten Wiese: will er ein neues Lied aufs Hollywood-Melodram singen. Besonders auf Douglas Sirk und seinen Film "All that Heaven allows". Den haben zwar auch schon Rainer Werner Fassbinder (mit "Angst essen Seele auf") und Todd Haynes (mit "Far from Heaven") paraphrasiert – aber alle paar Jahrzehnte kann man schon dem guten alten Rührstück zur Gerechtigkeit verhelfen wollen. Es hat es verdient, denn bei näherer Betrachtung steht es ideologisch nicht so ungebrochen da mit seinem mehr oder eben weniger sanften Träume-Schäumen des Kleinbürgers vom unteren Rand der Bourgeoisie.
Immer schon allein
von Theresa Luise Gindlstrasser
Wien, 2. Oktober 2014.Am Ende geht die Bühne über mit Nebel und hoffnungsvoll blauem Licht. Derweil wird ein Epilog gesprochen. Die drei Figuren von vorher schmelzen zu Text. "Die aktuelle Welt endet in einer Sekunde. Andauernd." Selbst die Musik steht still. Und aus. Es stellt sich die Frage, was denn nun genau oder zumindest ansatzweise passiert ist, passiert wäre im Rahmen des so streng scheinenden Rahmens einer Sinfonie. Einer theatralen Sinfonie, die Bezug nimmt auf diese eine musikalische Sinfonie, die uns alle mindestens als Metapher andauernd angeht.
Märchenstaub über der Kleingartensiedlung
von Martin Pesl
Wien, 20. März 2014. Lange vor Beginn lässt sich ein Getümmel hinter dem schwarzen Gazevorhang ausmachen. Die Hütte in der Bühnenmitte dreht sich langsam vor sich hin, ein Löwenmaul ist darauf gemalt, Figuren sind in Bewegung, einige auf der Stelle, andere auf und ab und hin und her. Mehrere Minuten bietet sich erst einmal dieses rastlose, aber in sich versunkene Bild zum Leben erwachter Karussellgestalten. Vom Band hören wir in einem Radiointerview, dass es Allerwelt seit den Fünfzigerjahren gebe und dass es nun zur Kleingartensiedlung verkomme.
Ziemlich wächsern
von Kai Krösche
Wien, 13. Februar 2014. Wie es das Serienformat von "Die Welt von Gestern. Nach Stefan Zweig" verlangt, gab es für die rund 40 Zuschauer dieses Abends wieder einen Fußmarsch vom Schauspielhaus weg durch den neunten Bezirk zur just bekanntgegebenen Spielstätte zurückzulegen: dieses Mal zum Josephinum, das die Sammlungen der medizinischen Universität Wien ausstellt. Und wieder blieb dabei im Unklaren, weshalb gleich mehrere Regisseurinnen hintereinander die spannende Chance, den gar nicht mal so kurzen Weg inszenatorisch zu gestalten, zugunsten einer weitgehend konventionellen Bühnensituation am Zielort ungenutzt lassen.
Fünfmal Sterben
von Martin Pesl
Wien, 31. Jänner 2014. Alles hängt mit allem zusammen: "Deine zerbissenen Lippen kommen vielleicht von der Abspaltung Ungarns." Aber alles hätte immer auch anders verlaufen können. Von Ursache und Wirkung in den "100 Jahren Wahn und Sinn" seit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist das Schauspielhaus Wien in dieser Spielzeit geradezu besessen. Auf der Suche nach dem großen Historienbogen muss sich Jenny Erpenbecks Roman "Aller Tage Abend" aus dem Jahr 2012 für die Spielplangestaltung geradezu aufgedrängt haben. Im Buch der 1967 in der DDR geborenen Autorin stirbt die Hauptfigur nämlich zwischen 1902 und 1992 gleich fünfmal.
