Den Königsweg verfehlt
von Andreas Wilink
Köln, 18. Dezember 2020. Nichts ist wie jemals zuvor, die Zeit verwüstet und schöne Tage sind zu Ende, mag der die Atemluft raubende Würgegriff auch ein anderer sein, damals im Spanien Habsburgs, der katholischen Inquisition und des "Schreckens der Geschichte" (Mircea Eliade) und während unserer akuten Heimsuchung. Und weil eben alles anders ist und eine Premiere ohne Publikum im virtuellen Raum und von Kameras aufgezeichnet stattfindet, damit sie überhaupt sein kann, darf auch die Kritik vielleicht der Regel zuwider laufen und den Kritiker ins Spiel bringen. Eine meiner ersten nennenswerten Theaterkritiken, die sich auf ein eben solches Ereignis bezog, war der "Faust" am Schauspiel Köln, inszeniert von dem dort 1979 bis 1985 amtierenden Intendanten Jürgen Flimm, mit Hans Christian Rudolph, Wolf-Dietrich Sprenger und Susanne Lothar. Das liegt beinahe vier Jahrzehnte zurück. Meine Überschrift lautete: "Abschied vom Lustort Welt". Sie passt auch für das bald endende Jahr 2020. Und leider auch für diesen in seiner Absicht aller Ehren werten Inszenierungs-Versuch.
Dicke runde Null
von Martin Krumbholz
Köln, 24. Oktober 2020. Ein monströses Stativ ziert die Rampe im Depot 1 am Schauspiel Köln: Wir befinden uns im hell ausgeleuchteten Studio eines Foto-Shootings, bald läuft ein knappes Dutzend "Models" auf, posiert kurz vor der Kamera, während das geknipste Bild auf Screens erscheint, verschwindet, dem nächsten Platz macht. Robert Borgmann hat für seine Ibsen-Überschreibung das soziale Umfeld der Vorlage ein wenig umorganisiert, den Plot in die Gegenwart verlegt; so ist der Bankier Torvald Helmer ein Modefotograf, eben aufgestiegen zum "Creative Director" einer bedeutenden Agentur, seine Frau Nora ein Model – durchaus kein trällerndes Püppchen, das abwechselnd Lerche und Eichhörnchen gerufen wird, sondern sich selbstbewusst in Szene setzendes Subjekt, gespielt von Sophia Burtscher.
Im Keller der Tradition
von Max Florian Kühlem
Köln, 22. Oktober 2020. Mitten im Wirrwarr der visuellen und akustischen Reize, der Symbole, Einrichtungsdetails, Kostüme, Requisiten und Stimmen der Performer*innen lohnt es sich, einmal kurz Luft zu holen und zu reflektieren, was das hier eigentlich für ein Ort ist: Das Gebäude am Offenbachplatz ist das eigentliche Kölner Schauspiel. Während einer Pause der noch bis 2023 währenden Sanierung kann darin aktuell gespielt werden. Intendant Stefan Bachmann, der Erfolg und große Freiheit gefunden hat in der Interimsspielstätte Depot im Stadtteil Mülheim, nennt es jetzt "Außenspielstätte". Das Duo T.B. Nilsson und Julian Wolf Eicke hat den Innenraum nun umgebaut zur abgeranzten Kneipenbühne "Heidi's am Offenbach" und fragt darin nach unserem Verhältnis zur Tradition.
Ritt auf dem güldenen Penis
von Martin Krumbholz
Köln, 25. September 2020. 100 Seiten Text? 150? Schlappe 28. Und Schauspieler? Vier oder fünf (wie seinerzeit in München oder Berlin)? Pralle neun. Das Zahlenverhältnis zeigt, worauf es hier ankommt. Sicher nicht auf "Werktreue"; das wäre auch Unfug angesichts der schier aus den Nähten platzenden Jelinek'schen Konvolute, die zu großzügigen Strichen gar selbst noch einladen. Ersan Mondtags Inszenierung verdichtet Elfriede Jelineks 2015 entstandene "Wut" vielmehr zu einer opulenten, wüsten, trashigen, in weiten Teilen formidablen Sprechoper.
Besoffen vom blauen Kraftlackl
von Dorothea Marcus
Köln, 12. September 2020. Ist es tatsächlich erst 16 Monate her, seit das dramaturgisch so perfekt inszenierte Ibiza-Video in das geschäftige Treiben des Theatertreffens einbrach und fortan kaum noch ein anderes Thema besprochen werden konnte, so lustschauernd schadenfroh und zugleich ungläubig stimmte dieses Realitäts-Kabarett der Neuen Rechten, eine aberwitzige Mischung aus Inszenierung und Wirklichkeit?
Stürzt alle Denkmäler
von Sascha Westphal
Köln, 5. September 2020. Die Situation ist offen. So wie sie sich mit maximalem Abstand gegenüberstehen, könnten Thuiskomar und Hermann Verbündete oder auch Gegenspieler sein. Klar ist nur, der Fürst der Sicambrier tritt dem Fürsten der Cherusker als eine Art Bittsteller entgegen. Mit einem leichten Zittern in der Stimme klagt Seán McDonagh dem wie versteinert dastehenden Nikolaus Benda das Leid seines Landes, das entgegen früherer Verträge von römischen Truppen besetzt wurde. Nun sucht er Beistand bei Hermann und will ihn in die Rolle des Befreiers drängen, der Roms Herrschaft über die germanischen Völker beendet. Aber Thuiskomars Auftritt könnte auch ein Test sein, eine Falle für den Cherusker.
Eine Herberge für das Chaos
von Gerhard Preußer
Köln, 4. September 2020. Soviel Anfang mit soviel Nichts war schon lange nicht. Warten musste man ja: in der Schlange vorm Supermarkt, auf die nächste Klopapierlieferung, auf die Testergebnisse. Nun sind sogar die Theater wieder da, sie spielen wieder. Und wie! Mit Godot, dem großen Niemand, fängt das Schauspiel Köln an und beendet das Warten aufs Theater.
Politisch verfolgt
von Dorothea Marcus
Köln, 29. Februar 2020. Viermal in seinem Leben wurde der Kölner Schriftsteller mit türkischen Wurzeln Doğan Akhanlı verhaftet, zuletzt 2017. Während er – seit 2001 deutscher Staatsbürger – sonst meist bei der Einreise an der türkischen Grenze abgefangen wurde, veranlasste die Türkei den letzten Zugriff auf ihn per Interpol. In seinem Hotel, mit seiner Lebensgefährtin auf Kurzurlaub im spanischen Granada, wurde er frühmorgens aus dem Bett geholt und wegen eines angeblichen Raubmordes vor vielen Jahren verhaftet. Fast drei Monate durfte er Spanien nicht verlassen. Weltweit erhob sich massiver Protest, seine Sache schaffte es auf die Titelseite der New York Times.
Bombardierst du den Kindergarten?
von Cornelia Fiedler
Köln, 8. Februar 2020. "Hitler versteckt sich in einem Kindergarten. Bombardierst du den Kindergarten?" Sechs Spieler*innen schwärmen mit Mikrofonen bewaffnet in die Publikumsreihen aus. 27 Kinder seien dort, hilft Ines Marie Westerströer bei der Entscheidungsfindung, und Hitler. Man würde also 27 Kinder töten, könne aber anderthalb Millionen retten – gemeint sind die in der Shoa ermordeten Kinder. Eine Antwort bleibt aus. Das ist verstörend, liegt aber vermutlich – oder besser: hoffentlich – daran, dass die Mikros immer weggezogen werden, bevor Zuschauer*innen antworten können. Dennoch ist gerade diese Szene symptomatisch für Maya Arad Yasurs neues Stück "Bomb", uraufgeführt von Lily Sykes in Köln: Es wirft moralische Fragen auf, entzieht sich aber deren Beantwortung.
Europa am Abgrund
von Max Florian Kühlem
Köln, 17. Januar 2020. Der neue Castorf ist draußen, die Fans können wieder Bingewatchen. Diesmal am Schauspiel Köln, gute fünf Stunden am Stück, mit Spitzkohl-Eintopf-Pause sogar fast sechs, dauert der nach Carl Sternheims Dramenzyklus "Aus dem bürgerlichen Heldenleben" benannte Theaterabend. Normalerweise werden in ein Paket mit diesem Stempel die Stücke "Die Hose", "Der Snob" und "1913" geschnürt. Frank Castorf packt noch enger: "Das Fossil" und Sternheims einziger Roman "Europa" kommen mit dazu.
Die Eisunheiligen
von Andreas Wilink
Köln, 7. Dezember 2019. Alle Wetter! Lange rieselt der Schnee. Winde heulen und jachtern, mit allem Zick und Zack, Bim und Bam orgelt die Tonspur. Gewitter krakeelt. Das Käuzchen ruft. Ersan Mondtag erhebt den Arm: Der arge deutsche Märchenwald erwacht und hat die Reihen fest geschlossen.
Existenzielle Erschütterung
von Martin Krumbholz
Köln, 15. November 2019. Regieanweisungen spielen selten eine so bemerkenswerte Rolle wie in Luk Percevals Inszenierung von Eugene O’Neills Meisterwerk "Eines langen Tages Reise in die Nacht". Sie sind ja fast so etwas wie ein Stück im Stück oder ein Roman im Stück, mit dem O’Neill die Atmosphäre im Haus der Schauspielerfamilie Tyrone und die Psychologie der fünf Personen akribisch umkreist – vom ewig tutenden Nebelhorn bis zu des jüngeren Sohn Edmunds Hustenanfällen. Percevals entscheidender Kunstgriff legt diesen Code in den Mund der Spielerin des Dienstmädchens Cathleen (Maria Shulga), die – ansonsten funktionslos – das trübe familiäre Geschehen beobachtet und scheinbar emotionslos kommentiert. Das epische und zugleich hyperrealistische Moment des Dramas findet so eine plausible, dabei beklemmende, fast gespenstische Entsprechung, noch subtil verstärkt durch den englischen Akzent der Spielerin.
Fahrt fatal
von Tilman Strasser
Köln, 7. November 2019. Schließlich schwankt der Horizont. Gerade hat der Präsident verkündet, dass das Schiff nicht in Kuba vor Anker gehen darf, mit weißem Hut und im schlimmsten Sinne staatsmännisch. Da kippt das bühnenbreite Bild von Meer und Himmel erst in die eine, dann in die andere, dann wieder in die eine Richtung, es knarzt entsetzlich dabei. Und die Passagiere, die bis dahin schier ununterbrochen gequatscht, gestammelt, gesungen, geschrien haben, starren auf eine Welt, die selbst seekrank geworden zu sein scheint: Die Ablehnung bedeutet nicht etwa nur, dass sie sich auf den langen Rückweg von Havanna nach Hamburg begeben müssen. Sondern direkt in den sicheren Tod.
Der tote Plattengott
von Dorothea Marcus
Köln, 25. Oktober 2019. Es ist das Blöde an 1200 Seiten Romantrilogie, dass sie, auf einen Theaterabend gebracht, zwangsläufig zu Vereinfachung führen. In der dritten deutschsprachigen Bühnenversion von Virginie Despentes' bösartigem wie scharfsichtigem Bestseller "Das Leben des Vernon Subutex 1-3" setzt Regisseur Moritz Sostmann diesem Allgemeinplatz sein erwachsenes Puppentheater entgegen – und die Kraft der Playlist, die im Leben des Ex-Plattenhändlers, lädierten Frauenhelden und lässigen Obdachlosen Vernon eine so große Rolle spielt (über 200 Titel verzeichnet sie auf Spotify). Mit einem schrillen Pfiff stürmen die Darsteller von den Seiteneingängen hinter den Breitwandkasten von Christian Beck und wiegen sich als scharfe Schattentheater-Umrisse lasziv zu düsteren Bässen. Vernon Subutex wirkt als Puppe wie ein Wiedergänger von Iggy Pop: blondierte Langhaarfrisur, gediegene Rockstar-Falten, Pilotenbrille. Sein menschliches Alter Ego Aram Tafreshian rattert in einem furiosen Schnorrer-Monolog durchs Publikum ("Haben Sie vielleicht mal ne Zigarette?") Vernons Abstieg herunter: Wohnungsrauswurf, sesshaft und illusionslos gewordene Freunde, Tod des berühmten Gönners Alexandre Bleach, Couchsurfing als verdeckte Obdachlosigkeit.
Die andere Vererbungslehre
von Andreas Wilink
Köln, 20. September 2019. Die Juden sind das Volk des Buches. Entsprechend wirkt das Buch in "Vögel" als Verführer. Sieben Schauspieler sitzen auf der Kölner Depot-Bühne gebeugt über Bücher: lesend, schlafend, vielleicht träumend, bis die Regie sie erweckt und zum Tanzen bringt. Eitan Zimmermann, Sohn des Israeli David und der ostdeutschen Psychiaterin Norah aus kommunistischem Berliner Elternhaus, forscht in den USA als Biogenetiker. In der New Yorker Universitätsbibliothek begegnet er der arabischstämmigen Wahida, deren Doktorarbeit sich mit einem vor 500 Jahren vermutlich nur äußerlich zum Christentum bekehrten Weisen, al-Hasan Ibn Mohamed al Wazzan, befasst, der Papst Leo X. als Geschenk überreicht worden war.
Etüde der Sinnzerstörung
von Gerhard Preußer
Köln, 22. Juni 2019. Sechs kleine künstliche Hamster drehen sich auf dem Modell einer Theaterbühne im Kreis, jeder in seiner geschlossenen Glaskugel. Nach draußen dringt nur das leise Klick-klick-klick der Mechanik. Hinter der Modellbühne ein umgestürzter Thespis-Karren, daneben ein Zirkuspferd im Jaguarfell, am Bühnenrand nur schwarze Raben. Sechs Schauspielerinnen und Schauspieler stehen auf der echten Bühne und mühen sich ab. Sie sprechen Worte, doch die kommen nicht an. Zu laut tönt die Musik aus den Boxen: Jacques Offenbachs Ouvertüren.
Unter Fleischergesellen
von Dorothea Marcus
Köln, 7. Juni 2019. Die Dokus zum D-Day tosen noch in den Ohren, da geht's noch einmal zurück, tiefer hinein in die Weltkriegsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Mit Bertolt Brechts Fragment "Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer" setzt Oliver Frlijć beim ersten Weltkrieg an: Zwölf Feldbetten wachsen im Kölner Depot 2 aus schwarzer Erde, sieben versprengte Soldaten gießen den Boden, dazu läuft eine Abwandlung von Marlene Dietrichs Schlager "Sagt mir, wo die Männer sind".
