Verschwindensverdammnis
von Martin Thomas Pesl
Wien, 20. Oktober 2020. Geschlechterfragen treiben Julia Haenni abwechselnd um. Stücktitel der 1988 geborenen Schweizer Autorin lauten Frau im Wald und Don Juan. Erschöpfte Männer. In ihrem aktuellen Text sind wieder die Frauen dran. Einen Grundgedanken zu "Frau verschwindet (Versionen)" formulierte Haenni bereits im Nachtkritik.de-Adventskalender 2018: Wie das wäre, wenn Frauen alles stehen und liegen ließen, fragte sie in einem verwackelten Handyvideo, als wäre sie selbst gerade auf der Flucht.
Die Schneidezähne meiner Wahrnehmung
von Martin Thomas Pesl
Wien, 8. Januar 2020. Es ist eine außergewöhnliche Premiere für das fast 20-jährige Kosmos Theater. Wenn hier überhaupt schon einmal so etwas wie ein "Stückklassiker" gespielt wurde, ist es lange her. Das Kosmos ist aber eben Wiens feministisches Theater, und Autorinnen mit dem Label der Klassikerin sind rar gesät.
All the single twins
von Martin Thomas Pesl
Wien, 3. Dezember 2019. Haben wir nicht alle einen Zwilling irgendwo? Da gab es doch mal diese Theorie. Vielleicht interessieren uns deshalb die Geschichten über Eineiige in der Literatur. Meist sind es Brüder, so auch die Ich-Erzähler, nein: Wir-Erzähler aus Ágota Kristófs Roman "Das große Heft". Dass Sara Ostertag sie mit Frauen besetzt, mag daran liegen, dass ihre Inszenierung als Koproduktion ihrer Gruppe Makemake Produktionen mit dem Kosmos Theater entstand, das Künstlerinnen fördert. Der Erzählung schadet es keineswegs, verleiht doch dafür Martin Hemmer der als Hexe verschrienen Großmutter besenschwingend eine faszinierende Genderfluidität; Simon Dietersdorfer als Polizist trägt High-Heels.
Was Echtes spielen
Von Martin Thomas Pesl
Wien, 2. April 2019. Im Leben müsse es doch ein "Leo" geben, sagt Alexandra Sommerfeld einmal versonnen, diesen Ort beim Fangenspielen, "aus dem heraus man nicht gefangen werden kann". Wie selbstverständlich erinnert sich dieselbe Schauspielerin später an: "Früher. Als es noch Sommer war." Im Originaltext steht das kursiv als Regieanweisung da. Solch naiv poetische Weltbeschreibungen aus Kindersicht oder auch aus Sehnsucht nach der Kindersicht prägen Magdalena Schrefels "Sprengkörperballade".
Let's talk about sex
von Theresa Luise Gindlstrasser
Wien, 4. Dezember 2018. Ole steht auf Männer. Früher, da war und wollte ihm das nicht so klar sein, da hatte er mal was mit einer Frau und deren Bruder und war "total verwirrt, durch, fix und fertig mit der Welt". Schauspielerin Michèle Rohrbach umhüpft als Ole eine tapezierte Trennwand, als wäre die ein Weihnachtsbaum. Sie serviert ihren Kolleg*innen Frühlingszwiebel, Paprika, eine Aubergine und griechisches Joghurt. Das Ensemble schnabuliert – lieber Paprika oder Frühlingszwiebel, lieber Penis oder Vagina?
Nancy Reagan machte sich Sorgen
von Theresa Luise Gindlstrasser
Wien, 30. Oktober 2018. Anno 2000, zur Eröffnung als kosmos.frauenraum, stand Elfriede Jelinek am Podium. Gründungsintendantin Barbara Klein leitete das Kosmos "Theater mit dem Gender" 18 Jahre. Das ist nicht nur lang, das ist viel feministische und queere Theorieproduktion seither. Die neue künstlerische Leiterin Veronika Steinböck proklamiert nun "Begehren" als Motiv der Saison: "Öffnen wir den Raum für Formen des Begehrens, die sich von traditionellen gesellschaftlichen Normen unterscheiden und suchen nach einer Form, in der sich das Anderssein artikuliert." Die Eröffnungsrede nach verlängerter Sommerpause kam von Marlene Streeruwitz. Und die erste Premiere der Spielzeit heißt "Mütter". Zwinker-Smiley: Regisseurin Milena Michalek ist Tochter der Mutter Steinböck. Gemeinsam mit dem Kollektiv YZMA macht sie hochtourige Diskurs-Verwurstungsabende, die bisher am Theater Drachengasse, dem Landestheater Niederösterreich und auch schon am Kosmos Theater liefen.
Ich frag doch nur
von Andrea Heinz
Wien, 5. Dezember 2017. Die Rollen fallen vom Himmel in Sara Ostertags Inszenierung von "Muttersprache Mameloschn" – oder zumindest vom Schnürboden des Wiener Kosmos Theater. Ein Packen Papiere, auf denen etwa geschrieben steht: "Die Tochter". Oder: "Die Tochter der Tochter". Oder auch: "Das Kind des Kindes". Sasha Marianna Salzmanns Stück, 2013 mit dem Mülheimer Publikumspreis ausgezeichnet, erzählt von drei Frauen, und es erzählt vor allem davon, wie schwierig, wie kompliziert, wie schön es ist, eine Mutter zu haben, Mutter zu sein: Da ist die Großmutter Lin, KZ-Überlebende und überzeugte Kommunistin, die in die DDR ging, um dort einen sozialistischen Staat aufzubauen. Clara, ihre Tochter, die mit dem Kommunismus, dem Judentum, mit ihrer Mutter hadert. Rahel, die Tochter der Tochter, die nach New York gehen möchte und sich eher mit ihrer ganz privaten, nämlich ihrer sexuellen Identität beschäftigt als mit Ideologie oder Religion. Außerdem gibt es Davie, Rahels Zwillingsbruder, den die Familie an einen Kibbuz verloren hat. Und dann wären da noch: Wut, Schuld, Verletzungen und Vorwürfe, zu viel Reden, wo Schweigen angebracht wäre, und Schweigen, wo ein Wort helfen würde, außerdem eine ganze Menge Liebe und (Über-)Fürsorge – was es in Familien eben so gibt.
Im Nazipuppenland
von Georg Petermichl
Wien, 17. September 2008. Genauso altklug, so bitterlich abgeklärt, wie Hanna und Elfi zur Schlafenszeit in ihrem Kinderbett hocken, weiß auch ihre Puppe Liese das Sommerkleid für den Puppenpeter zu schürzen. Die kennt auch das Kommunikationspotential des Hitler-Grußes. Und für den männlichen Lustgewinn, da müssen sie sich schon mal anpissen. Grundsätzlich kann auch ihre Liese dem Peter entgegenfloskeln: "Mit Speck fängt man Mäuse!".