Erinnerung allein macht nicht satt
von Kai Krösche
Wien, 16. Januar 2014. Es beginnt mit einer Wanderung: Nachdem zu Walzerklang die von einem Schauspieler verkörperte Stimme Stefan Zweigs erklungen ist und aus dessen Autobiografie "Die Welt von gestern" Ansichten über das Jahr 1914 vor dem Kriegsbeginn zitiert worden sind ("Nie war Europa stärker, reicher, schöner, nie glaubte es inniger an eine noch bessere Zukunft"), öffnen sich die Türen des Nachbarhauses, der Nebenspielstätte des Schauspielhauses Wien, und das Publikum läuft erst einmal 15 Minuten lang durch den Alsergrund, den 9. Wiener Bezirk – "zu einem geheimen Spielort", wie die Pressefrau des Theaters beim Abholen der Karte orakelt hatte.
Vom Jungen, der das Töten lernen will
von Teresa Präauer
Wien, 22. November 2013. "Und wenn dir nicht nach Singen ist, ist das überhaupt kein Problem", versichert die geistliche Chorleiterin Claire bereits zu Beginn der deutschsprachigen Erstaufführung von "Die Ereignisse" im Schauspielhaus unter der Regie von Ramin Gray, der bereits die Uraufführung des Stückes beim Edinburgh Fringe Festival betreut hat und der hiermit seine dritte Arbeit in der Wiener Porzellangasse vorstellt. Es ist dies auch eine weitere Zusammenarbeit des Regisseurs mit dem schottischen Autor David Greig, der sich für "Die Ereignisse" mit den Aufzeichnungen des Utoya-Attentäters Anders Behring Breivik beschäftigt hat: mit der Frage letztlich, ob es Ursache und Grund für den Massenmord geben kann.
Kein Wort so wild wie Nein
von Theresa Luise Gindlstrasser
Wien, 14. November 2013. Dass also die Bedingung der Möglichkeit von Anwesenheit die Bedingung der Unmöglichkeit von Anwesenheit ist. Dass insofern etwas stets Unmögliches in diesen Worten haust. Ja, haust. Hausen, Haus, Haut. Emily Dickinson (1830–1886) hat aus ihrem Schlafzimmer heraus Unmengen an Gedichten geschrieben. Der Mythos einer frühen Ikone der Frauenbewegung, die Erzählung eines Lebens in Unterwürfigkeit und Entzug. Die biographische Auseinandersetzung mit der amerikanischen Dichterin kennt Romantisierung und Pathologisierung.
Mordpläne im Grasrausch
von Martin Thomas Pesl
Wien, 16. Oktober 2013. Es sieht aus wie im Museum für Geschichte: Auf neutrale weiße Wände sind in großen Lettern Zitate projiziert, andere Originaldokumente werden über Lautsprecher verlesen. Und das Licht auf die Szenen, die zu den Schüssen Gavrilo Princips auf den Habsburger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau hinführen, stammt fast ausschließlich aus Diaprojektoren, die je nach Szene historische oder nachgestellte Fotos an die Wände werfen. Ein Diavortrag im Museum also? Der Didaktik-Look ist ein Bild dafür, was uns diese Spielzeit noch blüht. Geschichte allüberall: 2014 (und davor) wollen die Theater uns umfassend über 1914 unterrichten.
Das Schnapslächeln des Schreckens
von Leopold Lippert
Wien, 4. Oktober 2013. Zu Beginn ist der riesige Scheinwerfer, auf einen Rollwagen montiert und an die Rampe geschoben, direkt ins Publikum gerichtet. Langsam wird das Licht immer greller, bis es blendet, bis es in den Augen schmerzt. Aha, denken wir, wir sind also gemeint, wir Zuschauer, wir Nachgeborenen, wir, die wir vergessen wollen.
Einhegen war gestern, von morgen an wird ausgehegt
von Kai Krösche
Wien, 12. April 2013. Am Ende schauen die Geister der Plebs noch einmal über den verbarrikadierten, großbürgerlichen Hauseingang hinein. Viel zu sehen gibt's in der ausgeräumten Villa nicht mehr, schließlich haben die organisierten Mittellosen den gesamten Besitz der Hausherrin peu à peu geklaut (oder wie sie es nennen: "ausgehegt"), so lang, bis nichts mehr übrig blieb. Geister, Aushegungen, Verbarrikadierung – was ist denn passiert?