Millionen rechts, Millionen links. Ein Vogelschiß!
von Dorothea Marcus
Köln, 24. Mai 2019. Da sitzt er, in einer Art gläsernem Wagenanhänger, Martin Reinke als abgehalfterter Kaiser Wilhelm II. in Pickelhaube und Uniform. Monoton leiert er seine Hunnenrede herunter. So fällt kaum auf, wie völkerrechtswidrig und brandschatzend seine Worte sind, eine Anleitung zum rücksichtslosen Rachefeldzug gegen China: "Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht! Wer euch in die Hände fällt, sei euch verfallen". Obwohl anschließend eifrig von den Zeitgenossen relativiert, wurde das Zitat "Pardon wird nicht gegeben" zum Titel für Alfred Döblins ersten Exilroman, geschrieben mit 56 Jahren in Paris, erfolglos wie fast alle nach seinem Bestseller "Berlin Alexanderplatz“. In Deutschland erschien das Buch erst 1961, da war Döblin schon gestorben. Ins Theater gebracht wurde der Stoff erst jetzt, 2019 – in einer Theaterfassung des österreichischen Schriftstellers petschinka, erstaufgeführt von Rafael Sanchez.
Kontrafaktur des Schreckens
von Gerhard Preußer
Köln, 12. April 2019. "Es ist an der Zeit, die Welt der Zivilisierten und ihr Licht aufzugeben." Auf Englisch bekommt man diesen Satz des Franzosen Georges Bataille von 1936 vorab serviert. Das ist’s, was die Inszenierung zeigen will, Menschen jenseits der Zivilisation. Als dunklen, schönen Schrecken, wie die Kunst es soll.
Man kann die Welt nicht durch Gräuel verschönern
von Gerhard Preußer
Köln, 15. März 2019. Die Kanaille ist eine Frau. Oder doch nicht? Sie heißt ja Franz. Ersan Mondtags Inszenierung von Schillers "Räubern" ist ein Geschlechterverwirrspiel. In dem Bruderzwist zwischen Karl Moor, dem idealistischen, wilden Räuber, und Franz Moor, dem materialistischen "kalten, trockenen Alltagsmenschen" sind alle Hauptrollen geschlechterverkehrt besetzt.
Versäumnisse verhandeln
von Tilman Strasser
Köln, 9. März 2019. "Sie haben gesagt, dass diese Christen jetzt auch Menschen sind und deswegen haben sie Rechte, so wie die Weißen auch. 25 Jahre hat es gedauert. Sie haben sie geknechtet, sie haben sie gefoltert, sie haben sie ermordet. Und jetzt werden sie geschützt“, klagt Yuri Englert. Währenddessen schlurft Schauspiel-Kollege Stefko Hanushevsky gebückt über ein Plateau, im Arm ein Bündel Holzkreuze. Weil es um die Schrecken der deutschen Kolonialherrschaft im heutigen Namibia geht, tragen beide weiße Masken. Und weil es speziell um die Rolle der Rheinischen Missionsgesellschaft geht, tragen sie auch weiße Gewänder, irgendwo zwischen Mönchskutte und Ku-Klux-Klan. Das Licht fällt durch sakrale Buntglasfenster (mit stilisiertem Auge), letzte Schwaden der Nebelmaschine wabern umher und Hanushevsky steckt die Kreuze in den Boden, behutsam, als pflanze er eine empfindliche Sorte Tod. "Wenn man August Bebels Reichstagsreden liest, dann ist da die klare Ansage, so geht es nicht, das ist eine unchristliche Kriegsführung", klagt Englert weiter, "das ist das Vorgehen eines Metzgergesellen".
Fiebertraum Pubertät
von Tilman Strasser
Köln, 26. Januar 2019. "Geh doch gleich auf'n Strich." – "Um dir dort zu begegnen? Nee, bestimmt nicht." Jetzt streiten sie schon wieder! Gerade noch drückte Elisabeth ihren Bruder Paul mit dem Hintern an die Wand – teils spielerisch, teils zärtlich, teils zur Demütigung. Und im nächsten Moment fliegen zwischen den beiden die Fetzen, sodass der treudoofe Gérard nur noch von einer zum anderen blicken kann. Gérard, ein Freund des Hauses, steht im Bademantel vor den Keifenden, inmitten von Gitarre und Schminkspiegel, Laken und Kissen und Teenie-Postern. Eben noch war er hier Teil einer intim-skurrilen Pyjama-Party. Jetzt muss er einsehen, dass ihm die Welt dieser Geschwister in ihrer bizarren Logik ewig verschlossen bleiben wird.
Das Gespenst der Freiheit
von Andreas Wilink
Köln, 18. Januar 2019. Ein mythisches Grundmuster scheint in "Rückkehr nach Reims" durch: Auszug und Wiederkunft des Heros / Sohnes, verbunden mit einer realen bzw. symbolischen Vatertötung. Parallel untersucht der Soziologe Didier Eribon das neoliberale System unserer defekt gewordenen Demokratien. Noch einmal erlebt die (französische) Gesellschaft das Scheitern der Aufklärung und die Opferung des Einzelnen bzw. der Beherrschten im Namen des etatistischen Prinzips.
Skifoan!
von Cornelia Fiedler
Köln, 21. Dezember 2018. Es gibt ein paar einfache Regeln: keine Privatsender hören, Kaufhäuser meiden, so oft wie möglich Kopfhörer tragen. Ja, es hätte dieses Jahr wirklich funktionieren können, durch die Adventszeit zu kommen, ohne ein einziges Mal Last Christmas zu hören, den ewigen Weihnachts-Wiedergänger von Wham!. Doch dann passiert es am gefühlt sichersten Ort überhaupt, im Theater! Im letzten Drittel einer Jelinek-Uraufführung! Danke Schauspiel Köln.
Worte, Worte, wohin mit euch allen
Von Gerhard Preußer
Köln, 23. November 2018. Arnolt Bronnens "Rheinische Rebellen", 1925 uraufgeführt, ist heute ein vergessenes Stück. Frank Castorf hat es einst 1992 ausgegraben und eine Inszenierung hingerotzt mit allerlei Anspielungen auf damals aktuelle deutsch-deutsche Verhängnisse. Es nun, 100 Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, im Rheinland wieder auf die Bühne zu bringen, rechtfertigt sich durch Ort und Zeit. Doch durch was noch?
Immer geraden Fußes auftreten!
von Dorothea Marcus
Köln, 1. November 2018. Es ist ein Wiedersehen, man kennt es, aber wie seltsam, es ist nicht Berlin. Eine wunderschöne, nebelumdampfte russische Datscha hat Aleksandar Denić ins Kölner Depot I gebaut, grün angelaufen sind die pittoresken Zierfriese, innen erahnt man: Samoware, Silberbecher, Mustersofas. Daneben – in Ermangelung einer Drehbühne – steht eine Trinkhalle mit Billardtisch, es blinkt russische Pepsi-Werbung, davor steht auf kyrillischen Buchstaben "Autobus", dazwischen ein Lada mit Boot darauf – und natürlich eine riesige Leinwand, auf der die Bühnenteile zu Filmlandschaften zusammenlaufen.
Erlösung? Niemals
von Cornelia Fiedler
Köln, 26. Oktober 2018. "Wir wollen doch lieber bei unserer guten deutschen Wahrheit bleiben. Und dieser Krieg ist doch nur ein Vogelschiss in unserer eintausendjährigen deutschen Geschichte". Das dummdreiste Gaulandisieren steht dem "Oberst, der sehr lustig ist" aus Wolfgang Borcherts Drama "Draußen vor der Tür" ganz hervorragend. Es stärkt sogar dessen Argumentation: Wie hätte man schließlich während eines kurzen Vogelschisses groß Schuld auf sich laden können, als Wehrmachtssoldat?
Luft raus
von Cornelia Fiedler
Köln, 6. Oktober 2018. "Error 404" lautet das Schlusswort. Aus tausenden von LEDs leuchtet diese Null-Information auf die verwaiste Bühne des Schauspiel Köln herab, und auf die drei Frauen ganz vorn am Bühnenrand. 404, das ist der Klassiker unter den HTTP-Codes im Netz und heißt, 'Ja, die Anfrage' – in diesem Fall der finale Stoßseufzer von Olga, der ältesten der "Drei Schwestern" – 'ist beim Server angekommen'. Und: 'Nein, das passende Dokument' – sprich die Antwort auf die Frage "wofür wir leben, wofür wir leiden" – 'konnte nicht gefunden werden'. Damit ist die größtmögliche Reduktion von Text und Handlung erreicht, eine Reduktion, auf die die Inszenierung von Regisseurin Pınar Karabulut konsequent zusteuerte.
An der Wasserfront
von Andreas Wilink
Köln, 15. September 2018. "Teufelslachen" bescheinigte Daniel Kehlmann in der Dankesrede zur Verleihung des Frank-Schirrmacher-Preises vor zwei Wochen in Berlin seiner Romanfigur. Das diabolische unterscheide sich, nach einer Definition von Milan Kundera, vom Lachen der Engel dadurch, dass mit ihm ein "kompromissloser Blick" auf die Welt, wie sie ist, und "die Kraft der Unversöhnlichkeit" Ausdruck fände. Da hört der Spaß auf – oder fängt gerade erst an.
Ich bin ein Mensch, holt mich hier raus!
von Martin Krumbholz
Köln, 8. Juni 2018. Die staunenswert lebensechte, vergrößerte Nachbildung des Schauspielers Bruno Cathomas, die da am Boden des Depots liegt, schläft nicht. Sie blickt uns an. Die beiden Schauspieler, die auf der Figur liegen, Kate Strong und Bruno Cathomas, schlafen. Sie wirken winzig auf dem massigen Leib der Cathomas-Figur, wie Zwerge oder Püppchen. Der Riese sieht uns den ganzen Abend aus großen Augen an, und man wartet eigentlich darauf, dass er aufsteht und mitspielt. Denn ehrlich gesagt, zuzutrauen wäre so etwas dem Wunderkind Ersan Mondtag ohne weiteres. Beweis: Wenn man ganz genau hinschaut, wird man gegen Ende der Vorstellung bemerken, dass eine der blond-weißen Skulpturen in ihrer Vitrine hinten auf der Bühne sich kurz bewegt und ihre Position verändert, bevor sie wieder erstarrt. Im Mondtag-Theater ist alles möglich, das Tote lebt und das Lebende ist, naja, scheintot.
Angstfrei gegen den Schaufelradbagger
von Cornelia Fiedler
Köln, 30. Mai 2018. "Garantiert ritterliches Mittelmaß in garantiert angstfreier Atmosphäre", verspricht Stefko Hanushevsky mit gewinnendem Lächeln demjenigen, der ihm, dem Ritter Don Quijote, als Knappe dienen will. Einen "angstfreien Raum" versprach auch Stefan Bachmann zu Beginn seiner Intendanz in Köln 2013.
Marx reloaded
von Tilman Strasser
Köln, 4. Mai 2018. Marx hat Geburtstag, und er kriegt einen Kuchen. Keinen großen allerdings: Oleg Zhukov, mit weißer Wirrschopfperücke und Rauschebartbügeln, muss sich mit ziemlich mickrigem Gebäck zufriedengeben. Zwar wird der Philosoph, Gesellschaftstheoretiker, Staatswissenschaftler, Religionskritiker und Protagonist der Arbeiterbewegung 200 Jahre alt – aber das lässt ihn eben auch ganz schön angestaubt wirken. Dann allerdings kommandiert Ines Marie Westernströer in Richtung Technik: "Micha, mach mal Licht aus!" Und in der folgenden Dunkelheit leuchtet über den Geburtstagskerzen einzig das ikonische Antlitz des Jubilars.
Gespenstersonate
von Martin Krumbholz
Köln, 22. März 2018. In Georg Büchner, dem Dichter und Menschen, liegen zwei Tendenzen im Wettstreit: Fatalismus und Revolte. Man kann es auch Freiheit des Willens und Determinismus nennen. Das Faszinierende, aber auch Beunruhigende ist, dass Büchner diesen Kampf bis zu seinem Tod nicht entschieden hat. Der vielzitierte Fatalismusbrief auf der einen Seite, der "Hessische Landbote" auf der anderen. Der Wille zum Aufruhr, zum Widerstand gegen die schlimmen Verhältnisse nur ein paar Jahrzehnte nach der Französischen Revolution ist da, aber in der Dramaturgie der Texte, der drei Dramen und der einen Novelle, überwiegen überraschend deutlich Verzweiflung und Resignation.
Die Revolte in den Seilen
von Gerhard Preußer
Köln, 2. Februar 2018. Fäden, Garne, Seile – das Ausgangsmaterial der Weberei. Seile, quer über die breite Bühne gespannt in senkrechter Reihe wie ein vertikaler Webstuhl, eine durchsichtige Wand zwischen Publikum und Bühne, das ist das Ausgangsmaterial für Armin Petras’ Inszenierung von Hauptmanns "Die Weber" im Depot 1 des Kölner Schauspiels. So eindeutig die Fäden mit der Thematik des Stückes verbunden sind, so vieldeutig werden sie in der Inszenierung eingesetzt: als Trennwand zwischen Bürgertum und pauperisierten Webern, als Klettergerüst, als verstrickendes Sozialgewebe, als Leichentuch der geschlagenen Revolutionäre. Seile, Garne, Fäden – die Zentralmetapher (Bühnenbild: Olaf Altmann).
Wir hauen zusammen
von Sascha Westphal
Köln, 15. Dezember 2017. Der Anfang ist furios. Die Augen suchen nach Orientierung: Rechts ist ein Boxring, hinten ein großer Spiegel, vor dem eine Videokamera steht, links hat Anne Ehrlich einen Kasten hingestellt, der Wohnung und Krankenhauszimmer zugleich ist. Ein paar Fenster und ein Türdurchgang gestatten Blicke in sein Inneres, wo zwei Schaufensterpuppen dem Raum eine melancholisch-düstere Aura verleihen. Doch es bleibt einem gar nicht die Zeit, all diese Eindrücke zu einem größeren Bild zusammenzusetzen.
