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Theater Chemnitz

20. März 2022. "Hält ein ICE in Chemnitz. Hahaha." In einem knappen Witz ist das Selbstbild der Chemnitzer Bewohner verpackt. Zumindest funktioniert die Zuschreibung hervorragend in "Superbusen", erntet diese Stelle mit die meisten Lacher. Dabei geht es in der Uraufführung in der dortigen Interimspielstätte Spinnbau gar nicht nur ums ehemalige Karl-Marx-Stadt. Denn Regisseurin Kathrin Brune wollte viel mehr erzählen aus Paula Irmschlers Roman. Das ist das Problem des Abends, aber auch sein Gewinn.

Gisela, ein ostdeutsches Mixgetränk

Die Inszenierung zerfällt in zwei thematische Blöcke, die kaum verschränkt werden. Der erste Teil ist eine Auseinandersetzung mit Chemnitz und der Chemnitzer untereinander. Im einst wichtigsten deutschen Industriezentrum kann man sich leicht abgehängt fühlen. Schlecht ist die Verkehrsanbindung. Zwar ist das Durchschnittseinkommen hier höher als in Leipzig, Chemnitz kommt in der überregionalen Wahrnehmung trotz Kraftclub bei weitem nicht an den Leipziger Coolnessfaktor heran. In der Zuckerbäckerbarock-Stadt Dresden interessiert man sich ohnehin nur für sich selbst.

Auch die nicht kleine, sehr aktive Neonazis-Szene kennt man nicht erst seit den Ausschreitungen 2018. Verschwunden ist sie seitdem auch nicht, wie derzeit die Gruppierung "Freie Sachsen" zeigt. All das streift die Inszenierung beziehungsweise ihre Ich-Erzählerin Gisela. In der Rückschau erzählt sie – der Name erinnert an ein ostdeutsches Mixgetränk –, wie sie zum Studieren in die Stadt kam und vom Plattenbaubrutalismus umfangen wurde. Es ist von Partys und Protesten die Rede. Ein bisschen Lokalstolz wird sichtbar, wenn berichtet wird, dass ein Chemnitzer Bauwerk für die Litfasssäule als Vorlage diente.

Superbusen 3 c Nasser Hashemi1Leben in Chemnitz, wo Kraftclub für Lokalstolz sorgt: Andrea Zwicky spielt Gisela © Nasser Hashemi

Und dann bricht der Stolz gleich wieder zusammen, weil sie sich fragt, warum sie das überhaupt erzählt. Dabei unterstützen Projektionen mit Fotos aus dem Stadtraum diesen Lokalteil. Die drei mal Spielenden meist Erzählenden – zwei Frauen und ein Mann – stellen gemeinsam und abwechselnd Gisela dar, wie der grüne Namenschriftzug auf ihren T-Shirts zeigt. Sie nutzen den ganzen Raum der freien Bühne, über die sich im hinteren Bereich drei Spielflächen aus Bierkisten ziehen. In deren Mitte stehen drei Musikerinnen, die die Liveband bilden.

Makertum und Menstruation

Dass lokale Selbstgespräch verläuft eher mäßig, weil es dann doch nur ums Gefühlige geht. Und oberflächlich bleibt. Man isst Knusperflocken und Nudeln mit Jagdwurstsoße, die Wende wird erwähnt, der "Nischel" natürlich auch. Das ist der Name für den überdimensionierten Karl-Marx-Kopf in der Innenstadt. Gisela ist eine Zugezogene, die nach dem Studium zur Weggezogenen wird – ausgerechnet nach Berlin. Außerdem ist dieser Teil eher monoton, weil weniger theatral. Die drei Spielenden sprechen wechselnd die Textflächen, alle Bewegungen sind reine Illustrationen.