Die Szene mit dem Kuss
von Martin Pesl
Wien, 14. Februar 2013. Hätte sie nicht diesen auffälligen Namen, der immer erwähnt wird, man käme nicht auf die Idee, dass Fandra Fatale die Hauptfigur dieses Stückes ist. Wahrscheinlich ist das auch irgendwo so gedacht, heißt der Text des Schweizers Lukas Linder doch "Ich war nie da". Wer genau diese Frau ist, die da zum Arzt wegen eines komischen Gefühls geht, welches sie dazu bringt, buchstäblich die Bodenhaftung zu verlieren, obwohl sie doch eigentlich ein ganz bodenständiges Mädchen ist – das war schon 2010 nicht ganz klar.
Biografien sind Kopien
von Martin Pesl
Wien, 17. Januar 2013. Wenn das Ende einen überrumpelt – also nicht wie, sondern dass etwas jetzt wirklich aus ist –, dann bedeutet das, dass der Abend irgendwie nicht erfüllt hat, was er versprach. Aber auch, dass er einen so mitgerissen hat, dass man nicht einmal daran dachte, auf die Uhr zu sehen. Bei "Luft aus Stein", Anne Habermehls Uraufführung ihres eigenen Textes im Wiener Schauspielhaus, hat es außerdem damit zu tun, dass die Autorin mit der Zeit jongliert. Von drei Generationen einer Familie fertigt sie Momentaufnahmen an, in verschiedenen Jahren: 1944, 2013, 1963, 2010, 1943. Sie tut es nicht chronologisch, blendet aber eine rote Digitalanzeige ein, damit das Publikum auf dem Laufenden bleiben zu können meint.
Monsterstück und Mysterienspiel
von Martin Pesl
Wien, 17. November 2012. Auf Wiens Straßen sind weiße Pantoffel aufgesprüht, die Zeitungen und Online-Kulturportale sind voll mit Inseraten, sogar die Infoscreens in der U-Bahn künden davon, was das Schauspielhaus in der ersten Hälfte seiner Spielzeit 2012/13 nahezu ausschließlich spielt: Für "Der Seidene Schuh oder Das Schlimmste trifft nicht immer zu" wurde sichtlich das Maximum an Marketing aufgefahren, das für diese mittelgroße Bühne möglich war.
Die Stunde der Recyclingromantiker
von Leopold Lippert
Wien, 23. Februar 2012. Vor der kargen Sperrholzwand auf der Bühne des Wiener Schauspielhauses steht ein großer schwarzer Mülleimer. Wenn es nach "Harpi" (Johannes Zeiler) geht, muss der leer bleiben. Denn Molières Geiziger glaubt in PeterLichts Adaption an den Kapitalismus als "reine Idee", ein sauberes Allheilversprechen ohne Unschärfen und Reibungsverluste, ohne unersättliche Konsumgeilheit und müffelnde Abfälle.
Die Wucherlust der Planzenwelt
von Martin Pesl
Wien, 10. Dezember 2011. "Sie sind im Hirn zuhause, gewohnt, die Dinge scheiße zu finden." Ja, um uns Kritiker geht es. Ganz allgemein aber um "die Leute", denen in Anja Hillings neuem Stück "der Garten" selbiger gegenübergestellt wird, als Hort der Emotion, wo noch nicht alles Leben intellektualisiert und durch den Reißwolf der Sprache geschreddert wurde. Die bittere Ausweglosigkeit des schreibenden Menschen, der die Nähe zum Schönen sucht und doch nur Distanz schaffende Worte hervorbringt, thematisiert die 36-jährige Autorin im Auftragswerk des Schauspielhauses Wien.