Heimat, die Kopfgeburt
von Dorothea Marcus
Köln, 9. Dezember 2017. Irgendwo an der türkisch-bulgarischen Grenze ist ein seltsames erschöpftes Grüpplein mit rot umrandeten Augen in einem stummen Tableau Vivant gestrandet. Vor einer Bretterwand mit blätterndem Putz und verblassenden Zeichnungen, die Uhr über dem verwaisten Beamtenschalter steht stets katastrophisch auf kurz vor sechs gestellt, sitzt der Syrer Hussein. 45 Jahre lang lebte er glücklich in Wien, um zum Sterben unbedingt zum Euphrat zurückkehren zu wollen – es geht schließlich nichts über die wahre Heimat. Aber was ist das überhaupt? Der syrische Arzt und Autor Ibrahim Amir lässt um diesen seltsamen, hochemotional besetzten und schwer missbräuchlichen Begriff seine neueste Komödie drehen.
Wer ist sie, und wenn ja, wieviele?
von Gerhard Preußer
Köln, 24. November 2017. Ein Quilt ist eine Steppdecke. Aber noch viel mehr. In Amerika ist es ein Erbstück. Ein "family quilt" ist eine aus Flicken zusammengenähte Decke, ein Symbol der Familienidentität, der Kontinuität über Generationen. Ein solcher alter Quilt ist das zentrale Symbol in der letzten Szene von Tracy Letts' Erfolgsstück "Mary Page Marlowe". Er ist empfindlich, fadenscheinig, fällt aber noch nicht auseinander, von rätselhafter Bedeutsamkeit, schön, trotz brauner Flecken.
Kälter als der Tod
von Martin Krumbholz
Köln, 14. Oktober 2017. Es geht gleich im Tanzclub los, im Berghain sozusagen – darauf verweist vielleicht die Bühne von Bettina Pommer, eine Zimmerflucht aus Plexiglas mit Drehtüren, an denen man sich wunderbar die Nasen anschlagen kann. Alle Figuren des Stücks tanzen zu lauter Technomusik allein vor sich hin, grotesk maskiert: "There is only the dance." Fest im Hause Capulet.
Zum Fjord der Freaks
von Tilman Strasser
Köln, 22. September 2017. Hier ist die Welt noch Scheibe. Na, zumindest die Bühne: Eine große, runde, schräge, drehbare, mit goldenen Kacheln belegte Fläche reicht "Peer Gynt" als Bühnenbild. Von der herab schwindelt Jörg Ratjen als Titelheld seine berühmte Mär vom halsbrecherischen Ritt auf dem Bock. Unten windet sich Marek Harloff als Mutter Aase in diesem Moment noch in Geburtsschmerz (ja, die Ereignisse überschlagen sich ein wenig), im nächsten schimpft sie ihren Sohn Peer als Phantast, der er ist, im übernächsten sorgt sie sich um ihn. Beide tragen Strickware und grässliche Frisuren, Aase ein blondes Lockenwicklerverbrechen, Peer Gynt einen noch blonderen Vokuhila. Diese Variante des "nordischen Faust" lässt schon zu Beginn keinen Zweifel daran, welchen Ton sie anschlagen möchte: einen schrillen.
Kein Entkommen
von Sascha Westphal
24. Mai 2017. Emily strahlt richtig. Wenn die angloamerikanische Künstlerin über die islamische Kunst des Mittelalters und der frühen Neuzeit spricht, kann sie kaum an sich halten: "Die Tradition der islamischen Fliesen. Öffnet das Tor zu einer ganz außergewöhnlichen Freiheit. Die man nur durch eine Art tiefer Unterwerfung erlangt." Während sie diese Sätze spricht, scheint Melanie Kretschmann regelrecht von Innen heraus zu glühen. In jedem Wort schwingt Emilys Ergriffenheit und ihre tiefe Überzeugung mit.
"Wir müssen reden!"
von Tilman Strasser
Köln, 13. Mai 2017. "Ich hab mit Ja gestimmt. Ich steh auch dazu", sagt Ayfer Şentürk Demir. Das Publikum raunt und wie bestellt knistert ein Regenschauer übers Dach. Die Mittvierzigerin sitzt mit fünf anderen Akteuren am Tisch, es gibt türkischen Tee und klare Worte. Vor dem von Recep Tayyip Erdoğan angestrengten Verfassungsreferendum sei sie unentschlossen gewesen. In der Wahlkabine habe sie aber auf ihr Bauchgefühl gehört: "Erdoğan ist schlagfertig und stark." Und: "Ich glaub' nicht, dass in der Türkei gefoltert wird. Vielleicht bin ich naiv, aber ich glaub' es nicht."
Explosion oder Implosion?
von Stefan Keim
Köln, 21. April 2017. Ein Haufen Mensch regt sich unter einem Tuch. Zwei Körper schälen sich heraus. Eine Mutter und ihr Kind. Djana und Gina. Djanas Streicheleinheiten gehen ins Sexuelle, sie will nicht Mutter genannt werden, das Kind soll ihren Vornamen sagen. Gina wird bei der Kölner Uraufführung von Magdalena Schrefels "Sprengkörperballade" von einem jungen Mann gespielt. Das irritiert zunächst, macht aber auch deutlich: Hier geht es nicht um realistische Psychodramen Einzelner. Sondern um eine Erkundung menschlicher Einsamkeit. Und vielleicht sogar hinterrücks um eine subtile Gesellschaftsbeschreibung.
Was hat Willy Loman eigentlich falsch gemacht?
von Dorothea Marcus
Köln, 11. März 2017. Wie ein schwarzes Loch – oder eine überdimensionierte Designerlampe – hängt ein gigantischer Quader über dem Esstisch des Willy Loman. Wasser sickert von außen ein, ein lockender Todesweiher. Nur unter dem Tisch scheint es zunächst trocken zu bleiben: das Irrationale dringt in ein bürgerliches Mittelstandsambiente ein, das im schwarzen Riesenraum der Fabrikhallenbühne des Depot 1 wie eine winzige beleuchtete Insel wirkt.
Burn-out Faust
von Friederike Felbeck
Köln, 10. Februar 2017. Vier große schwarze Vögel tragen einen Sarg auf die Bühne, begleitet von einem schrägen Trauermarsch. Aus der schlichten Holzkiste kippen die Engel eine dunkelhäutige weißbärtige Puppe im Kleidchen, die sich erst einmal mit einem Blick unter den Rock versichert, ob sie Männlein oder Weiblein ist. Eine Mafia-Beerdigung ist es, bei der es zum Streit zwischen den Erben des Padrone kommt, die auch auf Hebräisch und Arabisch parlieren können. Am Ende schwatzt der renitente Außenseiter dem Alten das Schicksal eines Erdenbewohners ab. Kaum zu glauben, um wen es da geht:
Stillgestanden im Gewimmel der Welt
von Andreas Wilink
Köln, 9. Dezember 2016. Die "Komödie" schmiert ab. Die Genre-Bezeichnung ist in verwischten Großbuchstaben – schwarz auf weiß – an die Wand gepinselt. Sie gehört zum beweglichen Modul eines Zimmers oder, richtiger, Kondensat eines Zimmers mit Heizkörper und Ventilator. Dann liegt da noch im Laufe des langen Abends auf der kahlen schwarzen Bühne im Depot 1 das Wurzelwerk eines Baums, steht da ein morsches, aus dem Lot gekipptes hässliches gelb-braunes Ledersofa, wirft eine Lichtlamellen-Konstruktion ihre schraffierten Schatten, macht eine PlayStation für zwei Musiker mobil, spendet ein Haufen Mutterboden den Segen der Erde.
Lottes Wahnsinn außer Rand und Band
von Andreas Wilink
Köln, 14. Oktober 2016. Der Student der Geisteswissenschaft (die Bezeichnung "der junge Mann" ist nicht erst seit diesem Bücherherbst anderweitig besetzt), modisch in Benetton-bunten Lambswool-Pullovern mit V-Ausschnitt, reiste nach Berlin, hospitierte im Germanistischen Seminar der FU, ging abends zur Schaubühne am Halleschen Ufer und brachte sich selbst den Schlüsselbegriff zu Gehör, der unter seinesgleichen Theater-Gehern auch in der westdeutschen Provinz als Code funktionierte, damals um 1980 herum: "Wahnsinn", zehnfach bis zum Irre-Werden intoniert von Edith Clever als Lotte Kotte, der Land- und Stadtstreicherin in Botho Strauß' "Groß und klein" – gebürtig aus Remscheid-Lennep, wohnhaft in Saarbrücken, selbstständige Grafikern, Mitte Dreißig, getrennt lebend.
Wir zahmen Haustiere
von Dorothea Marcus
Köln, 29. September 2016. Das nennt man wohl aktive Traumabewältigung: Trotz der in unbestimmte Zukunft verschobenen Neueröffnung des Kölner Schauspiels verfällt Intendant Stefan Bachmann ob des Baudesasters nicht in Depression, sondern hat nun einen Teil der Theaterdauerbaustelle in Betrieb genommen. Ironisch genug: Während das Schauspiel mindestens drei weitere Spielzeiten im rechtsrheinisch peripheren und als problematisch geltenden Köln-Mülheim Gentrifizierungsarbeit leistet, heißt das Theater im Stadtzentrum nun "Außenspielstätte".
Den Idioten spielen
von Martin Krumbholz
Köln, 23. September 2016. Welche sind eigentlich die "zwölf bis sechzehn Verse", von denen Hamlet sagt, dass er sie in den Sketch "Die Ermordung des Gonzago" bzw. in "Die Mausefalle" einfügen wolle? Man weiß es nicht; das Tolle und Unvergleichliche an "Hamlet" ist ja, dass dieses Stück auch nach 400 Jahren noch – produktive – Rätsel enthält. Und jede Aufführung ist nur eine Annäherung an diesen Rätsel-Komplex; an manchen Stellen kommt sie näher an eine Lösung, an anderen weniger nah. Ein "durch und durch theaterbesessenes Stück" hat der immer noch ungemein anregende Harold Bloom Shakespeares größtes Werk genannt, nicht nur, weil Hamlet selbst ein Theatraliker ist; schon deshalb will jeder Theatermensch von einigem Ehrgeiz es machen, jede Theatergängerin es immer wieder sehen.
Das Wohl der Allgemeinheit verkaufen
von Ulrike Gondorf
Köln, 20. Mai 2016. "Ein Volksfeind"? Oder heißt das Stück diesmal "Ein Volksfest?" Wenn das Publikum in den Zuschauerraum kommt, machen die Schauspieler schon Party. Sie schütteln Hände am Eingang, verteilen gegrillte Würstchen, winken johlend in den Saal und offerieren Bier. "Wir bringen Ihnen das dann gern". Die Band spielt, ein paar bunte Glühbirnchen zaubern eine ziemlich klägliche "Italienische Nacht". Die Schauspieler zerren Leute, die unvorsichtigerweise vorne sitzen, zu einem Tänzchen auf die Bühne. Regisseur Roger Vontobel schwingt den Holzhammer zu Beginn seiner Inszenierung von Ibsens "Volksfeind", damit auch jeder sieht, wie verlogen, falsch und selbstzufrieden diese Gesellschaft ist. Aber wenn das Fremdschämen erst mal überstanden ist, fängt eine ziemlich spannende Geschichte an.
Marshall McLuhan fliegt durchs Darknet
von Martin Krumbholz
Köln, 29. April 2016. Angenommen, vieles von dem, was die Performerin Angela Richter an diesem Abend in Köln-Mülheim erzählt und von ihren fünf Schauspielern erzählen lässt, wäre mehr oder weniger erfunden: Würde man es für glaubwürdig halten? Nun hat sich Richter, die sonst mit charismatischen Künstlerpersönlichkeiten wie Martin Kippenberger befasst ist, auf das digitale Universum und auf dessen Potenzen und Aporien eingelassen. Ihre wichtigsten Kronzeugen sind Julian Assange und Edward Snowden, den die Künstlerin vor einem Monat in Moskau getroffen und interviewt hat.
Der Aufstand hat sich verpuppt
von Sascha Westphal
Köln, 1. April 2016. Erst einmal versammeln sich fast alle um das ganz links am Rand stehende Klavier. Philipp Pleßmann stimmt ein paar Töne an, und man singt gemeinsam das "Ave Maria". Die Botschaft ist deutlich. Diese Gesellschaft, die gleich den neunten Geburtstag von Victor Paumelle feiern wird, steht fest auf dem Boden christlich-europäischer Traditionen. Man bezieht Stellung und schottet sich ab. Nur das Geburtstagskind ist nicht mit dabei. Victor hat seine eigenen Vorstellungen, und die sind alles andere als bürgerlich und erst recht nicht christlich. Nachdem er durch eine der drei riesigen beweglichen roten Türen, deren Klinken auf etwa zwei Meter Höhe angebracht sind, die leicht erhöhte rechteckige Bühne betreten hat, treibt er seine Scherze mit dem Gebet: "Und gebenedeit ist die Frucht deines Unterleibes."
Wir müssen reden
von Tilman Strasser
Köln, 27. Februar 2016. "Und deshalb sollten wir jetzt mal alle darüber nachdenken, was in den letzten 50 Jahren passiert ist", sagt Kutlu Yurtseven. Und das tun dann auch alle: dasitzen, nachdenken, schweigen. Schweigen. Schweigen. Irgendwann schleicht eine alte Dame aus der ersten Reihe in Richtung Toilette, gebückt, als trüge sie alle theologischen Diskurse auf ihren Schultern. Irgendwann klatschen ein paar Leute probeweise, hören aber bald wieder auf. Erneut: Schweigen. Und endlich: Licht aus.
Wo die wilden Kerle campen
von Dorothea Marcus
Köln, 2. Februar 2016. Dass seit sieben Jahren Krieg herrscht, merkt man höchstens an den schlichten Wartebänken, auf denen der Hofstaat von Troja seine schmutzigen Intrigen schmiedet. Ansonsten geht es hier äußerlich gesittet und gut gekleidet zu: Nikolaus Bendas Troilus ist ein aufrechter Jüngling in Bäckerhose, der als einziger noch an etwas glaubt – sympathisch, würde er es nicht immer so extremistisch übertreiben. Die ewig düster zeternde Cassandra (Yvon Jansen) trägt ein griechisch gerafftes Traumkleid aus grau und rot. Äneas ist ein ganz smarter Krieger im geleckten Anzug, Cressida leuchtet in sexy wallendem Weiß. In schwarzem Rüschenhemd und barocker Anmutung schmeichelt sich Kuppler Pandarus durch, den Bruno Cathomas als schmierigen, sensationsheischenden Onkel gibt und ganz in seinem komödiantischen Element ist. Und selbst der Held Hektor, der ja immer wieder aufs Schlachtfeld muss, trägt sauber verflochtene Langhaarfrisur.