Das bekannte Problem, wenn ein Roman, der nicht von Dialogen lebt, auf die Bühne kommt, entpuppt sich auch hier als Falle. Die Darstellenden entwickeln keine eigene Theatersprache, die Szenen sind so gut oder schlecht wie der aufgesagte Text. Eine eigenständige Übersetzung ins Theatrale wie etwa die Inszenierung von Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß in Dresden, die das ähnlich gelagerte Buch von Manja Präkels umsetzte, schafft die Regie nicht. Zumal die Stärke, eine Liveband zu haben, nicht ausgespielt wird. Da läuft tatsächlich einmal ein Lied aus Off, während die Musikerinnen sich wegducken.

Superbusen 1 c Nasser Hashemi1Leben in Chemnitz, wo der Nischel vulgo Karl-Marx-Kopf in der Innenstadt prangt: Clemens Kersten spielt ebenfalls Gisela © Nasser Hashemi

Ihre Chance nutzen sie im zweiten Teil, in dem auch das Schauspieltrio zu sich und einer Theaterform findet. Diesen Block kann man mit Frauwerdung, Emanzipation, Entdeckung von Weiblichkeit und junger Ausgelassenheit umschreiben. Es geht um Mackertum in der Musikszene, Menstruation und Masturbation, Abtreibung, Scheißkerle, Empowerment und hohle Feminismusphrasen, wenn es einer doch wirklich gerade schlecht geht. Das ist thematisch lose aneinandergereiht, manchmal weiß man auch nicht, wovon gerade geredet wird.

Die Kraft des Livemoments

Aber hier ist eine Spielfreude zu erleben, gibt es Theaterszenen, etwa wenn chorisch Uterusschmerzen geschildert werden oder die drei ein wenig wie die Beatles auf dem Albumcover über die Bühne staken. Und dann wird immer wieder getanzt. Die Band legt ein paar gute Einlagen hin, besonders beeindruckt ein Medley, das von Nirvana bis Echt reicht. In diesen Momente drückt sich das Lebensgefühl und Leiden einer jungen Frau aus und weil man dicht dran sitzt, berührt es.

Es keine große Theaterkunst, mit der Kathrin Brune Publikum und Kritik umgarnen will. Nach dem halbfertig wirkenden ersten Teil setzt sie auf die Kraft des Livemoments und die Energie der allesamt leidenschaftlich spielenden Menschen auf der Bühne. Das hat das Potential, auch bei weniger regelmäßigen Theatergängern das Feuer zu entfachen.

Superbusen
Popdrama nach dem Roman von Paula Irmschler
Bühnenfassung von Kathrin Brune
Uraufführung
Regie: Kathrin Brune, Bühne und Kostüme: Pia Wessels, Dramaturgie: René Rainer Schmidt, Video: Peter Roßner.
Mit: Magda Decker, Andrea Zwicky, Clemens Kersten.
Band: Jenny Kretzschmar, Heidi Enderlein, Kati Hollstein
Premiere am 19. März 2022
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theaterchemnitz.de

 

Mehr lesen? Für nachtkritik.de betrachtete Paula Irmschler 2018 beim Theatertreffen Frank Castorfs achtstündige Faust-Inszenierung und befand: "Das Star Wars der Theaterleute". 

 

Kritikenrundschau

"Katrin Brune inszeniert 'Superbusen' in collagenartigen Fragmenten, als Bewusstseinsstrom. So entsteht ein so witziger wie melancholischer Remix aus Musik, Erzählung, Monolog, Dialog, Gesang - Popkultur im Theater. Wenn man den Originaltext nicht kennt, dürfte es vielleicht manchmal etwas schwer sein, den losen Fäden zu folgen, aber das tut der Kurzweiligkeit des Stücks keinen Abbruch", schreibt Johanna Eisner in der Freien Presse (20.03.2022).