Mehr Sein als Schein
von Kai Krösche
Wien, 15. Oktober 2011. Erfreulicherweise, das wird bald an diesem Abend deutlich, stellt sich einmal nicht die leidige Frage nach der Sinnhaftigkeit theatraler Romanadaptionen: Was Ted Gaier und Samuel Schwarz als "Dramatisierung" von Marlene Streeruwitz' Roman "Entfernung." auf die Bühne bringen, ist nicht das allzuoft gesehene Nachspielen publikumsfreundlich zusammengekürzter Handlungsstränge, sondern vielmehr eine Inspiration, eine Übersetzung der Vorlage in (die Grenzen des eigenen Mediums stets deutlich mitreflektierende) theatrale Ausdrücke und Situationen. Entsprechend agieren die drei Darsteller auf der Bühne des Schauspielhauses Wien auch nicht als Darsteller fester Rollen in einem illusionären Sprechtheater, sondern stellen das Als-ob der Bühnensituation von Beginn an als offensichtliches Theaterspiel aus.
Die Kraft der Gegensätze
von Kai Krösche
Wien, 13. Oktober 2011. Eine alte Frau, ein junger Mann. Sie: weltfremd, geht nur noch zu bestimmten Zeiten vor die Tür, sucht die totale, die utopische (oder allenfalls im Tod zu findende) Ruhe, fühlt sich bereits von der Aura anderer Menschen, insbesondere Kinder, gestört. Eine Aura, der sie dennoch wie eine Abhängige nachspürt, hinter dem Türspion lauernd, wartend auf den beruhigenden Augenblick, in dem die Spur des Gegenübers verfliegt und eine Leere zurücklässt. Er hingegen: Offen (wenigstens dem Schein nach), Weltenbummler (in Indien), der seinen Urlaub, die Nahrungsaufnahme ("Körpergewicht: 17% abgenommen"), die Nächte, ja offenbar die ganze Welt in Zahlen erfasst. Zahlen, die es nicht gut mit ihm meinen, denn er ist einer der Verlierer der Wirtschaftskrise.
Das Morgen-Grauen im Bambiland
von Georg Petermichl
Wien, 14. April 2011. Fast müsste man glauben Thomas Arzt hätte sein Theaterstück drum herum geschrieben: "Schwein, du. Hast Bambi getötet." Bambi ist eine Mitarbeiterin von der Außenstelle. Eine Fast-Fremde. So-gut-wie verzichtbar. Die ausländischen Investoren haben nichts mitgekriegt und die Presse wird keinen Wind bekommen. In "Grillenparz" – soeben im Schauspielhaus Wien uraufgeführt – trifft sich eine Was-auch-immer produzierende Firma zur jährlichen Firmenfeier am stadtnahen Hügel "Grillenparz" und säuft sich nach Firmentradition um den Verstand und – vor allem – um das Erinnern, das bekanntlich Hemmungen evozieren würde.
Wir kreisen um Kreisky
von Georg Petermichl
Wien, 13. Januar 2010. Angeblich liebt man es als Wiener, wenn sich nix verändert: Wenn man sich zurücklehnen kann, während altbekannte Helden sich in den Vordergrund drängen, um ihre gut vertrauten Kapriolen zu schlagen. Dazwischen ein paar dramatische Jingles. Oder Hausmusik? Wir sind demnach die perfekten Serien-Junkies, wir Wiener. Von "The Wire" über "True Blood" bis "Desperate Housewives" nehmen wir derzeit diplomatische Geschenke der amerikanischen TV-Serienindustrie entgegen. Und Innerstädtisch? Neben dem Wiener Burgtheater, das sowohl Joachim Meyerhoffs autobiografische Serie "Alle Toten fliegen hoch", wie auch "Life and Times" des Nature Theatre of Oklahoma produzierte, ist das Wiener Schauspielhaus die Wiege der Wiener Theaterserienproduktion.
Die Geschichte der Wiener Redekur
von Thomas Askan Vierich
Wien, 4. November 2010. "So schnell kann man gar nicht schauen, schon ist wieder ein Franzobelstück geschrieben", sagt Regieassistent Matthias Schweiger in der Rolle des Conferenciers zu Beginn dieses sehr wienerischen Theaterabends. Ein entlarvend ehrlicher Satz. Auch sonst wird nichts verschleiert: Das Stück ist eine Auftragsarbeit der österreichischen Volksbank AG, die damit die Neueröffnung ihrer Wiener Zentrale feiern will. Dass Bertha Pappenheimer die titelgebende Protagonistin des Stücks wurde, ist auch kein Zufall: Hatte sie doch 1878 bis 1881 just in dem Haus gelebt, wo jetzt die Bankzentrale steht.