Am offenen Familiengrab
von Sascha Westphal
Köln, 23. Januar 2016. Liv, die Jüngste, hat sich noch einmal durchgesetzt. Es ist zwar mitten in der Nacht, trotzdem haben sich alle versammelt, um die Super-8-Filme zu gucken, die ihr Vater Jørgen Dragsholm einst gedreht hat. Die Vorführung ist Teil von Livs großem Erinnerungsprojekt, mit dem sie ihrer vor 16 Jahren nach einem Motorradunfall verstorbenen Halbschwester Alma gedenken will.
Die Pointenschlepper
von Martin Krumbholz
Köln, 11. Dezember 2015. "David Schalko ist in Österreich weltberühmt." Das ist ein guter Satz, ein sehr guter Satz (er steht im Programmheft für "Kimberly"). Schalko ist in Österreich dafür weltberühmt, dass er das Fernsehen revolutioniert und verbessert hat, zum Beispiel mit der Serie Braunschlag und mit Talkshows.
Im Miniaturenkarussell
von Dorothea Marcus
Köln, 12. November 2015. Über der dunklen, breiten Halle leuchtet rot und riesig die digitale Zahlenanzeige und zählt manchmal die Szenen mit. Denn der kryptische Titel "3.31.93" ist, wie so oft bei Lars Norén, ein schlichtes Ordnungsprinzip: in drei Teilen à 31 Szenen blitzen hier insgesamt 93 Situationen in Schlaglichtern auf, als könne man mit numerischer Kontrolle dem Weltchaos begegnen. Ein Kaleidoskop mitteleuropäischer Großstadtschicksale, an einem beliebigen Ort, in dem sich Zeitebenen, Gesellschaftsschichten und Erzählstränge verwirren und in Fragmente zerfallen – wie man das in einer Großstadt eben erlebt: Parallelwelten, die im Kosmos der Gleichzeitigkeit vorbeisausen.
Sanfte Sektierer unterm Elektroschocker
von Gerhard Preußer
Köln, 7. November 2015. Nach Syrien, nicht von Syrien. Also Dschihadismus, nicht Flüchtlingsbewegung – das Aufreger-Thema des letzten Sommers ist inzwischen etwas in Vergessenheit geraten. Ibrahim Amirs Auftragswerk für das Kölner Schauspiel "Stirb, bevor du stirbst" greift auf dieses Thema zurück und damit mitten hinein in das Zukunftsthema: Deutschland und seine Muslime.
Das Durchdrehen der Schraube
von Andreas Wilink
Köln, 31. Oktober 2015. Walter Benjamin prägte den Begriff der "möblierten Psyche", wonach der Mensch an seiner Wohnstube und deren Interieur zu erkennen sei. Er bezog ihn auf Wien, wo er nicht nur in der Berggasse 19 zuhause ist. Als Stefan Bachmann 2010 die "Geschichten aus dem Wiener Wald" für die Burg von Matthias Hartmann inszenierte und eigenem Bekunden nach daran gescheitert sei, glich die Bühne im Akademietheater einem Möbellager: eine beschränkte Welt der Schrankwände.
Entglitscht
von Tilman Strasser
Köln, 29. Mai 2015. Da ist endlich der Nazi: Wenn Miguel Abrantes Ostrowski in der Rolle des Beamten Geissler einmal mehr aufmarschiert, um seine neuesten Pläne für die Kupfergruben kund zu tun, tut er's in Mantel, Mütze, Handschuhen, Stiefeln – nur die Hakenkreuzbinde fehlt noch zur kompletten schwarzen Gestapo-Uniform. Knut Hamsun, Autor der Romanvorlage "Segen der Erde", war ein Bewunderer Hitlers. Könnte ein Grund sein, warum selbst sein Opus magnum nur zögerlich adaptiert wird (Wikipedia weiß von genau einer anderen Bühnenumsetzung, von Sebastian Hartmann), und wenn, muss die schreckliche Verfehlung des Schöpfers mindestens einen Auftritt bekommen.
Postmodernes Nordkorea
von Tilman Strasser
Köln, 28. Mai 2015. Stichprobe in der Straßenbahn: Ein Pärchen googelt den nächsten Lieferservice, zwei Sportstudenten ertindern den nächsten One-Night-Stand, ein Mädchen wischt sich durch Instagram. Von zehn Fahrgästen haben acht die Nase ins Smartphone gesenkt und füttern das Netz mit Daten (was ja nicht mal beim Lesen dieses Textes zu vermeiden ist). Die Macher von "Supernerds" haben sich reichlich Mühe gegeben, Paranoia im Vorfeld keimen zu lassen – nicht von allen Premierengästen goutiert. Schon der Weg zum Schauspiel Köln könnte auch Teil der Inszenierung sein.
Fahrstuhl in die Hölle
von Dorothea Marcus
Köln, 12. April 2015. "Via Mala", schlechter Weg, prangt in Gothic-Kitschlettern über dem grandiosen zweistöckigen Endzeit-Bürokomplex von Thilo Reuther, der Profanes, Pathetisches und Politisches perfekt abmischt. Aber gibt es überhaupt schlechte Wege auf diesem Selbstfindungstrip eines Dichters, als den Regisseur Sebastian Baumgarten Dantes "Göttliche Komödie" anlegt? Auf einem Plakat kreuzen sich zwei Maschinengewehre vor arabischer Schrift, ein Autowrack mit Kreuzritter-Abzeichen steht davor, daneben ein Kasten mit Schnee, der langsam vor sich hin schmilzt. Die Fenster sind entweder geheimnisvoll verschlossen oder es schwimmen bedrohlich-bedrängt fette Video-Haie dahinter.
Raus aus der sicheren Gefangenschaft
von Sascha Westphal
Köln, 28. März 2015. Die von den einen gepriesene und den anderen gehasste Erste Welt ist kaum mehr als eine einzige Krankenstation. Statt Saturn frisst nun das System seine Kinder. Allerdings spuckt es sie auch wieder aus. Als lethargische Arbeitszombies, die ständig übermüdet und überfordert sind, dürfen sie weiter Gewinne akkumulieren, von denen sie selbst nichts haben. Also liegen Lena Geyer, Justus Mayer, Henriette Nagel, Nicolas Streit und Lou Strenger zunächst reglos in einfachen Krankenhausbetten und warten darauf, dass sie zur Arbeit gerufen werden. Ist es so weit, verrichten sie mechanisch die immer gleichen Bewegungen, nur um schließlich wieder erschöpft in ihre Betten zurückzusinken.
Tanz um die heiße Puppe
von Martin Krumbholz
Köln, 14. März 2015. Was für eine versunkene Welt! Im schlesischen Riesengebirge, im Dunstkreis der alten Glashütte, sitzt man abends zum Umtrunk in der Spelunke zusammen, der Glashüttendirektor, auch wenn er sich langweilt, solange Pippa nicht tanzt, mittenmang dabei. Der Wirt: ein zynisches buckliges Monstrum. Die Gastarbeiter, die hier vor Jahrhunderten nach Gold und Erz geschürft haben, nennt man "die Venediger". Einer von ihnen ist der Glastechniker Taglazioni, der beim Falschspiel erwischt und erstochen wird. Pippa ist seine minderjährige Tochter. Es ist bitter kalt. Wenn der grobschlächtig-zottelige Huhn, ein entlassener Glasbläser, stampfend in die Kneipe eintritt, schüttelt er mächtig viel Schnee von seinem Pelz. Huhn steht in Hauptmanns Glashüttenmärchen aus dem Jahr 1905 für die rohe animalische Kraft. Die tanzende Pippa für Grazie und Schönheit.
In der Ohrmuschel des Heute
von Friederike Felbeck
Köln, 8. März 2015. Auf dem Gelände des Carlswerks, des früheren Kabelwerkes Felten & Guillaume, das vom Schauspiel Köln während der umfassenden Sanierungsmaßnahmen als Interimsspielstätte genutzt wird, haben Mitarbeiter des Theaters einen Garten angelegt: In Kabelkisten und -trommeln wurde – natürlich biologische – Muttererde gefüllt, und nun ragen Setzlinge und Kräuter empor. Unter einem begehbaren grünen Hügel ist die Flanke eines Containers zu sehen. Es ist der Eingang zur kleinsten Spielstätte des Schauspiels Köln, ein Spalier von mehreren in den Erdhügel eingefassten Containern, in die nun ein wie dafür geschaffener Heiner Müller-Doppelabend eingezogen ist. Das Minidrama "Herzstück" paart sich mit dem Revolutionsstück "Mauser" und erzählt paradigmatisch vom Leben und Sterben des typischen Revolutionärs.
Ach Wolfram!
von Dirk Pilz
Köln, 6. Februar 2015. Und dann Auftritt der Fellfrau. An ihrem Gürtel klappert Blechgeschmeide, das Haar ist wirr, die Augen sind zornesscharf. Stampft umher, brüllt, schimpft. Rennt raus, holt ein Schild, lässt es von Bühnenarbeitern herumschleppen: "Die Tafelrunde ist zerstört." Will dann vom Publikum, dass es mitbrüllt, was dieses nicht tut und also beschimpft wird: "Ihr steht doch so auf Mitmachtheater, hat mir Karin Beier erzählt." Lachen, die Leute haben ihre Ex-Intendantin nicht vergessen. "Na macht schon!" Nichts.
Aus dem Renaissance-Zirkus in die Stephen-King-Arena
von Stefan Schmidt
Köln, 12. Dezember 2014. Ja, sie ist etwas angestaubt, diese Komödie von Molière aus dem 17. Jahrhundert. Auch wenn sie nach wie vor gerne mal auf die deutschsprachigen Spielpläne gehievt wird, sei es zur allgemeinen Volksbelustigung oder zur gutmenschlichen Erbauung angesichts der Verlogenheit der Welt. Und so ist es nur konsequent, dass es in dieser Kölner Inszenierung vom "Menschenfeind" ab und zu von der Decke rieselt auf Mobiliar und Personal. Das kann passieren, wenn man so wenig zimperlich mit dergleichen Antiquitäten umgeht wie Regisseur Moritz Sostmann. Am Ende dieses Abends liegt der ganze Altbau in Trümmern, und nur ein paar dummen Augusten ist das blöde Lachen noch nicht vergangen.
Monster am Klavier
von Dorothea Marcus
Köln, 6. November 2014. Und wieder eine "Hedda Gabler". Schon im letzten Jahr erreichte sie in Deutschland, insbesondere NRW, eine überwältigende Bühnenpräsidenz. Aber vermutlich ist die Krankheit, an der Ibsens Hedda leidet, eine, die sich epidemieartig im modernen Menschen ausbreitet: die narzisstische Persönlichkeitsstörung.
Die Hassbürger greifen an
von Sascha Westphal
Köln, 18. Oktober 2014. Da sind sie, diese Sätze, die jeder nur zu gut kennt. Sei es nun aus Gesprächen im Büro und der Kneipe, oder – und dort fallen sie mit schauriger Regelmäßigkeit – aus den Kommentarspalten im Internet. Sätze wie: "Ich bin ein verdammt normaler Bürger, und ich habe nie ein Vorurteil gehabt. Aber ich habe doch Augen im Kopf." Oder drastischer: "Man muss die Frage stellen dürfen, ob Schwule und Lesben überhaupt Öffnungen haben, die diese Bezeichnung verdienen. Und ob sie das Recht haben, ihre Perversionen an unsere Kinder weiterzugeben." Oder auch: "Wir verstehen, dass ein paar Juden und Russen immer mehr Geld haben und wir sind egal."
Nackte Seelen mit eigentümlichen Ergüssen
von Martin Krumbholz
Köln, 17. Oktober 2014. Theaterdramaturgien geben gelegentlich Rätsel auf. Dass Kleists "Käthchen von Heilbronn" sich häufiger auf den Spielplänen findet als etwa der "Prinz Friedrich von Homburg" – doch das bei weitem brisantere Stück – und fast so häufig wie der unverwüstliche "Zerbrochne Krug", ist eines dieser dramaturgischen Rätsel. Aber schließlich geht es um einen akuten Fall von Liebe – die Liebe von Regisseuren zu einem Stück –, und die lässt sich meistens nicht recht erklären. Leider ist es so, dass Kleists großes historisches Ritterschauspiel diese Liebe partout nicht erwidert; es wird unterschätzt wie eine launische Geliebte.
Die V-Effekt-Verdopplung
von Andreas Wilink
Köln, 5. September 2014. Eine innere Disposition lässt den Puritaner seine Lasten lieb gewinnen: "One grows fond of one's burdens" heißt es in George Santayanas philosophischem Bildungsroman "Der letzte Puritaner". Man trägt sie mit stolzer Demut, wissend, das Schlimmste getan und doch keinen Schaden an seiner Seele genommen zu haben. Die Bewohner von "Dogville" leben in einer Enklave pervertierten Gemeinschaftssinnes, die den Puritanismus made in Salem/Massachusetts radikal zu Ende gedacht hat und die Lebensform des amerikanischen Provinzialismus höhnisch nachstellt.
Blicke über den Abgrund
von Sascha Westphal
Köln, 7. Juni 2014. Da sitzen sie nun in ihren halben weißen Kästen, die vielleicht einmal ein Raum, eine Bühne waren und es vielleicht auch wieder werden könnten. Aber erst einmal trennt sie ein Graben, in dessen Mitte vorne eine Straßenlaterne steht. Das ist die Lücke, der Riss, der durch dieses von Bühnenbildnerin Anne Ehrlich geschaffene Welt-Bild geht. Auf der einen, der linken Seite sitzen die Schauspieler, Simon Kirsch, Thomas Müller und Annika Schilling, auf der anderen die Laien aus der Keupstraße, Ismet Büyük, Ayfer Sentürk Demir und Kutlu Yurtseven. Blicke werden ausgetauscht.
Große Klappe, Mord dahinter
von Martin Krumbholz
Köln, 9. Mai 2014. An sich hätte der Alte die Sache auch selbst in die Hand nehmen können. Wie er da auf dem Sofa hockt, in seinem schrecklichen kurzärmeligen Freizeithemd, und den "Herrn des Hauses" markiert, der Proll-Spießer schlechthin (Guido Lambrecht spielt ihn). Da traut man ihm beinahe auch zu, dass er aufsteht, die auf dem Tisch liegende Knarre nimmt und der eigenen Tochter eine Kugel ins Hirn jagt.
