Das Event als Gesamterfahrung
von Sascha Ehlert
Berlin, 16. Juli 2016. Ich habe einen Traum. David Lynch im Schneidersitz: "Du musst über deine Ängste sprechen, sie begrüßen, ihnen etwas abgewinnen!" Um ihn herum schleichen Bäume herum, ganz langsam, aber merklich trippelnd. Hinten in der Ecke steht der Tod. Auf eine Tafel hat jemand: "Magic" geschrieben. Jeff Bridges sitzt auf einem Stuhl, vor ihm ein brauner Holzkasten, aus dem Musik ertönt. Langsame Leierkastenmusik, schwermütig und schräg. "The world is filled with too many restless people in need of rest—that's why I filled my sleeping tapes with intriguing sounds, noises and other things to help you get a good night's rest."
Wo ist der Thrill?
von Christian Rakow
Berlin, 3. Juli 2015. Harte Schnitte hält so ein Festivalabend bei den "Foreign Affairs" bereit. Da trippelt man gerade noch still aus der Box mit dem puristischen Erzähltheater von Forced Entertainment (das seit nunmehr einer Woche im Livestream auf nachtkritik.de gecovert wird). Und dann plötzlich: große Bühne, Nebelschwaden, Suchscheinwerfer, hämmernde Beats, Industrial Noise. Willkommen im Tanztheater von Hofesh Shechter.
Schändung auf dem Markusplatz
von Christian Rakow
Berlin, 30. Juni 2015. Auf Postkarten sieht man den Markusplatz Venedig mitunter von Wasser überflutet. Wasser, das, so ahnt man, den Unrat des Tages verdeckt: zertretene Weintrauben, Tücher, hingeworfenes Spielzeug. Nur hocken auf solchen Karten für gewöhnlich nicht zehn gut trainierte Männer, wie unter Geburtswehen keuchend, an der Wand des Dogenpalasts. Und auch eine Bestattungslimousine mit geflügeltem Kuscheltier auf dem Dach schwebt eher selten vorüber. Das alles sieht man nur auf dem Markusplatz, wie Radikalperformerin Angélica Liddell ihn ins Haus der Berliner Festspiele gebaut hat, für die "Foreign Affairs"-Deutschlandpremiere von "You Are My Destiny (lo stupro di Lucrezia)".
Stop-and-Go-Zug
von Janis El-Bira
Berlin, 28. Juni 2015. Szenen wie beim großen Schulhoffest vor den Sommerferien im Haus der Berliner Festspiele: In beiden Foyers sind etliche Stände aufgebaut, junge Menschen laufen hektisch in griechisch-römischen Togen zwischen den dicht gedrängten Besuchern hin und her, jemand trägt ein Schild mit der Aufschrift "Hades" herum. Zelte und Essensstände in Kreuzköllner Hipster-Optik pflastern den Garten und im oberen Stockwerk bieten das Orakel von Delphi und eine Mythenerzählerin ihre Dienste an, während alte BR-Alpha-Sendungen mit Antikebezug über hoch aufgetürmte Fernsehschirme flimmern. Dass zudem mit einer längeren Verweildauer der Gäste gerechnet wird, verraten mäßig einladende Feldbetten und ein Kiosk, der Zahnpasta, Schlafmasken und auch sonst jede Menge anbietet, was moderne Großstädter auf keinen Fall für eine volle Nacht meinen missen zu können.
Die Monumente in unseren Köpfen
von Esther Slevogt
Berlin, 12. Juli 2014. Die Kunst tritt ja immer wieder gern als Erretterin vor den Übeln unserer Tage auf. Vor dem Kapitalismus, vor der Globalisierung und den Menschheitsunterdrückern. Die Künstler sind dabei meistens die Guten und treten vor ihr Publikum mit mahnender Miene: Wehe, wehe, wenn ich an das Ende sehe. Dass Verhältnisse so unübersichtlich sein können, dass man gar nicht weiß, wo die Guten und die Bösen sind, wird meist ungern zur Kenntnis genommen.