Der linke, feministische Duktus wandere auf einem schmalen Grat zwischen wichtiger Zeitkritik und Klischee. "Die Hassliebe, die Chemnitz bei vielen gerade jüngeren Einwohnern hervorruft, wird in dem Stück fühlbar und mit einem warmen, durchaus hedonistischen Trotz geradezu gefeiert“, schreibt Marcel Pochanke in der Sächsischen Zeitung (22.03.2022)

 


Theater Chemnitz

Los komm, wir sterben endlich aus

von Verena Großkreutz

Chemnitz, 15. Mai 2021. Draußen wütet ein unheimlicher Nebel, der alles Leben tötet. Drinnen im Supersupermarkt treffen drei letzte Menschen und bizarre Geistergestalten aufeinander. Hinein in den rettenden Laden kommen allerdings nur die Kaufwilligen und Liquiden. Dietmar, der Anwalt, hat's geschafft. Ein gefundenes Fressen für die Supersupermarkt-Filialleiterin Simone, die Dietmar gleich in ihre geistverwirrende NOA-Verkaufstechnik verwickelt: "Willst du NUR dieses Düngemittel, damit deine Pflanze ein langes Leben haben wird, ODER willst du AUCH dieses Anti-Borkenkäfer-Spray?" Der fiese Nebel ist für sie weniger bedrohlich als vielmehr nervend: Denn er entzieht sich jedem wirtschaftlichen Nutzen – im Gegensatz zu anderen Katastrophen, an denen sich gut verdienen lasse.


Theater Chemnitz

Wenn die Geheimnisse verbraucht sind

von Michael Bartsch

Chemnitz, 1. Februar 2020. Eigentlich gibt es kein Entrinnen. Aus der eigenen Biografie nicht und nicht von dieser Bühne des Schauspiels Chemnitz. Pia Wessels hat sich nicht an die kursiv gedruckten detaillierten Anweisungen des Autors gehalten und eine Art Bühnenzimmer gebaut, dessen vielteiligen Rückwände zwar Auf- und Abgänge ermöglichen. Beim Drehen dieser Wandelemente aber erscheint deren spiegelnde Rückwand und wirft die Akteure umso gnadenloser auf sich selbst zurück.


Theater Chemnitz

Berserker auf verlorenem Posten

von Kornelius Friz

Chemnitz, 16. März 2019. Auf der Straße gilt das Gesetz der Körper. Umso stärker ein Körper, desto größer seine Macht. In Federico Fellinis Film La Strada ist klar, wer die meisten Muskeln hat: der große Zampanò, der zeitlebens durch die Dörfer zieht, um dem Volk zu zeigen, wie er mit gesunden Lungen, einem Brustkorb aus Stahl und bloßer Kraft eine Eisenkette sprengen kann. In seiner Adaption am Theater Chemnitz nimmt der polnische Regisseur Robert Czechowski die Körper jedoch weitgehend aus dem Spiel.


Theater Chemnitz

Traurige Tropfen

von Tobias Prüwer

Chemnitz, 26. Januar 2019. Platsch! Wasser spritzt, als die Junge Frau mit einem Sprung in die Swimmingpoolbühne den Abend eröffnet. Mit ähnlichem Getöse platzt sogleich die restliche Badegesellschaft in die Inszenierung. Was als Familienschwank beginnt, lässt Nina Mattenklotz allmählich in einen See aus Melancholie zerfließen. Denn bald geistern die titelgebenden "Einsame Menschen" durch die blau geflieste Badelandschaft am Theater Chemnitz. Und ein als Gartenzwerg deplatzierter Akkordeonspieler gibt ihnen wehmütige Musikfetzen vor, die die Gefühlslage der Inszenierung beisammenhalten.


Theater Chemnitz

Heym nach Chemnitz

von Tobias Prüwer

Chemnitz, 6. Oktober 2018. Die Stadt ist unlängst zur Chiffre geworden für rassistische Gewalt, für den Aufmarsch von radikalen Rechten im Mix mit Bürgern, die partout nicht rechts sein wollen. Chemnitz, diese Chiffre platzte mitten hinein in die Proben der Figurentheaterarbeit "Wenn mich einer fragte ...". Darin untersucht Christoph Werner das Leben des Schriftstellers Stefan Heym nach Chemnitzer Spuren – und muss sich brisanter Aktualität stellen. Erst einen Tag vor der Premiere fand wieder eine rechte Demonstration unweit des Theaters statt.