Was liest du beim Friseur?
von Stefan Keim
Köln, 16. April 2013. Michael Jackson will schon wieder eine Schönheitsoperation. Sein Hautarzt legt ihn auf den OP-Tisch, betäubt ihn, macht nichts und weckt ihn wieder auf. Jackson ist glücklich und lobt seinen Arzt. Es gibt einige hübsche Anekdoten in dem Dokufictiontheaterabend "Brain and Beauty".
Ans Kreuz genagelter Maler
von Martin Krumbholz
Köln, 4. April 2014. Wenn ein Kinoregisseur einen dreistündigen Film macht, hat das in der Regel Gründe. Als Andrej Tarkowskij in den sechziger Jahren in der Sowjetunion "Andrej Rubljow" drehte und aus Zensurgründen zwei unterschiedlich lange Fassungen herstellte, hatte er eine gewaltige Geschichte erzählt. Die Geschichte eines um 1400 lebenden Malers und Mönchs, der in eine tiefe Glaubens- und Schaffenskrise stürzt, das Malen – und das Sprechen – aufgibt, schließlich aber, veranlasst durch das Erlebnis des Gießens einer Glocke, zum Glauben zurückfindet. Der große russische Regisseur, der gestern 82 Jahre alt geworden wäre (er starb 1986), hatte einen großartigen Film geschaffen: eine Parabel auf die Aporien des Künstlers auch in der Gegenwart der UdSSR. Das Eingreifen der Zensur zeigt, dass es funktioniert hat – ohne dass das Werk sich je in der Provokation erschöpft hätte.
Lackel und Charakterschweine
von Andreas Wilink
Köln, 21. Februar 2014. Eingefasst von zwei Sonetten, Nummer 147 und 106, wäre als Tonart des Abends zu erwarten gewesen: Shakespeare in Moll. Aber Antonio, ihr Sänger, kann sich gegen das allgemeine Dur nicht durchsetzen – gegen die jungen Leuten und Liebespaare nicht, und auch nicht gegen den Regisseur. Belmont macht Bachmann mehr Spaß, als der Rialto Kummer. Die Frohnatur will kein Spielverderber sein. Darin kommt er dem traurigen Antonio nahe. Die Liebeskomödie, begleitet von einer Combo mit Klavier, Marimba, Geige und Schlagwerk, übertönt das doppelte Außenseiter-Drama, und animiert mit allerlei Schlagergesang und klampfendem Geplärre zu der einstmals aus dem ZDF bekannten Frage: "Erkennen Sie die Melodie"?
Sehnsucht nach Leben
von Stefan Keim
Köln, 31. Januar 2014. Wer ist noch mal wer? Gleich zu Beginn von Mario Salazars neuem Stück "Die Welt mein Herz" erfahren wir die Vorgeschichten von vier verschiedenen Handlungssträngen. Als ob wir in eine Fernsehserie geraten wären, die schon ein paar Wochen läuft. Doch die Irritation vergeht. Denn schnell entwickeln die Szenen um Welt-, Lebens- und Sinnsucher zwischen New York, Berlin, Buenos Aires und Stendal-Süd ihren Sog.
Am Ende kommen die Ratten
von Friederike Felbeck
Köln, 17. Januar 2014. Die Ersatzstimme des alten Mannes klingt, als käme sie aus Hitlers Grab. Der "älteste Mann Europas" mit Schnauzbart und Baskenmütze, das Mikrofon fest an seinen Kehlkopf gedrückt, schickt dem Abend sein Motto vorweg: "Wir haben die Vision von Europa nicht genährt, um uns in den Himmel zu bringen, sondern um uns vor der Hölle zu bewahren."
Rebell ohne Sinn und Verstand
von Sascha Westphal
Köln, 10. Januar 2014. Als Luise durch die Intrige des Sekretärs Wurm ihre Unschuld für immer verloren hat und die letzte, tragische Begegnung mit ihrer großen Liebe Ferdinand ansteht, findet Simon Solbergs wild stürmendes und zwanghaft drängendes Schiller-Spektakel "Kabale und Liebe" endlich ganz zu sich selbst. Auf den Kartonwänden, die sich im Hintergrund der Kölner Breitwandbühne erheben, erscheinen Projektionen von Titelseiten deutscher und amerikanischer Klatschmagazine. Die geschmacklosen Fotos, die grellen Farben und die großen Lettern sind in diesem Moment nicht nur Merkmale einer Industrie, die schamlos der Sensationsgier und der Schadenfreude der Menschen huldigt. Sie verweisen zugleich auf Solbergs Stil und seine Ästhetik, die geradeso grell und aggressiv sind.
Kleiner Mann ganz groß
von Martin Krumbholz
Köln, 6. Dezember 2013. Was für eine schöne Pointe, dass der Sturzflug des jungen Deutschen Karl Rossmann durch Amerika ausgerechnet an einem Theater endet, am Naturtheater von Oklahoma – mit Beschäftigungsgarantie für alle! "Wir sind das Theater, das jeden brauchen kann", heißt es, "Welcome! Bienvenue!" Das lässt man sich nicht zweimal sagen. Wie es nun wohl weitergeht? Kafka hat seinen Roman ja nicht zu Ende geschrieben, diese vielleicht vollständigste und radikalste Dekonstruktion des "american way of life", die es in der Literatur gibt – aus der Feder eines, der nie dort war.
Glutkern vertändelt
von Martin Krumbholz
Köln, 22. November 2013. Wie alle echten Kerle mag der assyrische Feldherr Holofernes alle Weiber gern, ausgenommen: seine Mutter. Denn die dünkt ihm wie ein "Spiegel seiner Ohnmacht von gestern oder morgen." Dies ist eine der Preziosen in der aufschäumenden Rhetorik des jungen Friedrich Hebbel, der in seinem ersten Drama von 1840 nicht eben lakonisch nacherzählt, was sich in der Malerei so viel bündiger (und doch scheint's ebenso erschöpfend) darstellen lässt: Wie das schöne Weib Judith dem Grausamen nach einer Liebesnacht den Kopf abhackt, ihn einpackt und den Ihrigen daheim als Trophäe präsentiert.
All-Gemeinheit überall
von Sascha Westphal
Köln, 12. Oktober 2013. Die riesige, gut dreißig Meter breite Bühne im Depot 1, der größeren Interimsspielstätte des Schauspiel Köln auf dem Gelände des ehemaligen Carlswerks, hat ihre eigenen Gesetze. Sie will mit jeder Produktion von neuem erobert werden. Für seine erste eigene Inszenierung an seiner neuen Wirkungsstätte, eine Bühnenadaption von Ayn Rands 1957 erschienenem Roman "Atlas Shrugged", in der deutschen Neuübersetzung von 2012 "Der Streik", hat sich Intendant Stefan Bachmann auf jeden Fall für den Gestus des unerschrockenen Eroberers entschieden.
Jeden Tag ein Ohr abschneiden
von Martin Krumbholz
Köln, 11. Oktober 2013. Den Künstler Martin Kippenberger, 1953 in Dortmund geboren, 1997 in Wien gestorben, begreift man in Köln als eine Art Lokalmatador, weil K. in den Achtzigern hier vorübergehend zu Hause war und die damals sehr lebendige Kölner Kunstszene mit seinen Aktionen und Auftritten aufmischte. Tatsächlich war K. nirgendwo zu Hause, weder topographisch noch künstlerisch. Man kann ihn zu den neuen Wilden rechnen, aber die Malerei machte nur den kleineren Teil seiner Aktivitäten aus. In der Hauptsache inszenierte K. sich selbst und seinen Ruhm, der ironischerweise erst nach dem Tod des Künstlers – und dann rapide zunehmend – Gestalt annahm.
Doppelgänger mit Klimperaugen
von Stefan Schmidt
Köln, 28. September 2013. Was passt Brechts "Guter Mensch von Sezuan" doch perfekt zur Interimsbühne, die das Schauspiel Köln an diesem Wochenende eingeweiht hat. Das alte Haus, der Innenstadtbau aus den fünfziger Jahren, muss generalüberholt werden. Und so tritt der neue Intendant Stefan Bachmann die Nachfolge der gefeierten Karin Beier im Carlswerk an, einer stillgelegten Kabel- und Drahtfabrik. Zwar werden auf dem Gelände schon seit einiger Zeit Unterhaltungsromane verwaltet und Privatfernsehformate entwickelt, aber trotzdem umweht den Ort noch die Aura des Industriekapitalismus, den Brecht mit seiner epischen Klage vom guten Menschen in einer chinesischen Provinz anprangert.
Rolle rückwärts zu Eisenstein
von Andreas Wilink
Köln, 25. Mai 2013. "Mann der Arbeit, aufgewacht! Und erkenne deine Macht! Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will." Lautet die zehnte von zwölf Strophen im Bundeslied für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein. Hier nun, in der Expo-Halle des Schauspiels Köln, rollen die Räder unaufhörlich. Sausend durch die Geschichte. Das Ensemble hat sich Rollschuhe untergeschnallt. Geschwind bringt sich damit die Bourgeoisie von einem Zustand in einen anderen. Dynamik wird suggeriert. Fortschritt, zumindest, was das Tempo der Füße angeht. Geraten Verhältnisse in Bewegung? Voran in eine bessere Welt? Oder nur solipsistisch im Kreis herum? Zurück in die Zukunft? Oder richtungslos in den Spielraum launiger Regie-Unverbindlichkeit?
Das große Leid der kleinen Leute
von Guido Rademachers
Köln, 5. April 2013. Orange ist das aktionistische Großmaul unter den Farben. Es verspricht das Glück des Augenblicks. In seiner "Farbenlehre" notierte Goethe: "Das angenehme heitre Gefühl, das uns das Rotgelbe noch gewährt, steigert sich bis zum unerträglich Gewaltsamen im hohen Gelbroten. Die aktive Seite ist hier in ihrer höchsten Energie." Die 1970er Jahre sind das Jahrzehnt des Orangen. Man könnte auch sagen: der aggressiven Schönfärberei.
Mundtot am Boden
von Sarah Heppekausen
Köln, 7. März 2013. Stille. Das ist nicht unbedingt ein Anfang, der sich für ein sogenanntes "Stück für Musik" erwarten lässt. Für ein Stück, in dem der erste Satz "Otto, trag den Tisch hinaus" buchstäblich nach Bewegung ruft. Für das Stück eines Autors, der seinen Figuren kaum Innerlichkeit, sondern vor allem eine Stimme zur Verlautbarung zuschreibt.
Die Welt hat Tinnitus
von Sarah Heppekausen
Köln, 14. Februar 2013. Irgendwann hört man auf, den Bedeutungen der Wörter und Sätze nachzugehen, irgendwann hört man nur noch zu. Eigentlich sind es auch kaum Sätze, die PeterLicht für das Schauspiel Köln geschrieben hat. Es sind Verse einer lyrischen Litanei und Dialogfetzen, die eine mögliche Antwort eines möglichen Gegenübers gar nicht erst abwarten. "Das Sausen der Welt" hat der Kölner Liedermacher seinen Theatertext genannt. Auf der Bühne breitet ihn die Regie als Klangteppich aus, abgeklopft auf Schall und Rhythmus.
Vereint im Leid und der Musik
von Martin Krumbholz
Köln, 19. Januar 2013. Vielleicht sollte man doch öfter Dramatiker (wenn sie Schauspieler sind) in ihren Stücken auftreten lassen. In diesem Fall ist die Personalunion perfekt: Wie Sasha Rau da auf ihren Storchenbeinen dicht an der leeren weißen Wand steht, an ihr lauscht, als könnte die Wand doch noch irgendein Geheimnis dieses frappierend geheimnislosen Hauses preisgeben; wie sie die Wand mit dem Finger abtastet und wie sie dann so innig und scheinbar entrückt von einem Schwimmbad und von irgendwelchen Tauben erzählt – das ist so berührend und anziehend wie selten eine Szene auf dem Theater. Nichts gegen den Schauspieler Josef Ostendorf – allein die Geste, mit der er den Steg seiner Brille hochschiebt, ist ja unwiderstehlich –, aber ähnlich überzeugend hat er seinen Eingangsmonolog, in dem er sich als das Kind Egon Richter vorstellt, denn doch nicht hingekriegt; seltsam fahrig und gelangweilt hat sich das ausgenommen, sodass man schon dachte: Oh je, ein Monolog-Abend.
Von innen gewachsen
von Regine Müller
Köln, 11. Januar 2013. Der Kreis schließt sich: Vieles erinnert in Karin Beiers Inszenierung von Jean-Paul Sartres Adaption der "Troerinnen" von Euripides an ihre grandiose Regie von Grillparzers Das goldene Vlies, mit der sie vor fünf Jahren ihre furiose erste Spielzeit als Intendantin und maßgebliche Regisseurin am Kölner Schauspielhaus souverän krönte.
Macker, ahoi!
von Sarah Heppekausen
Köln, 2. Dezember 2012. Unterm Caravan wabert der Nebel hervor, ein Kauz ruft, rauschender Gewitterregen ist zu hören. Düstere Stimmung als Einstieg ins Williams'sche Depressions-Drama. Passt ja. Aber das Gruselszenario ist nur von sekundenkurzer Dauer. Schon dreht sich eine angestrahlte Diskokugel für die Musical-Party unter dem Motto: "In the navy". Leadsänger ist Tom Wingfield im sexy Matrosenanzug, sein Backgroundchor fährt im Boot auf die Bühne und winkt fröhlich mit Stars-and-Stripes-Fähnchen. Der depressiven Phase folgt die manische.
Der Ausweg ins Kunstfertige
von Andreas Wilink
Köln, 20. Oktober 2012. Der Fundus lebt. Das Theater bedient sich aus ihm. Einkleidung der Komödianten, Schreckgespenster und Schattengewächse. Masken, um sich die Wirklichkeit vom Leibe zu halten, die zu Zeiten auf der Bühne Naturalismus hieß und deren deutscher Heros Gerhart Hauptmann war, der große Neinsager im wilhelminischen Kaiserreich. Hinweg mit allem Realismus. Und wenn Berliner Milieu, dann sprachlich so breit betont, dass es schon wieder künstlich wirkt. Und dabei brutal hingespuckt.