Das heisere Lachen der Verzweiflung
von Kai Krösche
Wien, 9. Oktober 2010. Er sieht ihn nicht, den weißen, gesichtslosen Mann mit der Pistole. Er sieht nicht, wie sich die starre, bedrohliche Figur langsam dreht, ihm mit dem ausgestreckten Waffenarm folgt, während er gedankenversunken die Straße entlangschleicht, den Blick auf die weiße Mauer hinter ihm gerichtet, als berge sie ungeahnte Geheimnisse hinter der undurchdringlichen Fassade.
Das Unheil droht als Frontex-Beamter
von Stefan Bläske
Wien, 1. April 2010. Da ist die Geschichte einer Welt, in der es Arme und Reiche gibt, Satte und Hungernde, Kriegsflüchtlinge und Theatergänger. Da ist die Geschichte eines Theaters, das die Geschichte von Kassandra neu erzählen möchte, und damit einen Autor beauftragt, der für seine Stückrecherche nicht nach Troja oder Mykene reist, sondern die südspanischen Strände abläuft, um afrikanische Straßenverkäufer zu interviewen, und dann ganz selbstreflexiv zu schreiben: "Da ist die Geschichte eines Autors, der nach der Wahrheit sucht und die Geschichten der Auswanderer (Sin Papeles) dokumentieren möchte, der dringend alle Geschichten auflesen möchte."
Peng! Peng! Peng!
von Stefan Bläske
Wien, 23. Januar 2010. Eben noch war der Pate in Wien, in wenigen Tagen schon kommt Rambo. Da wird es Zeit, dass auch der Lokalmatador, der dritte Mann, in die Arena steigt. Nach dem Gastspiel von Far A Day Cage mit "Der Pate I-III" im wuk, und vor dem "Rambo-Solo" des Nature Theater of Oklahoma im brut, ist nun Harry Lime im Schauspielhaus auferstanden. Falls er jemals tot war.
Von Worten und Würsten
von Stefan Bläske
Wien, 7. Januar 2010. Was, wenn wir unsere Politiker beim Wort nähmen? Was, wenn sie uns wirklich aus dem Herzen sprächen? Dafür müsste der Präsident schon ein guter sein, voll Gutheit. Ja, Gutheit. Denn Güte, das ginge zu weit – finden die vier Präsidentenberater im einheitsgrauen Sakko. "Wie eine Jungfrau ist der Präsident / von keinem Samen jemals abgesudelt", und so stimmen sie an zum "Ave verum corpus, Präsident".
Hey, wir sitzen doch alle im gleichen ARGO-Boot
von Georg Petermichl
Wien, 23. Oktober 2009. "Orte, an denen Sie sich vorstellen können, glücklich zu sein...?," liest die pummelige Ethno-Tante aus dem Fragebogen vor. Die insgesamt drei Frauen trafen sich zuvor im Wartesaal einer sogenannten Glücksagentur und offensichtlich war ihre Lebenslage gleichförmig desperat: Im assoziativen Basisfragenkatalog kreuzten unisono an, dass sie sich auf der Suche nach dem "goldenen Vlies" befänden, also nach dem damit versprochenen Glück streben würden –
Die Kunst des Würstchenessens
von Georg Petermichl
Wien, 27. August 2009. Wenn man die Borniertheit einer Gesellschaft ins Rampenlicht zerren will, bereitet der Gourmetwahn eines Tischgelages den richtigen Rahmen: Die Grenzen des individuellen Geschmacks sind nach unten offen, der menschliche Gestaltungstrieb für die eigene Welt wird freigelegt, und nebenbei lassen sich die Handfertigkeiten der Dinnerkunst in einer schier unendlichen Bandbreite an Bühnenmanierismen ausbreiten. Die Zutaten werden in Dialogen zu Wertaussagen, und der Umgang mit dem Zubereiteten gibt Auskunft über das Ausmaß der gesellschaftlichen Verdorbenheit.