Theater Chemnitz

Ein deutscher Totentanz

von Alexandra Zysset

Chemnitz, 11. Mai 2018. Oma Ursula ist tot und die Familie fährt nach der Beerdigung zu ihrem Haus. Die Friedhofserde klebt noch an den Schuhen, die schwarzen Trenchcoats sind vom Regen durchnässt; auf dem dreckigen Boden liegen ein paar ungeschälte Kartoffeln und der nach Mottenkugeln riechende Rock der Verstorbenen. Ansonsten scheint sie vollkommen: die nackte, leere Gegenwart.


Theater Chemnitz

Eine Bühne dreht durch

von Kornelius Friz

Chemnitz, 17. März 2018. Leicht ist es nicht, Michail Bulgakow in einem Theaterabend gerecht zu werden. Rund 600 Seiten hat die deutsche Übersetzung seines Romans "Der Meister und Margarita". Von 1928 bis 1940 schrieb Bulgakow an diesem Lebenswerk. Nun bringt Malte Kreutzfeldt den russischen Klassiker in eigener Bühnenfassung nach Chemnitz, die den Stoff auf drei Bühnenstunden eindampft.


Theater Chemnitz

Leer wie der Erinnyenschädel

von Tobias Prüwer

Chemnitz, 14. Oktober 2017. Und los. Wer braucht schon eine Einleitung? Spot on und ohne Umschweife geht Walter Faber in medias res, gelangt zum schmerzhaften Punkt: Das kann doch alles nur Zufall sein. Eingerahmt von glänzender Metalloptik versichert er sich und dem Publikum, dass er gar nicht anders handeln konnte, sein schreckliches Tun aber dennoch eine Aneinanderkettung von Ereignissen, kein Schicksal war. Dieser "Homo Faber" verzweifelt über den Malus, als Mensch sein Menschsein nicht maschinen-analog regulieren zu können. Hasko Weber hat Fabers "Bericht“ mit Präzision und leiser Wucht in Chemnitz inszeniert.


Theater Chemnitz

Signale aus der Filterblase

von Lukas Pohlmann

Chemnitz, 28. April 2017. Der Sound ist schon da als das Publikum die kleine Bühne im Ostflügel des Chemnitzer Schauspielhauses betritt. Eine säuselnde Stimme aus dem Off begrüßt die Zuschauer und dankt ihnen für ihre Anwesenheit. Trotz der widrigen Bedingungen. Widrige Bedingungen? Es gibt doch einen tollen Anlass! Der Förderverein des Theaters stiftet seit einigen Jahren einen Preis für Junge Dramatik inklusive Uraufführung. Gewinner diesmal: InnerOuterCity von Azan Garo. Untertitel: "Dramatische Anrisse einer allgemeinen Verunsicherung in 29 Szenen." Die Verunsicherungen werden Programm.


Theater Chemnitz

Die Puppe spricht

von Lukas Pohlmann

Chemnitz, 2. November 2016. Frau Zschäpe ist ja nicht so fürs Reden. Jedenfalls, seitdem die Uwes nicht mehr sind und die ganze Welt sich Antworten von ihr erhofft. Muss sie ja auch nicht. Vor Gericht muss ja nichts gesagt werden, was zur Selbstbelastung beitragen könnte. Also wird Schweigen Programm. Und Beate zur Projektionsfläche. So sehr Projektionsfläche wie etwa die rohe, schwarze Rückwand der kleinen Bühne im Chemnitzer Theater-Ostflügel. Da flackern im Einlass zur Uraufführung von "Beate Uwe Uwe Selfie Klick" die pressebekannten Fotos aus dem privaten Trio-Glück des NSU.