Im Kunstmaschinenraum
von Guido Rademachers
Köln, 13. Oktober 2012. Oben das Video, unten das Making-of. Oben auf der Leinwand fährt ein Zug ab, darunter fährt die Kamera an einem detailgenau rekonstruierten 1980er-Jahre-Schlafwagenabteil der Österreichischen Bundesbahnen vorbei. Oben wehen die Haare im Fahrtwind, unten bläst ein Ventilator. Oben nimmt ein Paar im Abteil Platz, unten klappt die Zugwand hoch, und ein Team mit Handkameras setzt sich hinzu. Oben blickt eine verhärmt aussehende, schwer atmende Frau aus regennassem Zugfenster, unten steht Julia Wieninger hinter der Scheibe, während im Abteil nebenan Ruth Marie Kröger emotionslos Off-Text ins Standmikro spricht: "Im Grunde habe ich alles falsch gemacht."
Landschaftliche Spannungen
von Dina Netz
Köln, 11. Mai 2012. Vom Geburtshaus des Schriftsteller Edward FitzGerald im ostenglischen Boulge kommt W.G. Sebald in nur einem Satz zu einem irischen Landsitz, auf dem die Familie Ashbury ein "bizarres Leben" führt. Die Verbindung ist der Garten der Familie FitzGerald, der ihn an den in Irland erinnert hat. So geht das ständig in W.G. Sebalds "Die Ringe des Saturn": Er flitzt wie ein Wiesel durch seine Assoziationen, und über die Gelenkigkeit seines Geistes, sein ungeheures Wissen und den Glanz seiner Beschreibungen kann man nur staunen.
Das Blutbild der Morgenröte
von Andreas Wilink
Köln, 22. April 2012. Holbeins Toter Christus scheint mit einem Finger seiner knochigen Hand auf den – gleich seinem eigenen – hingestreckten Körper unter sich zu weisen: Hier ruht die erstochene Nastassja Filippowna, an deren Leichnam Fürst Myschkin und, als sein düsterer Wahlbruder, ihr Mörder Rogoschin in trautem Beieinander sitzen. Im Kölner Schauspielhaus beginnt Karin Henkel ihre Bearbeitung des Dostojewski-Romans vom Ende her.
Zusammbruch unter der Zumutung des Lebens
von Dina Netz
Köln, 5. April 2012. "Er sieht still aus, Lisa, aber du müsstest mal sehen, wie viele Leichen da unten versteckt sind." Das sagt der Vater einer der Figuren aus Simon Stephens' Stück "Wastwater" über den gleichnamigen See im Norden Englands. Es ist der tiefste See des Landes, und er ist außerdem von Geröll verdeckt. Der Wastwater-See ist die Metapher für das Dunkle, Unausgesprochene, das – wie die Leichen – vielleicht doch eines Tages an die Oberfläche kommen wird.
Ihr seid schuld!
von Dina Netz
Köln, 16. März 2012. Die Bühne von Thomas Dreissigacker sieht mit ihrer runden Drehscheibe in der Mitte und den schweren Lederdrehstühlen im Vordergrund ein bisschen aus wie das Cockpit eines Raumschiffs. Nicolas Stemann, Thomas Kürstner und Sebastian Vogel, die sich in diese Stühle fallen lassen, übernehmen das Ruder für den Abend: Der Regisseur ist Moderator oder Conférencier, die Musiker liefern den Soundtrack.
Hände hoch
von Andreas Wilink
Köln, 28. Januar 2012. Es ist eine Welt, "wie nur ein Dichter davon träumen mag". Man weiß nicht, wie einem geschieht, gleich dem Prinzen von Homburg: "Träum' ich? Wach' ich? Leb' ich? Bin ich bei Sinnen?" Auch das St. Jago de Chile ist ein solcher Traum-Ort. Alles Tatsächliche, und davon gibt es einiges, Fürchterliches und ein wenig Himmlisches begreift der Autor als poetisches Material.
In der Vollrausch-Show
von Guido Rademachers
Köln, 27. Januar 2012. Vorne an der Rampe rollen die schwarz umrandeten Augen. Der massige Körper findet einfach keinen Halt, scheint im blauen 40er Jahre-Zweireiher zu schwimmen. Die Jacke rutscht von den Schultern, die Hose muss hochgezogen werden. Schließlich landet der Mann auf dem Hintern, spreizt selig ins Publikum lächelnd ein Bein ab, zieht sich über den Boden, kommt wieder nach oben. Mault und tönt, zerkaut die Wörter und rollt demonstrativ das "r". Und schnappt sich das hagere Menschlein, das mit heruntergezogenen Mundwinkeln in roter Chauffeursuniform stocksteif neben ihm steht, um ihm einen langen dicken Kuss aufzudrücken.
Polyneikes, Parsifal und alle anderen
von Andreas Wilink
Köln, 21. Dezember 2011. Die vier gut angezogenen Herren langen ordentlich hin und schlagen alles kurz und klein, während eine junge Frau versonnen die Bruchstücke betrachtet, eine zweite den Stammbaum der Labdakiden an die rückwärtige Seite der Kölner Schauspiel-Schlosserei malt und dazu melodramatisch Musik aufschäumt. Wenn alle Wandteile demoliert sind, bleiben nur kantige schwarze Säulen (Bühne: Susanne Münzner) einer Familiengruft, zwischen denen Trümmerfrauen und Trümmermänner Tragödie spielen.
Glückskekse
von Andreas Wilink
Köln, 26. November 2011. Hänschen ist groß und trägt dreisprachig vor. Sind ja auch mindestens drei von der Sorte, die auf der Kölner Schauspiel-Bühne erwachsenen Kinderkram machen. Noch ein vierter ist da, an der Hammondorgel und am Synthesizer, von dem wir nicht beschwören würden, dass er nicht auch Hans heißt statt Alexander Paeffgen wie im so genannten richtigen Leben. Aber hier sind wir woanders.
Das sonderbare Licht des Unglückssterns
von Guido Rademachers
Köln, 8. Oktober 2011. Kein Kasten diesmal. Johannes Schütz, in dessen eindrucksvoll leeren Bühnenbehausungen Jürgen Gosch und zuletzt auch Kölns Intendantin Karin Beier das Innenleben der Figuren wie unter einem Brennglas bündelten, begnügt sich für die eigene Inszenierung von Racines "Phädra" mit nur einer einzigen Wand. Sie ist dunkelgrau angestrichen und schließt die Bühne bis zum Dach der Kölner Halle Kalk nach hinten hin vollständig ab.
Raus ins Open Air Museum
von Dina Netz
Köln, 7. Oktober 2011. Ursprünglich war Gesine Danckwarts "Goldveedelsaga" schon vor einem Jahr als Premiere geplant. Die ortsspezifische Performance im Kölner Agnesviertel sollte die geographische und ästhetische Brücke zwischen neuer und alter Spielstätte des Schauspielhauses, zwischen dem Stammhaus am Offenbachplatz und der Ausweichspielstätte EXPO schlagen. Auf dem Weg vom einen zum anderen muss man über die Krefelder Straße fahren. Allein, Kölner Wutbürger erwirkten eine Änderung des Ratsbeschlusses. Das Schauspielhaus wird nun renoviert statt abgerissen, und bis zum vorübergehenden Auszug dauert es noch ein Jahr. So lange wollte Gesine Danckwart offenbar nicht mehr warten und baut mit ihrer "Goldveedelsaga" jetzt schon eine Brücke – in die Zukunft.
Auf der Orchesterzerreißprobe
von Sarah Heppekausen
Köln, 29. September 2011. "Wir spielen." Dieser Satz ist Zustandsbeschreibung und Drohung, Motivation und Ausrede, Verteidigung und Kapitulation, Welt-Aufgabe und Welt-Aufgeben. Der Satz ist alles in einem, voller Komplexität in seiner Einfachheit und zugleich das Fundament für einen klangstarken Kunstkampf ohne Katharsis. Im Kölner Schauspielhaus tritt die Kunst gegen sich selbst an. Bei so viel kritischer Selbstbeschmutzung kann es nur einen Gewinner geben: die Kunst.
Bitte achten Sie auf den Straßenverkehr!
Von Klaus M. Schmidt
Köln, 15. September 2011. 15.35 Uhr. Ich bin der blaue Punkt. Auf der Karte von Google-Maps. Auf dem Display des Smartphones, das mir vor fünf Minuten im Foyer des Kölner Schauspielhauses ausgehändigt wurde.
Kaum zur Tür heraus, kann ich gleich wieder stehen bleiben, denn direkt neben dem blauen befindet sich ein orangener Punkt. Der steht für Station Nr. 2 des Archivs der zukünftigen Ereignisse. Das ist das Schauspielhaus selbst. Auf der Karte im Faltblatt, das ich zusammen mit dem Smartphone bekommen habe, sind nicht weniger als 37 orangene Punkte verzeichnet.
Im Lauf der Zeit
von Andreas Wilink
Köln, 18. Juni 2011. Solche Sätze haben es in sich. "Die Wolldecke in dem Laufställchen war durcheinander geraten, so daß an den Seiten die gelbliche Schaumgummiunterlage zu sehen war, ein mit Wollflusen besetztes lappiges Stück, und undeutlich, dafür um so eindringlicher empfand er wieder, zugeschnürt zu sein von den Dingen, die sich um ihn herum angesammelt hatten, abhängig von seiner Frau, von ihr, dem Kind und der Wohnung, dem, was einfach notwendig durch sie und das Kind mehr geworden war im Lauf der Zeit und sich nun häufte, einerseits belangloses Zeug, unwichtig genug, es nicht täglich zu beachten, hier, an dieser Stelle, dort, überall, in den Kisten, den Schränken, Schubladen, gedankenlos weggelegt, aber andererseits immer wieder etwas, das benutzt werden mußte, ob er wollte oder nicht, und das ihm durch die anderen, zuerst vage durch Gerald und jetzt noch mehr durch Rainer, der bei ihnen wohnte, immer wieder von neuem aufgezwungen wurde, wenn er sich mit ihnen unterhielt."
Beckett, ein Meister aus Deutschland?
von Andreas Wilink
Köln, 27. Mai 2011. Der Baum fehlt. "Landstraße. Ein Baum. Abend", heißt die berühmte erste Szenenanweisung Samuel Becketts in "Warten auf Godot". Aber der Baum wird gespielt: von Wladimir, der die Arme ausbreitet und ein Bein anwinkelt und so Stamm und mageres Geäst markiert, an dem sich er und sein Kumpan Estragon eventuell aufhängen wollen und es dann doch nicht tun. Morgen vielleicht ...
Mitklatschen beim Totentanz
von Regine Müller
Köln, 5. Mai 2011. Das Kölner Theaterpublikum weiß offenbar nur zu gut, was ihm bevorsteht, wenn der italienische Theatermann Antonio Latella inszeniert: ausuferndes, in jeder Hinsicht anstrengendes Theater. Nahezu fünf Stunden dauerte vor drei Jahren Latellas grandiose Goldoni –"Sommerfrische", mehr als drei Stunden sein grandios gescheiterter Kafka-Abend. Oder lag es bei der Premiere von "Mamma Mafia" im Erfolg verwöhnten Kölner Schauspielhaus diesmal etwa am Thema, dass im Zuschauerraum nicht einmal zwei Drittel der Plätze gefüllt waren?
Extra-Zucker für Walter
von Guido Rademachers
Köln, 29. April 2011. Der ungarische Theaterregisseur Viktor Bodó liebt Filme. Seine Schauspieler verprügeln und erschießen sich auf der Bühne in Zeitlupe und -loops. Alltäglicheres erledigen sie im Zeitraffer. Bei einem Kuss fällt Kunstschnee zu opulentem Soundtrack aus dem Schnürboden, Windmaschinen blasen auf das Liebespaar – und in das Publikum. Schnitt.
Gehorsam durch Ermattung
von Dina Netz
Köln, 19. April 2011. Die ehemalige Kraftfahrzeug-Zulassungsstelle in der Kölner Herkulesstraße ist schon für sich genommen ein kafkaesker Ort: 70 leere Büroräume mit fleckigen Teppichen, zwischen Gleisdreieck und Autobahnzubringer gelegen. Mit seinem sicheren Gespür für Settings hat sich das Performer-Kollektiv Signa die Tristesse dieses Ortes zunutze gemacht für seine neue Produktion "Die Hundsprozesse" nach dem "Prozess" von Franz Kafka: Die Herkulesstraße 42 ist in ein Gericht umgewandelt, die Zuschauer werden beim Betreten des Gebäudes zu Angeklagten.
Wenn ich singe, vollziehe ich einen Funktionswechsel
von Dina Netz
Köln, 27. März 2011. Während der Ouvertüre und der Moritat von Mackie Messer bleibt die Bühne dunkel. Der Brecht-Text inklusive Regieanweisungen wird in roten Buchstaben als Laufband eingeblendet. Erst nach dem verschriftlichten Haifisch-Song treten die Schauspieler ins Licht. Diesen Trick hat Nicolas Stemann schon bei seiner "Dreigroschenoper" 2002 in Hannover angewandt (die er mit dem Kölner Ensemble überarbeitet hat), um mit den strengen Vorgaben der Brecht/Weill-Erben umzugehen: Der Originaltext wird fast vollständig eingeblendet.
Überfülle der Wahrnehmung
von Regine Müller
Köln, 18. Februar 2011. Ein wiederkehrendes Ritual durchzieht den Abend: Die Bühne ist dunkel, auf der großen Videoleinwand ist ein rauer, menschenleerer Strand zu sehen, die Brandung rauscht. Ein Feuerzeug leuchtet auf, jemand zündet sich eine Zigarette an, dann wird ein altmodisches Tischlämpchen angeknipst. Eine Frau in Schwarz sitzt neben der Lampe an einem langen Tisch und verliest einen Text. Eine andere Frau schreibt auf eine Schultafel eine Jahreszahl, einen Ortsnamen oder "15 Jahre später", während eine Videokamera ihr Tun auf die Leinwand wirft und synchron zum Bild an jenem langen Tisch die quietschenden Kreidegeräusche erzeugt werden.
Das Sofa als Wille und Vorstellung
von Guido Rademachers
Köln, 11. Februar 2011. Solche Müdigkeit steckt an. Im Schlussbild lässt Regisseur Alvis Hermanis – so viel Regieeinfall muss am Ende schon sein – Oblomows hyperaktiven Gegenpart Stolz sich in dessen Bett verkriechen. Um dann das Licht auf der Bühne aus- und im Zuschauerraum anzudrehen. Der Hinweis auf den Oblomow in uns allen wäre gar nicht nötig gewesen. Denn während der dreieinhalb Stunden Aufführungsdauer war der Kampf gegen das Einnicken unschwer erkennbares Thema im Publikum.