Raus aus dem Kunstsystem
von Elena Philipp
Berlin, 4. Juli 2014. Es ist das Jahr 1987, ein Jahr nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl als John Jordans Schilddrüse versagt. Im Montreal-Protokoll verpflichten sich die Staaten zum Schutz der Ozonsphäre. Die Zahl der Karbondioxid-Partikel pro Million erreicht den kritischen Wert von 350 und wird weiter steigen. Jordan entschließt sich, Künstler zu werden. Jetzt steht er vor uns auf der Bühne, in der Soloperformance "We Have Never Been Here Before", und setzt Jahreszahlen parallel zum CO2-Wert in der Atmosphäre.
Wunder gescheh'n
von Sophie Diesselhorst
Berlin, 3. Juli 2014. Vielleicht könnte man Angélica Liddell mal mit der Liebes-Verweigerin Christiane Rösinger ("Songs of L. and Hate") zusammenbringen. Dann könnte Liddell von ihrem Liebeswahn berichten, und Rösinger könnte ihr auseinandersetzen, warum sie die romantische Liebe als letztes ideologisches Schlupfloch der Postmoderne so vehement, ja nahezu ideologisch ablehnt. Vielleicht wäre danach alles ok – Kartoffelpüree, zumindest für einen Abend. Aber das wär ja schon mal was, oder?
Warten auf das letzte Fuck you
von Sophie Diesselhorst
Berlin, 26. Juni 2014. Im Theater sitzt man ja in der Regel weit genug weg, wenn gemeuchelt und geschändet wird. Man hat "the bigger picture" und kann sich qua Überblick vor dem unmittelbaren Ekel schützen, der einen befallen würde, müsste man das Bühnengeschehen von nahem sehen. Selbst wenn per Live-Video rangezoomt wird, gibt es doch meistens im Bühnenbild um die Leinwand herum genug, woran das Auge sich zur Ablenkung abstoßen kann.
Fluchtauto für Edward Snowden
von Eva Biringer
Berlin, 12. Juli 2013. Wie wahrscheinlich ist es, dass die Nachtkritikerin nach der Vorstellung nicht nach Hause gefahren ist, um am Schreibtisch die Rezension zu schreiben, sondern sich von einer Stretch-Limousine an den Ort ihrer Wahl hat fahren lassen? Auf einer Skala von minus drei bis plus drei: Sehr unwahrscheinlich. Schließlich haben Sie, lieber Leser, die fertige Kritik vor Augen. Merke: Retrospektiv lassen sich Wahrscheinlichkeiten sehr viel eher einschätzen als solche die Zukunft betreffend.
Auf der Suche nach den verlorenen Jahren
von Sophie Diesselhorst
Berlin, 6. Juli 2013. Überforderung ist Strategie beim Nature Theater of Oklahoma. Die des Publikums durch Inszenierungen, die sich vor inhaltlicher wie formaler Monotonie nicht scheuen; zunächst aber die eigene durch die autodidaktische Erschließung immer neuer künstlerischer Ausdrucksformen. Seit Jahren schon arbeitet sich die New Yorker Truppe um das Regisseurs-Paar Pavol Liska und Kelly Copper an dem Projekt "Life and Times" ab, in dem die Geschichte des Lebens von Nature-Theater-Mitkünstlerin Kristin Worrall – ja, bisher: ganz klassisch auf die Bühne gebracht worden ist. Als Musical in den ersten beiden Episoden, als Thriller in dem Doppel-Abend Episode 3 & 4.
Vomitorium der Republik
von Georg Kasch
Berlin, 2. Juli 2013. Es ist eine alte Aufnahme, man hört es am Knistern und Rauschen: Antoine Vumila Muhindo, genannt Vumi, berichtet von seiner Zeit in der kongolesischen Rebellenbewegung. Während sich sieben Performer im Bühnenhalbdunkel die Gesichter und Hände mit Kreideschlamm weißen, klingt Vumis Stimme auf Band euphorisch, als er die Paraden mit einer Theaterbühne vergleicht, weil beim Stillgestanden selbst der Gesichtsausdruck korrigiert wurde. Sei es nicht Ziel der Kunst, die Welt zu verzaubern? Und hätten die Rebellen nicht mit ihren Pistolen Mozart gespielt? Am Ende dann der Bruch: Als Idealist sei er in den Dschungel gegangen, sagt Vumi – und als Fanatiker zurückgekehrt.