Theater Chemnitz

Ein Mordstheater

von Matthias Schmidt

Chemnitz, 5. März 2016. "Bleiben Sie ruhig sitzen, Sie sind Gast hier", sagt Caligula leise, als er seinen Platz im Publikum sucht. Halb flüsternd, exakt auf dem Grat zwischen leicht verstört und vollkommen besonnen, spricht er die Sätze, für die Camus' Schauspiel so berühmt ist, vom Unglück der Menschen, ihrer Unfreiheit, dem Mangel an Wahrheit, dem Tod. Dann setzt er sich, Reihe 12, Sitz 214. "Das ist mein Platz!"


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König Krabat kämpft um Sachsen

von Hartmut Krug

Chemnitz, 10. Dezember 2015. Ein Fernsehmoderator stimmt sich auf seine Sendung ein und probt seine Posen, Positionen und Texte. Die Bierdose wird aufgerissen, die Beine werden auf den Studiotisch gelegt, und dann wird cool nachgedacht. Hier soll es um das Minsker Friedensabkommen gehen und um den "Kampf der Kulturen", den der Politologe und damalige außenpolitische Berater der Regierung in Washington Samuel Huntington Mitte der 1990er Jahre "treffend beschrieben" habe. Natürlich soll vor allem über die Aktualität seiner damals heftig umstrittenen These diskutiert werden, nicht Ideologien, sondern Kulturen bestimmten die Weltordnung.


Theater Chemnitz

Nickymaus wohnt hier nicht mehr

von Michael Bartsch

Chemnitz, 18. Juni 2015. Der sprichwörtliche Vorführeffekt steht in Technik oder Handel für die Macht des Zufalls, des Unwägbaren. Nicht anders im Zwischenmenschlichen. Angeblich entscheiden die ersten Sekunden der Begegnung mit einem Unbekannten über Sympathie, Akzeptanz oder bleibende Distanz. Selbstvorführungen etwa bei Vorstellungsgesprächen haben das so an sich, um wie viel mehr die Präsentation der neuen Flamme vor Freunden oder gar der großen Liebe vor der elterlichen Prüfungskommission.


Theater Chemnitz

Wer ist das Volk?

von Ute Grundmann

Chemnitz, 14. Februar 2015. Kurgäste in Bademantel und mit Drink in der Hand schlappen durchs Foyer, folgen den Zuschauern in den Saal. Die Treppenlandschaft auf der Bühne (Frank Heublein) ist mal Zeitungsredaktion, mal Kurpromenade mit Wasserhähnchen fürs heilbringende Nass. Schauspieldirektor Carsten Knödler, der im Theater Chemnitz Henrik Ibsens "Ein Volksfeind" inszeniert hat, variiert im ersten Teil der Aufführung das Thema "Kurbad" auf allerlei Arten. Fast jeder der Akteure hat mal Bademantel und Schlappen an, Handtücher werden dekorativ geschlungen, Aslaksen und Stockmann tummeln sich im dampfenden Thermalbad, ohne nass zu werden.


Theater Chemnitz

Gut, dass wir geredet haben

von Ute Grundmann

Chemnitz, 21. Februar 2013. Markus war am Montag bei Sarah. Sagt Robert. Und der muss es eigentlich wissen, denn er ist Sarahs Mann und eifersüchtig. Doch beider Freund Donald behauptet beharrlich, das könne nicht sein, weil Markus genau an diesem Tag bei ihm gewesen sei. Scheinbare Beweise beider Seiten zerplatzen, das Trio kommt vom eigenen Durcheinander auf das in der Welt zu sprechen und doch immer auf dieselbe Frage zurück: Wer war wann wo? Das ist der Kern des neuen Stücks von Iwan Wyrypajew, das in der kleinen Spielstätte des Chemnitzer Schauspiels, dem "Ostflügel", uraufgeführt wurde.