Aufbruch sieht anders aus
von Dina Netz
Köln, 14. Januar 2011. In Köln ist alles längst vorbei, der Kirschgarten abgeholzt, die Bühne eine riesige Fläche aufgeschütteter Erde. Aber die Geschwister Ljubow Andrejewna Ranjewskaja und Leonid Andrejewitsch Gajew wollen nicht wahrhaben, dass der Ort ihrer Kindheit dem Untergang geweiht ist. Ljubow (Lena Schwarz) kommt gerade nach fünf ausschweifenden Jahren aus Paris zurück, ihre Heimkehr auf das russische Landgut mit dem riesigen Kirschgarten wird wie ein Einzug in die Manege mit Musik und Tanz zelebriert.
Römische Puppet-Show
von Dina Netz
Köln, 25. November 2010. Ihre beiden ersten Ehemänner hat Agrippina überlebt, den zweiten hat sie angeblich eigenhändig vergiftet. Ihr Onkel Claudius, den sie als dritten heiratet, überlebt auch nur so lange, bis er Agrippina zur Kaiserin ernennt und ihren Geburtsort zur Stadt erhebt: Köln. Dann vergiftet sie auch ihn, damit ihr Sohn Nero Kaiser werden kann. So geht die Legende über die brutale Giftmischerin Agrippina, Kaiserin von Rom.
Gesang der Geister über dem Wasser und unter der Erde
von Andreas Wilink
Köln, 29. Oktober 2010. Vom Schluck Wasser zur Sintflut: Zuerst sind auf einem Dutzend Tischen der Bühne des Kölner Schauspielhauses (Johannes Schütz) Batterien von Mineralwasserflaschen und Plastikbechern angerichtet. Am Ende, nach drei Stunden, steht die Bühne knöcheltief unter Wasser. Lehmig gelbe Brühe quillt aus einem Loch – in seiner Länge und Breite offen wie ein Grab. Köln geht baden, während sich die Stadtoberen nicht nass machen und ihre Hände in Unschuld waschen – und Karin Beiers fabelhaftes Ensemble das große Planschen veranstaltet. Ein Katastrophen-Slapstick, denn das Unglück ist auch ein fauler Witz.
Entertaining Mr. Sigismund
von Andreas Wilink
Köln, 19. Juni 2010. Jürgen Kruse schickt seinen eigenen Kommentar gleich hinterdrein. Ein Stücktitel bedeutet auch nur eine Phrase im unaufhörlichen Gespräch, Note in einer unendlichen Melodie (warum hat der Mann eigentlich nie Wagner inszeniert?) Kruse ist so schnoddrig wie schüchtern, wenn es um die großen Werke geht, um "Macbeth", "Hamlet" oder "Faust". Er bemächtigt sich ihrer scheinbar, aber letztlich unterwirft er sich ihnen – gemäß seiner Methode trial and error. Vielleicht sind ihm deshalb die schmutzigen kleinen Stücke lieber, ein Cassavetes, Shepard oder Kerouac.
Pack die Lederhose ein
von Dina Netz
Köln, 3. Juni 2010. In der Kölner Halle Kalk, der Außenspielstätte des Schauspiels, steht die Hitze am Uraufführungsabend. Das fördert nicht gerade die Konzentration, passt aber ganz gut zum Stück von Christoph Nußbaumeder, das im Frühling mit Eröffnung der Biergarten-Saison einsetzt und in dem äußere und emotionale Hitze immer weiter steigen.
Deutsche Familien und ihre Holzvertäfelung
von Regine Müller
Köln, 16. April 2010. Wenn man nicht wüsste, welch langen Vorlauf ein Theaterspielplan hat, könnte man es für eine perfekte Dramaturgie halten: Denn in der heißen Phase der Abrissdebatte des Kölner Schauspiels probte ebenda Anna Viebrock ausgerechnet ein Stück über Zerstörung und Wiederaufbau, gespiegelt am Schicksal einer Kölner Architektenfamilie. Unter dem Rätseltitel "WOZUWOZUWOZU" hatte ihre Dramatisierung von Heinrich Bölls "Billard um halb zehn" nun Premiere, gerade einmal drei Tage nachdem in einer Sondersitzung der Kölner Stadtrat entschieden hat, sein Theater aus den 60er Jahren – gebaut von einem Kölner Architekten – nun doch zu sanieren und den geplanten Neubau ad acta zu legen.
Arielles empfindliche Seele
von Guido Rademachers
Köln, 10. April 2010. Dort, wo sich sonst in Karin Beiers Theatertreffen-Inszenierung "Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen" die Figuren gegenseitig fertigmachen, ist auch das Publikum bestens aufgehoben. Auf der Bühne der Halle Kalk sind anstelle des Hartz-IV-Wohncontainers etwa hundert Stühle aufgebaut. Der Zuschauerraum ist von sieben jungen Männern, etwa zwischen 17 und Anfang 20, okkupiert. Es sind die "Rheinischen Rebellen 2.0", Mitglieder des Kölner Schauspielhaus-Jugendclubs.
Der Träumer seiner Erinnerung
von Andreas Wilink
Köln, 19. März 2010. Die Festtafel ist geteilt. Am linken Tisch finden sechs Personen Platz, am rechten ebenso viele. Ein Stuhl bleibt zunächst frei – der Gast, für den man dort reserviert hat, passt nicht recht in die Feierlichkeit zu Helges 60. Geburtstag. Er heißt Gbatokai, ist der Freund von Helene, der Tochter des Hauses, und er ist schwarz. Mit einiger Verspätung reiht auch er sich ein, auch wenn ihn dann ein Lied der guten weißen Gesellschaft als "Hottentott" verhöhnt.
Der, den das Morden ekelt
von Andreas Wilink
Köln, 16. Januar 2010. Wie auf einem Trainingsfeld verteilen sich die vier Frauen und vier Männer – weniger als ein Drittel des von Büchner vorgesehenen Personals, nicht gerechnet Volk, Deputierte und Grisetten. "Haben Sie Fragen?", wendet sich eine Darstellerin ans Publikum, zunächst auf Englisch, um nur ja Abstand zum identifikatorischen Theater zu halten, und so, als stünde eine Lektion Büchner an. Unterricht in praktischer und theoretischer Revolutionskunde.
Sieg Geil!
von Guido Rademachers
Köln, 9. Januar 2010. Eigentlich war ein Projekt über die "Edelweißpiraten" geplant: jene Kölner Jugendbewegung, die während der Nazizeit durch abweichendes Verhalten in puncto Mode, Musik und Mitmarschieren auffiel. Aber irgendwann im Herbst, nachdem das Spielzeitheft schon gedruckt war, müssen Regisseur Robert Borgmann und Dramaturgin Sybille Meier festgestellt haben, dass der Stoff sich nicht so recht den Vorstellungen fügte, die sie von diesem Theaterabend gehabt haben mögen.
Das Gift der Armut
von Sarah Heppekausen
Köln, 8. Januar 2010. Zu sehen gibt es eine Menge in der langen Containerbaracke, die sich über die ganze Breite der Halle Kalk erstreckt: Sich schlagende, begrapschende, schminkende, Geld zählende, Gameboy spielende, Chips in sich hineinstopfende Mitglieder einer Großfamilie. Nur zu hören ist nichts. Die großen Fenster lassen Blicke zu, aber keinen Ton heraus. Als endlich jemand die Wohnung verlässt, dem schalldichten Raum einen Schlitz verpasst, schreit gleich ein anderer: "Tür zu!"
Experimente mit der Egge
von Regine Müller
Köln, 30. Oktober 2009. Am Anfang ist die Bühne leer. Vor der Rückwand stehen in gebührendem Abstand voneinander fünf Tafeln, auf jeder ist ein Buchstabe des Namens "Kafka" geschrieben. Fünf Schauspieler haben sich hinter den Buchstaben aufgebaut und setzen sich erst einzeln, dann gemeinsam in Bewegung. In eilfertigem Laufschritt trägt jeder seinen Buchstaben nach vorne, dann wieder zurück. Schließlich beginnen die, deren Buchstabe nicht "a" lautet, die Tafeln umzudrehen. Nach einer guten Weile und etlichen sinnlosen Gängen ist aus "Kafka" "Samsa" geworden. Aha.
Choreografie der Gequälten
von Andreas Wilink
Köln, 26. September 2009. Das Eröffnungsbild kreiert die Stille des Anfangs. Paradiesischen Zustand. Eine Unschuldvermutung. Dann wird es Licht. Das Drama beginnt – und der Zerfall setzt ein. Es "ward eine Finsternis über das ganze Land", sagt Matthäus, Kapitel 27, als auf Golgatha gestorben wird. Der Tod der Cordelia und des Lear behauptet eine ähnliche Wirkung. Aus dem Dunkel, dem noch Ungestalteten, heben sich schemenhaft Körper, die in schwarzen Nebeln zu schwimmen scheinen.
Der Irrwitz des Ungewissen
von Andreas Wilink
Köln, 6. Juni 2009. Es gibt zweierlei Ängste im Theater-Leben des Jürgen Kruse. Einerseits den horror vacui, weshalb seine zugestellten Bühnenräume neuronale Netze knüpfen, Bezugsrahmen setzen oder schlichtweg als Rumpelkammer seelischer Ablagerungen dienen. Zum anderen ist es die Angst vor der Stille nach dem Schluss. Kruse-Inszenierungen finden kein Ende; selbst wenn alles gesagt und abgetan ist, hängen die Schauspieler herum, tanzen cheek to cheek, musizieren, rauchen, bleiben bei ihren Verrichtungen.
Für diesen Tag gestorben
von Sarah Heppekausen
Köln, 17. Mai 2009. Erst blendet das Licht wie grelle Sonnenstrahlen, dann fegt ein heftiger Wind über die Bühne. Aber wenn die hintere Wand des geöffneten Betonquaders unerbittlich zufällt, ist erstmal Schluss mit derartigen Naturenergien. Karin Henkel hat eine Variante der euripideischen, ironischen "deus ex machina"-Schlüsse gleich an den Anfang ihrer Kölner Inszenierung der Iphigenie gesetzt. Hier wird die nächsten zwei Stunden kein Lüftchen mehr wehen, da kann der Chor der einheimischen Frauen noch so laut rufen "Blast Winde!"
Transit Tel Aviv
von Ulrike Gondorf
Köln, 24. April 2009. Die Koffer sind schon da. Die Reisenden noch nicht Sicht (Sonst ist es doch immer umgekehrt!). Nach einer ganzen Weile nähert sich eine Frau dem Gepäckband, und während sie noch sucht und räumt, kommt ein Mann dazu, dunkel gekleidet, mit Hut und Schläfenlocken. Wie sie sich ausweichen und mit Blicken abtasten, wird sofort klar: zwischen den beiden liegt eine Geschichte in der Luft, und weil wir im Theater sind, werden wir sie gleich erfahren.
Gegen das System helfen keine Verträge
von Ulrike Gondorf
Köln, 16. April 2009. Elfriede Jelinek mischt sich gern ein. Mit ihrer Wirtschaftskomödie "Die Kontrakte des Kaufmanns" ist ihr die Intervention in die Zukunft geglückt. Denn das Stück zur Finanz- und Wirtschaftskrise entstand vor ungefähr einem Jahr, als es noch gar keine Lehman-Pleite mit ihren globalen Dominoeffekten gegeben hatte. Sehr viel begrenztere Skandale in Österreich hatten der Autorin den Stoff und den Anlass gegeben zu dieser wütenden Tirade auf die Skrupellosigkeit der Banker und die naive Profitgier der Anleger.
Die Welt ist ein Mensch-Ärgere-Dich-Nicht-Spiel
von Kerstin Edinger
Köln, 9. April 2009. Es hätte auch ein schwerer, ein mit Gedankenkonstrukten überfrachteter Abend werden können. Nach der Lektüre von Juli Zehs Stückvorlage, in der Bearbeitung von Bernhard Studlar, sehnt man sich nach etwas Menschelndem, etwas weniger Konstruktion, dafür mehr Lebensnähe. Doch Regisseurin Jette Steckel gelingt die Gratwanderung, aus exemplarischen Figuren Menschen aus Fleisch und Blut zu machen, der etwas spröden Vorlage Leben einzuhauchen. Sie wechselt gekonnt die Ebenen zwischen Abstraktion und realer Handlung, ohne dabei an Tempo zu verlieren.
Wir sind Orpheus
von Regine Müller
Köln, 4. April 2009. Als verstörend sind die Performances des österreichisch-dänischen Künstlerduos Signa schon immer bezeichnet worden. Lange Zeit als Geheimtipp gehandelt, wurde die Truppe um Signa Sörensen und Arthur Köstler mit der Kölner Installation "Die Erscheinungen der Martha Rubin" im vergangenen Jahr zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Die eigens errichtete "Ruby Town" wurde tagelang pausenlos von 40 Darstellern bewohnt, die Besucher waren sich weitgehend selbst überlassen und konnten wählen, wo und wie lange sie in dem künstlichen Dorf verweilen und vor allem wie weit sie sich auf das Grenzexperiment zwischen Realität und Fiktion einlassen mochten.
Wenn alles in Scherben liegt
von Ulrike Gondorf
Köln, 28. März 2009. Der Abend ist sperrig, brüchig, manchmal geschwätzig, manchmal albern, manchmal anstrengend, manchmal sehnsüchtig-traumverloren. Und nicht selten wirklich komisch. Und genau deswegen ist er gut. In seiner Inszenierung von Büchners post-romantischem Lustspiel "Leonce und Lena" zielt der Regisseur Jan Bosse mitten in die Disparatheit, die Widersprüchlichkeit, die desillusionierende, bittere Ironie des Textes. Und trifft. Der Schulbuch-Klassiker gewinnt seine verstörende Unangepasstheit zurück, das berühmte Stück lässt sich nicht konsumieren.
Ein Traumschiff namens Adenauer
von Regine Müller
Köln, 6. März 2009. Schon vor dem Einlass in die Kalker Halle hört man einen Chor. Rhythmische, deklamatorische Aufwärmübungen, die auch für ein Motivationsseminar taugen würden. Doch hier bereiten sich zwei aus Kölner Lehrern rekrutierte Chöre auf ihren Auftritt vor, der ein gewichtiger Teil des Abends werden soll, den sein Schöpfer und "Totalregisseuer" Schorsch Kamerun paradox als "erste antiautoritäre Staatsoper" tituliert hat.