Die Geräusche hinter den Worten
von Eva Maria Klinger
Wien, 12. Mai 2009. Es muss wohl enden wie es begonnen hat, denn aus der Qual gibt es kein Entrinnen. Am Anfang zählen drei fast nackte Männer Reizworte in alphabetischer Reihenfolge auf: G wie Gonorrhöe, K wie Kirche, M wie Masturbation, S wie Schwuchtel, am Schluss murmeln sie, auf dem Boden kauernd, leise das Alphabet, als Metapher für Sprache, Rettungsring in unerträglichem Lebensstrom.
Nur noch ein Party-Gerücht
von Eva Maria Klinger
Wien, 2. April 2009. Kleinbürger-Party im Wohnblock. Drei Paare versuchen Konversation zu machen, schlagen Zeit tot, grillen Mitgebrachtes. Ihre Sätze sind unvollständig, ihre Worte banal. Ewald Palmetshofer, der 30jährige, gehypte Dramatiker aus Oberösterreich trifft mit seinem Mosaik aus Floskeln den Ton des Mittelmaßes.
Der neue Raskolnikow
von Peter Schneeberger
Wien, 13. Dezember 2008. Der schlimmste Feind sitzt im eigenen Kopf. Winzige Krieger tänzeln in Martins Schädel zwischen den Hirnwindungen herum, bis unter die Zähne bewaffnet pieksen sie ihn mit spitzen Pfeilen, quälen ihn, strotzen vor überschüssiger Kraft und flüstern dem halb wahnsinnigen Spinner zu: "Martin, es gibt kein Gut und kein Böse. Du bist frei."
Der Gewalttäter als Wohltäter
von Eva Maria Klinger
Wien, 15. Oktober 2008. Im Juli habe seine Tragödie begonnen. Da sei sein Haus abgebrannt und weil der Nachbar ihn nicht aufnehmen wollte, erstach er ihn mit dem Küchenmesser. Ein 63-jähriger Mann begibt sich auf die Suche nach Glückseligkeit, räumt aus dem Weg, was sich ihm entgegenstellt. Ziel seiner Reise ist die Irrenanstalt von Smolensk, die er für das Paradies hält.
Begrabt mein Herz in Blumenerde!
von Georg Petermichl
Wien, 9. Oktober 2008. "Was ist DAS jetzt?", raunt Manfred einer Welt entgegen, in der sich die Luxusmarkise gerade selbständig gemacht hat. Seine Frau Anna hatte eben noch die Farbe bemäkelt, wenig enthusiastisch die Fernbedienung übernommen – nix geht – und dafür einen mediokren Wutanfall geerntet. Schulter an Schulter, wobei ihre hängen, stehen Steffen Höld und Katja Jung inmitten des Bühnenraums des Wiener Schauspielhauses und glotzen ihren Horizont – das Sonnendach – an. Ihre Figuren, der Frauenarzt und die Innenarchitektin, leben wie Wohlstandskaninchen in eingelebten Eskapismusmustern: Mountainbiking? Klar, zum Stressabbau in der Natur.
Guck mal, ein Reh!
von Peter Schneeberger
Wien, 2. Oktober 2008. Der Weg eines Stückes auf die Bühne ist oft weit, doch selten so weit wie bei Anja Hilling. Die 33-jährige Berliner Autorin packt ihre Dramen mit Gemeinheiten derart voll, dass Regisseure daran eigentlich nur scheitern können. In "Schwarzes Tier Traurigkeit" (2007) beispielsweise, gestern aufgeführt am Wiener Schauspielhaus, manövriert sie einen VW-Bus auf die Bühne, veranstaltet einen Parforceritt durch die Gattungen der Germanistik und fackelt schließlich einen ganzen Wald ab, acht Menschen und 80 Tiere inklusive.