Theater Chemnitz

Das Leben, ein Trauerspiel

von Hartmut Krug

Chemnitz, 1. Dezember 2012. Ein Herzschlag pocht aus dem Lautsprecher, wenn man in den Zuschauerraum kommt. Geht das Licht aus, tritt ein Mann im Krankenhaus-Schlafanzug barfuß auf die Bühne, nachdem der lange Summton einer Behandlungsmaschine verkündet hat: dieser Mann ist tot. Sein Herz ist stehengeblieben, wie die slowenische Regisseurin Mateja Koležnik im Programmheft erklärt. Und während sein Bewusstsein durch den sogenannten "Tunnel des weißen Lichts" rast, versucht die Inszenierung ihn zu reanimieren. Mit allem tiefen Ernst, da mag der Stücktitel noch so deutlich von Komik sprechen. In Chemnitz findet das Stück im Kopf des Mannes statt. Als existenzielles Denkspiel.


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Spielzeug kaputt

von Ute Grundmann

Chemnitz, 12. Mai 2012. An Herodes' Hof ist die Spaßgesellschaft eingezogen. Anything goes, jeder darf, will und nimmt sich alles, nur die kleine Prinzessin bekommt nicht, was sie will, da kann sie noch so sehr mit dem Fuß aufstampfen. Sie selbst aber, Salome, wird zum Wunschbild aller Männer, das aus ihrem (Kinder-)Zimmer auf die Rückwand des Thronsaales projiziert wird wie bei einer Peepshow.


Theater Chemnitz

Schweben in Sprachlosigkeit

von Ute Grundmann

Chemnitz, 16. März 2012. Magda muss ein Ereignis gewesen sein, in diesem Dorf am Ende der Welt. Vier Männer erinnern sich an sie, erzählen knapp und lakonisch, was die Frau tat und wie sie, die Männer, darauf reagierten, kommentierten, Annäherungen versuchten. So beginnt Johanna Kapteins kleines, feines Stück "Die Geschichte von St. Magda", das im Schauspiel Chemnitz in einem besonderen Rahmen Premiere feierte. Vier Stücke junger Autoren an einem Abend, inszeniert und in Szene gesetzt von jungen Theaterleuten, dazu ein Treffen von Nachwuchsautoren, die sich und ihre Texte dem Publikum vorstellten. Und zu "4 + 1" zählte auch eine Uraufführung: "Die Handgriffe der Evakuierung" von Susanna Mewe.


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Theoretische Sommernachtsträume

von Ralph Gambihler

Chemnitz, 29. September 2011. Wenn es so einfach wäre mit der "wahren Liebe", hätte diese sanfte Komödie nicht geschrieben werden können. Man hätte von einem Irrtum sprechen können und der Fall wäre erledigt gewesen. Der russische Theatergründer, Regisseur und Dramatiker Iwan Wyrypajew, 1978 geboren und hierzulande mit seinen Dramen "Sauerstoff" und "Juli" kein Unbekannter mehr, hat es sich aber nicht so einfach gemacht. Sein Vier-Personen-Stück "Illusionen" schreitet unbekümmert einen Kreis aus, in dem die Kategorien "Wahrheit" und "Liebe" schroff aufeinander treffen. Und nicht nur das: die Menschen, die Wyrypajew ins Rennen schickt, fragen auch noch treuherzig und hartnäckig nach der "wahren Liebe". Etwas anderes interessiert sie gar nicht mehr.


Theater Chemnitz

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Museale Verheerung

von Ralph Gambihler

Chemnitz, 18. Juni 2011. Der alte König in seinem Leid ist bald ein nackter Mann. Noch vor der Pause reißt er sich die Kleider vom Leib, es kann gar nicht schnell genug gehen mit dem Ausziehen und man versteht das wirklich gut in diesem Moment. Seine Verzweiflung, seine Empörung, seine Verletztheit über den Undank der Töchter Goneril und Regan und die Ungerechtigkeit der Götter sind so elementar, dass etwas geschehen muss, und wenn er nun hastig alle Kleider ablegt und damit in einen Zustand bloßer Kreatürlichkeit flieht, ist dies Ausdruck seiner tiefen Bestürzung, zugleich aber auch ein symbolischer Akt zur Wiederherstellung seiner Würde. Im Grunde setzt sich Lear, der berühmteste König ohne Königreich, die Krone der Hilflosigkeit auf.