Blut aufs Brot
von Esther Slevogt
Berlin, 27. Juni 2013. Die Szenerie mutet ländlich-archaisch an, ein Hauch von Bernarda Albas Haus vielleicht sogar: links ein altes Bettgestell aus Holz, der dazugehörige Nachttisch steht ein Stück entfernt. Irgendwann wird auf einem Video eine Frau zu sehen sein, die das Kopfteil dieses Bettgestells wie einen Pflug über einen kargen Acker zieht. Dann befindet sich auf der Bühne noch ein Stuhl und ein kleiner Erdhügel, auf dem ein toter Hase liegt und dem Setting eine Prise Beuys hinzufügt. In der Ecke gegenüber steht hinter aufgeschichteten Heuquadern ein weißes Pferd und verströmt wohligen Stallgeruch.
Die Turnhalle der Visionäre
von Christian Rakow
Berlin, 25. Oktober 2012. Als der Maler Mark Rothko 1958 beauftragt wurde, mit einem Bilderzyklus das kurz vor der Eröffnung stehende Restaurant des Hotels "Vier Jahreszeiten" in Manhattan zu "dekorieren", war ihm klar, welchem Ort er sich da andienen sollte: "a place where the richest bastards in New York will come and show off". Und für deren Anliegen hatte Rothko eine passende Konzeption parat (man muss sie ob der ausgesuchten Tonlage im Original wiedergeben): "I hope to paint something that will ruin the appetite of every son-of-a-bitch who ever eats in that room."
Die Weisheit der Indianer
von Georg Kasch
Berlin, 20. Oktober 2012. "Ich bin so erschöpft", brüllt Fabian Hinrichs in Mikro. Hinten mahlt die Band einen Klangwiderstand, wummert und rummst, vorne erzählt Hinrichs davon, dass man oft die größten Wünsche nicht mehr so toll finden würde, sobald sie sich erfüllten, weshalb man sich dann ein neuen Ziel suchen muss. "Die Zeit schlägt dich tot!", ruft Hinrichs, dazu peitscht der Beat apokalyptische Schreie.
Einmal böse, immer böse
von Sophie Diesselhorst
Berlin, 5. Oktober 2012. Quelle tristesse! Familie Fritzl sitzt artig aufgereiht auf dem Sofa. Sehr große, weiß umrandete Augen sind Vati, Mutti und den beiden Söhnen auf ihre primitiven Gesichtsmasken gemalt, die sehr leer wirken. Die Münder stehen ihnen ratlos offen. Ist Schluss mit dem Terror im Keller, für den Institutet und Nya Rampen in ihrer beim Impulse Festival 2011 preisgekrönten Vorgängerproduktion Conte d'Amour einprägsame Bilder fanden? Wo ist überhaupt der Keller?
Unter die Crazy-Africa-Disco-Perücke geschaut
von Elena Philipp
Berlin, 03. Oktober 2012. Wenn weiße Männer Theater zum Thema Afrika machen, geht das mitunter schief. So wie Brett Baileys zu Recht heftig debattierte Neo-Völkerschau Exhibit B bei den Berliner "Foreign Affairs": Hier produziert der wohlmeinend-engagierte weiße Regisseur bedenklichen Betroffenheitskitsch, der im voyeuristischen Blick auf den schwarzen Körper koloniale Hierarchien reproduziert. Beim gleichen Festival gelingt dem Künstlerkollektiv andcompany&Co. mit "Black Bismarck previsited" hingegen ein so erhellendes wie erheiterndes Lecture-Konzert über das Fortwirken des Kolonialismus hier und heute.
Stuhl, Kleidung, Afrikaner, Zuschauer
von Matthias Weigel
Berlin, 29. September 2012. "Nummer zwölf": Das Los trifft mich zuerst. Gleich hinter dem nächsten Steinbogen beginne "Exhibit B", wurde uns gesagt. Ich bin also der erste Zuschauer, der im ehemaligen Wasserspeicher am Prenzlauer Berg den kühlen, schummrig beleuchteten Gemäuergang betritt, ganz allein. Dass diese "Installation mit menschlichen Exponaten" die Völkerschauen und "Menschenzoos" des 19. Jahrhunderts zum Thema haben soll, weiß ich; es wird mir aber nicht darüber hinweg helfen, schon auf die erste Szenerie völlig hilflos zu reagieren.