Und blühn einmal die Neurosen ...
von Eva Maria Klinger
Wien, 4. Mai 2008. Es ging nicht wirklich gut. Kein Drama, nur ein Treatment zu einem Drama hat der Dramatiker Andreas Jungwirth aus dem Roman "Es geht uns gut" gefiltert. Zugegeben, Arno Geigers vielschichtige, zwischen den Jahrzehnten springende Zeit- und Familiengeschichte auf Bühnenniveau zu stemmen, ist eine schwierige Aufgabe. Unlösbar wird sie, wenn der preisgekrönte Romantext im Sterilisator eingedampft wird.
Identität unterm Messer
von Peter Schneeberger
Wien, 16. April 2008. Lette ist hässlich, richtig hässlich. Der Elektrotechniker hat nicht nur einen kleinen Schönheitsfehler, sondern sein Gesicht ist derart entstellt, dass es noch nie jemand gewagt hat, Lette offen darauf anzusprechen. Erst, als er nicht auf einen Kongress fahren darf, um seine Erfindung zu präsentieren, rückt sein Chef andeutungsweise mit der Wahrheit raus. "Hat Ihnen das niemand gesagt?" – "Was?" – "Dass Ihr Gesicht nicht geht."
Mörchen, der Märtyrer
von Georg Petermichl
Wien, 20. März 2008. Die Welt liebt Einzelkämpfer. Und: Bei jenen visionären Herzen, die nur noch für Größeres schlagen wollen, geben derzeit die Umweltkatastrophen-Aufzeiger den Ton an. Außerdem sind Hybridautos stylisch und halten auch noch die Polkappen zusammen. Was für ein Triumvirat: Ökonomischer Leichtsinn. Naturgewalt. Ökologischer Mitmach-Aktivismus. Mit all dem hat Mörchen was am Hut: Er kämpft gegen die irgendwann unaufhaltsam heranrollenden Wassermassen. Also für die absolute Absicherung des Eigenheims.
Hommage an einen genius loci
von Eva Maria Klinger
Wien, 19. März 2008. Amtsrat Melzer hat zu sich und zu einer Frau gefunden! Heureka! Auf die gute folgt die schlechte Nachricht: Folge zwölf war die letzte der Sitcom "Die Strudlhofstiege" nach Heimito von Doderers 1951 erschienenem Sittengemälde, das zur Grundausstattung österreichischer Literatur zählt. Von solchen Weihen unbeeindruckt folgten vier Schauspieler und zwölf RegisseurInnen mit großer Spiellust den epischen Mäandern.
Indianerkrapfen statt Brandteigkrapfen
von Eva Maria Klinger
Wien, 31. Dezember 2007. Gert Voss' virtuose Brandteigkrapfen-Szene in Thomas Bernhards "Ritter Dene Voss" hat eine lässige Nachfolge: Christian Dolezals komödiantische Indianerkrapfen-Szene in der Comedy-Version der "Strudlhofstiege". Als Stadtflaneur aus reicher Industriellenfamilie, der seine Womanizer-Begabung schon als Gymnasiast erkennen lässt, schleppt er eine Straßenbekanntschaft in ein für seine Indianerkrapfen berühmtes Café ab. Simultan verzehrt er zehn Krapfen, umgarnt das Mädchen, indem er ihr den von der süßen Fülle klebrigen Finger begehrlich in den Mund steckt und brilliert dabei noch mit einer historischen Erläuterung des Einhorns, die Vorwand für den Kaffeehausbesuch war.
Das ist jetzt also die Unendlichkeit
von Lena Schneider
Wien, 22. November 2007. Das Programm ist rosa. Die Schleife, die es zusammenhält, auch. Dazu ein Tütchen mit herzförmigen Marshmallows. Dass das Schauspielhaus in Wien zum diesjährigen Spielzeitauftakt mit besonderer Hingabe um seine Zuschauer wirbt, ist kein Zufall. Schließlich gilt es nicht nur, den neuen künstlerischen Leiter Andreas Beck zu etablieren, sondern auch, sich neben anderen Wiener Bühnen von brut bis Burg zu behaupten – und das Schauspielhaus-Publikum für ein neues Konzept zu gewinnen.