Theater Chemnitz
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So ist sie eben, die Gesellschaft

von Hartmut Krug

Chemnitz, 18. Februar 2011. Wieder so eine Textfläche. Keine klaren Figuren, keine deutliche Handlung, aber viele Gedanken und Worte. Es geht um einen Amoklauf an einer Schule. Nicht der Täter wird beschrieben, analysiert, kategorisiert und erklärt, sondern die Überlebenden werden beschrieben und beschreiben sich selbst. Nicht die Tat wird im Rückblick geschildert, sondern Menschen machen sich in ihren Reaktionen kenntlich.


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Ein Egoist zum Verlieben

von Matthias Schmidt

Chemnitz, 27. Januar 2011. Der Schreck dauert ein paar Minuten. Ein hagerer, klamaukig wirkender Mann in Hochwasserhosen kommt zögerlich von der Hinterbühne nach vorne. Betont wirr und unbeholfen spricht er von norwegischen Böcken und den Ausmaßen ihrer Hörner. Peer Gynt oder Piet Klocke, das ist hier die Frage. Gelächter kommt auf und wird noch stärker, als Peers Mutter Aase (Ellen Hellwig) den trotteligen Sohn aus dem Zuschauerraum einen Versager schimpft, sich in der ersten Reihe eine Zigarette schnorrt, und dann erst richtig loszetert.


Theater Chemnitz

Hilflos geheimnislose Menschen

von Hartmut Krug

Chemnitz, 3. Dezember 2010. Erst einmal erfüllt die Bühne ein weißes, flimmeriges Rauschen. Es gibt noch kein Bild, noch kein Leben, nur unwirkliche Figuren ganz in Weiß, mit Mikrophonen in den Händen. Sie sind nicht Individuen, sondern nur Stimmen oder dramaturgische Konstruktionen. Dann läuft ein Film ab: eine merkwürdige Frau schlurft, Brot aus ihrem Netz werfend, gebückt durch eine Stadt, die schön abgerissen aussieht, mit Graffitis und Leerstand. Dann huscht sie auch über die Bühne, über den schmalen Streifen, den die kommentierenden, erklärenden, sich einmischenden, antreibenden Figuren den Rollenspielerinnen im Stück von Johanna Kaptein lassen.


Theater Chemnitz

Zu Wasser, zu Lande, im Kopf

von Hartmut Krug

Chemnitz, 6. Februar 2010. Ulrike Syha hat in unserer globalisierten Welt ein Lebensgefühl entdeckt, das sie ihren Figuren als eine Art aufmerksamer Beweglichkeit einschreibt. Ein frühes Stück der Autorin heißt "Nomaden", und in Privatleben, ihrer letztjährigen Chemnitzer Uraufführung, zeigte sie Menschen im Büro, die, von der Unstetigkeit und Hektik ihrer Arbeit geprägt und gefordert, sich zugleich bei ihren Beziehungsversuchen emotional verhedderten.


Theater Chemnitz

Sprachfestspiel im Seelengefängnis

von Ralph Gambihler

Chemnitz, 14. November 2009. Wer Elektra auf die Bühne holt, die ewig Hassende, im Hass Gefangene, muss gute Gründe haben. Durch den Mythos der Atriden weht ein Geist, der uns Abendland-Menschen entrückt, teilweise auch recht deutlich entwischt ist. Sippenhaft und Blutrache zum Beispiel sind keine lauteren Motive mehr, sondern Fälle für die Justiz. Und die Götter der Antike fallen als kultureller Bezugsrahmen und höhere Instanz so gründlich aus, dass sie nicht einmal mehr zur Metapher taugen.


Theater Chemnitz

Arbeit, Arbeit über alles

von Ute Grundmann

Chemnitz, 2. Mai 2009. Max würde wahrscheinlich auch seine Seele verkaufen, wenn er dafür einen Job oder wenigstens Geld kriegen würde. Um zu (über-)leben, verkauft er erst Gespräche an Einsame, dann echte Identitäten an solche, die keine haben. Solche "prekären Geschäfte" macht er zusammen mit seinem Kumpel Alex, bis der ihm abhanden kommt – durch einen Job und durch die Liebe.


Theater Chemnitz

Mordspiel in ferner Märchenwelt

von Dirk Pilz

Chemnitz, 21. März 2009. Der Wahnsinn kennt ja bekanntlich verschiedene Formen. Lady Macbeth zum Beispiel hat es derart getroffen, dass sie in einer wilden Szene mit Vorschlaghammer und Schutzhelm auf einen wehrlosen Bierkasten eindrischt, der rasch auch seinen Widerstand aufgibt und geräuschvoll zerbirst. Sie sieht danach rechtschaffen gebeutelt aus, was wir ihr sofort glauben, denn dieser Wahnsinn muss anstrengend sein.


Theater Chemnitz

Endstation Sehnsucht auf russisch

von Ralph Gambihler

Chemnitz, 24. Januar 2009. Die Inszenierung beginnt mit einer "Pause". Soeben hat Ferapont, der schwerhörige alte Diener, eine Schubkarre von links herein geschoben und die Ladung wie einen Haufen Gartenerde auf die Rampe gekippt, allerlei hübsch verschnürte Geschenke, darunter auch der berühmte Samowar. Nun sitzt er rastend vor dem Publikum, packt Stulle und Thermoskanne aus und fängt an, vom Stück zu erzählen. "Drei Schwestern" kennt er nämlich, das hat er schon mal gesehen: "In Moskau. Das war toll! Toll!"


Theater Chemnitz

"Jetzt mach mal authentisch, Muddi!"

von Ralph Gambihler

Chemnitz, 22. November 2008. Es gibt einen jungen Mann in diesem Drei-Personen-Stück, der zuhause ziemlich viel Stress macht. Das kann man gut verstehen. Der junge Mann, Michael heißt er, steht unter Druck. Er hat sich an einer Filmhochschule beworben und ein erstes positives Gespräch geführt. Den Film, den er nun einreichen muss, hat er allerdings noch nicht gedreht. Immerhin steht das Genre fest. Eine "Familiendoku" soll es werden, ein ungeschönter Blick in die Welt, die er am besten kennt.


Theater Chemnitz

Operation am offenen Herzen der Geschichte

von Dirk Pilz

Chemnitz, 4. Oktober 2008. Das ist jetzt nicht so einfach, wie es ausschaut. Thomas Bischoff, der einstmals viel beachtete und zu Zeiten auch an der Berliner Volksbühne beschäftigte Regisseur, der nun aber seit Jahren schon an den Rändern der überregionalen Aufmerksamkeit entlang inszeniert und zuletzt am Deutschen Theater Göttingen eine knifflig intelligente "Faust"-Inszenierung herausbrachte, dieser Regisseur hat in Chemnitz jetzt eine "Emilia Galotti" gebastelt, die komplizierter wird je länger man darüber nachdenkt.


Theater Chemnitz

Im Glauben an die Illusion

von Ralph Gambihler

Chemnitz, 3. Oktober 2008. Es werden vermutlich noch nicht viele Programmhefte gedruckt worden sein, von denen man sagen kann, dass sie eine ganze Passage aus Margaret Mitchells Südstaaten-Epos "Vom Winde verweht" enthalten. Man fahre also nach Chemnitz und lese! "Mit dem Trotz ihrer Vorfahren, die auch nie eine unausweichliche Niederlage hinnahmen, warf sie das Kinn empor."


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