Kekse für den Zoologen
von Regine Müller
Köln, 14. Februar 2009. Auf der Bühne herrscht diffuses grünliches Dämmerlicht. Ein schwerer, massiger Mann namens Ludwig setzt sich an den Schreibtisch, schaltet seinen Computer an und schreibt. Was er schreibt, ist auf metallenen Jalousien zu lesen: "Urformen der Angst - VI. Kapitel: Die namenlose Angst."
Auf jeden Fall fahrlässig
von Andreas Wilink
Köln, 24. Januar 2009. Wer wollte in Abrede stellen, dass die Beteiligten sich etwas gedacht haben und guten Willens sind und sei es nur in der eindeutigen Ablehnung von Gutmenschentum? Nur so lässt sich der Verlauf des 90minütigen choreografischen Theaters "60 Years" überhaupt tolerieren, dessen Titel sich auf die sechzigste Wiederkehr der Gründungsdaten des Staates Israel und der Bundesrepublik bezieht.
Von Gosch lernen, heißt siegen lernen
von Regine Müller
Köln, 18. Januar 2009. Nachtschwarz ist es in der Halle Kalk: auf dem Boden Stroh wie in einem verlassenen Stall, an der Stirnseite ein Altar, zur Linken eine Madonna. Ein paar Stuhlreihen, die sich nach und nach mit Menschen füllen. Einer geht schließlich nach vorne zum Altar und kniet nieder im stummen Gebet. Der Frieden täuscht, denn plötzlich überfällt den Betenden einer der Frommen von hinten und ringt mit ihm ums Leben.
Symphonie der Einsamkeit
von Dorothea Marcus
Köln, 5. Dezember 2008. Franz Xaver Kroetz' 1973 uraufgeführtes Stück "Wunschkonzert" ist bekanntlich ein Theatertext, der aus etwa acht Seiten besteht und in dem kein Wort gesprochen wird: eine einzige Regieanweisung, die den letzten Abend im Leben des einsamen Fräulein Rasch schildert, indem es sie bei ihren privaten Verrichtungen beobachtet. Doch auf Katie Mitchells Bühne ist es alles andere als einsam, es wuselt nur so.
Endstation Daseinsflucht
von Dorothea Marcus
Köln, 7. November 2008. Pflegenotstand in Deutschland. Eine einzige Altenpflegerin, durch Zufall heißt sie Solveig, ist verantwortlich für sieben Tattergreise. Auf drei Bühnenebenen sitzen sie auf Campingliegen, in Rollstühlen und Gehwagen und röcheln, klagen, husten, während schallend die Lebensuhr tickt – gespielt von einem großartigen Ensemble mit Schlagzeugen und Marimbaphonen.
Bewegter Wortgottesdienst
von Ralf-Carl Langhals
Köln, 17. Oktober 2008. "Ach Gott, die Kunst ist lang und kurz ist das Leben", sagt Faust verschwörerisch, und ein hörbares Schmunzeln geht durch die ausverkaufte Halle Kalk, Kölner Spielort der Goetheschen Tragödie ersten Teils. "Das kommt mir jetzt schon (wir befinden uns noch im Studierzimmer in schlichtester Probenbühnenästhetik) vor wie fünf Stunden", antwortet ein Herr und geht. "Anstrengend" raunt ein anderer und folgt.
In der Hüpfburg der Moral
von Morten Kansteiner
Köln, 21. September 2008. Bis zum "Perceval" des Chrétien de Troyes ist es ganz schön weit: gut 800 Jahre Literaturgeschichte, wenn man aus der Gegenwart zurückblickt. Tom Kühnel und Jürgen Kuttner sind tapfer losmarschiert, aber ungefähr an der zweiten Jahrhundertwende muss ihnen die Puste ausgegangen sein. Chrétien steht zwar als ein Gewährsmann im Programmheft, aber letztlich sind sie bei Wagner gelandet: Sein Libretto liefert das Gerüst für ihre "Parsifal"-Variationen am Kölner Schauspielhaus. Und ehrlich gesagt sind 126 Jahre ja schon ein ganzes Stückchen.
Mensch, Mörder, Mann
von Ralf-Carl Langhals
Köln, 10. Mai 2008. Zwei verschrobene Gestalten erwarten wortkarg am Wegesrand einen ominösen Dritten. Es ist nicht Godot. Schnee liegt in der Schlosserei des Schauspiels Köln, für das Christoph Nußbaumeder das Auftragswerk "Mörder-Variationen" schrieb. Doch bis sich bei deren Uraufführung "Drei Männer im Schnee" finden, dauert es fünf Akte. Ganz so lustig wie bei Kästner geht es nicht zu, ganz so frustig wie bei Beckett auch nicht. Gelegentliche Längen und einen verrätselten Schluss duldet man gerne, ist der talentierte Volksstück-Erneuerer doch diesmal einen anderen Weg gegangen.
Die Geburt der Tragödie aus der Zweierbeziehung
von Andreas Wilink
Köln, 8. Mai 2008. Karin Beier spannt "Das Goldene Vlies" in den Rahmen einer Alltagsgeschichte, freilich einer ungeheuren: Kolchis und Korinth als Metapher, Schauplätze für Menschen, die einander fremd geworden sind. In den Szenen einer Ehe und ihrem zwanghaften, zwangsläufigen Verlauf ist uns nichts unbekannt und dennoch nichts vertraut. Weil das, was sich die Handelnden zumuten, wie unter einem Vergrößerungsglas vor Augen führt, was sonst zumeist hinter gesellschaftlichen Verabredungen und den guten Sitten verborgen liegt. Diese Menschen sind von allen guten Geistern verlassen. Auch hier regiert der Gott des Gemetzels.
Rocky-Horror-Migranten-Schulfunk-Soap
von Ulrike Gondorf
Köln, 29. April 2008. "Zwei kleine Italiener, die träumen von Napoli". Und schon sind wir mitten drin in den 50er Jahren. Die ersten ausländischen Arbeitskräfte, die Gastarbeiter sind da. Marcello und Toni heißen sie, sie kommen aus dem armen Süden Italiens. Und natürlich wollen sie nicht lange bleiben, zurück nach Hause, mit viel schnell verdientem Geld, heiraten, ein Haus bauen…
Schwarz auf Weiß
Von Andreas Wilink
Köln, 20. April 2008. Vor zwei Wochen erst hat am Schauspiel Köln der lettische Regisseur Alvis Hermanis seine Kölner Affäre mit vier Alltagsmenschen aus der Stadt am Rhein publik gemacht, deren modellhafte Lebensgeschichte an wiederum vier Schauspieler delegiert wurde. Jetzt wird der Radius vergrößert, die Beziehungen der Theatermenschen zur existentiellen Welterfahrung knüpfen sich überregional fort.
Die Welt im Staubkorn Mensch
von Dorothea Marcus
Köln, 4. April 2008. Julia Wieninger hat Hannah auf der Straße angesprochen. Ilknur Bahadir musste drei Frauen treffen, ehe sie auf Nastassja stieß – auf der Bühne sehen wir sie in ihrer Konditorei vor rosa getürmten Sahnetorten. Wie Markus John auf den früheren Zuhälter Foxi aus Bergisch-Gladbach traf, der den Zuschauer in seinem heruntergekommenen Bühnenbüro empfängt, erfahren wir nicht. Aber es ist fast unheimlich, wie sich der Schauspieler langsam in e kölsche Jong verwandelt: mit Bart, zurückgegeltem Haar und breitester rheinischer Mundart wird er vor unseren Augen ein zutiefst anderer.
Das komische Gebaren der Geschlechter
Von Regine Müller
Köln, 28. März 2008. Es beginnt als Hörspiel: Minutenlang eilen geschäftige Schritte über knirschenden Kies, dann klopfen energische Absätze einen nervösen Rhythmus auf hölzerne Dielen. Aufbruchstimmung deuten auch die altertümlichen Bahnhofswartebänke an, die Annelisa Zaccheria auf die Bühne des Kölner Schauspielhauses stellt, um Antonio Latellas Deutung von Goldonis "Trilogie der Sommerfrische" möglichst sparsam zu möblieren. Von der Decke hängen Volieren, in denen blitzende Lüster stecken. Die Lichter sind eingesperrt über der gähnend leeren Bühne und senken sich später hinab in den Boden.
Im Sog der Präzision
von Regine Müller
Köln, 22. Februar 2008. Als wäre ein Problem nicht genug, hat am Kölner Schauspielhaus Regisseur Laurent Chétouane gleich zwei Werk-Fragmente zusammengesperrt, die auf den ersten Blick bis auf das Schicksal des Unvollendetseins wenig gemein zu haben scheinen: Friedrich Hölderlins in drei Entwürfen vorliegendes Trauerspiel "Der Tod des Empedokles" und Bertolt Brechts "Fatzer"-Fragment, das mehr als 500 Seiten umfasst.
Krieg ist eine Frage der Perspektive
von Dorothea Marcus
Köln, 2. Februar 2008. Die Bühnenwelt von Jette Steckel setzt sich vor unseren Augen zusammen: halblaut vor sich hin murmelnd, bestreuen die Schauspieler das Spielfeld mit Granulat und machen es zu einer "trostlosen Gegend am Kanal", die einfach eine dunkle Rampe mit Treppe ist. Dahinter ist "Da", Mazedonien, die Heimat oder die Fremde, kommt auf die Perspektive an. Da, wo die Zuschauer sich gegenübersitzen, ist "Hier" – flüchtige und relative Ortsbezeichnungen, mit Kreide an die schwarzen Wände gezeichnet.
Einer, der gefallen will
von Morten Kansteiner
Köln, 25. Januar 2008. In der ersten Reihe des Rangs feiern Célimène und ihre Gäste schon, während die Zuschauer die übrigen Plätze im Kölner Schauspielhaus einnehmen. Die Ensemblemitglieder sind nicht zu übersehen: Klaus Bruns hat sie in Diskokugelkostüme gesteckt. Julia Wieninger schillert als Gastgeberin von Kopf bis Fuß, ein bisschen Meerjungfrau mit Tiefseedecolleté, ein bisschen Königin des Standardtanzes. Michael Goldberg und Omar El-Saeidi tragen baugleiche Jacketts: Die Freunde Acaste und Clitandre changieren einträchtig zwischen Petrol und Schwarz. Der Tütü der Eliante fällt etwas matter aus, aber dafür macht Angelika Richter durch begeisterte Rufe auf sich aufmerksam.
Die Banalität des Deliriums
von Dorothea Marcus
Köln, 14. Dezember 2007. Auf einem Dachboden in New Jersey, so sagt eine neue Legende, wurde 2005 das einzige Theaterstück von Jack Kerouac gefunden, jenes mit 47 Jahren am Suff gestorbenen Autors, der mit "On the road" das Urexemplar aller Kultbücher für Rucksackreisende schuf.
Stört die friedliche Weihnachtszeit nicht
von Dorothea Marcus
Köln, 2. Dezember 2007. Weiß ist die Unschuld, grün die Hoffnung. Und beides ist untergegangen in der Welt von Yasmina Rezas "Gott des Gemetzels", das mit Sicherheit das meistgespielte Stück der Saison ist. Nun hat sich auch Karin Beier in Köln drangemacht, und die Kostüme, Plastikstühle und spärlichen Accessoires auf der Bühne von Thomas Dreißigacker sind in Grün und Weiß gehalten, jenen Farben, die die Welt retten könnten, aber in Wirklichkeit nur noch Pinselei sind auf dem Schlund der Gewalt, der sich in schicken Großstadtwohnungen ebenso auftut wie auf fernen Schlachtfeldern.
Wir sitzen alle im selben Bauch
von Dorothea Marcus
Köln, 25. November 2007. Erstaunlich, dass ein monumentaler Roman wie Hermann Melvilles "Moby Dick" inzwischen sogar auf kleinsten deutschen Bühnen gespielt wird. Den Anfang machte Amélie Niermeyer 2004 in Freiburg in einer Version, in der sie das Publikum auf die Drehbühne setzte, in der Pause Fischsuppe reichte und den Theaterbauch zur Schiffs- und Weltmetapher erklärte. Inzwischen haben sich unter anderem auch Greifswald, Kassel und Osnabrück an Bühnenadaptionen gewagt – an einen Roman, der eigentlich schon die literarischen Dimensionen sprengt.
von Andreas Wilink
Köln, 23. November 2007. Wien, Wien, nur du allein. Karin Beier nahm, in ihrer vorläufigen Abschieds-Inszenierung vom Burgtheater, die Phantasie für bare Münze. Shakespeares fiktives Herzogtum verortet sie konkret in der österreichischen Hauptstadt und ihren Randbezirken, wo breitester, fürchterlichster Dialekt gesprochen wird, dass es selbst dem Herrn Karl des Qualtinger wohl arg zu Ohren gekommen wäre.
Der Fuchs im Schnäppchenmarkt
von Ulrike Gondorf
Köln, 1. November 2007. Der Todgeweihte lässt es sich schmecken. Lustvoll schwingt er das gebratene Hühnerbein, genießerisch gießt er sich ein aus der Magnum-Flasche Champagner. Sein Outfit passt nicht ganz zu diesem stilvollen Imbiss auf dem Silbertablett. Er trägt ein grünliches Krankenhaushemd und hockt auf einem Stapel weißer Handtücher.
Ausnahmezustand in Ruby Town
von Dorothea Marcus
Köln, 14. Oktober 2007. Ruby Town ist umzingelt von Militär. Wir müssen unseren Fingerabdruck abgeben, erhalten ein gelbes Visum und müssen den ruppigen Anweisungen der Uniformierten folgen, die uns in einer schäbigen Baracke einen Schulungsfilm vorführen: kein Alkohol, keine sexuellen Annährungen an die Bewohner! Die Einwohner der kleinen, zugigen Kunststadt in der Kölner Halle Kalk sind eine vom Militär geschützte Minderheit – das patrouilliert durch die engen Gassen, filmt, kontrolliert, reglementiert.
Blau leuchtet das Oval
von Andreas Wilink
Köln, 13. Oktober 2007. Acht Stunden sind kein Tag. Diese Rechnung bezieht sich auf die Maloche und die Zeit, die danach noch bleibt. Rainer Werner Fassbinders Fernsehserie schmuggelte in den siebziger Jahren in die Familienunterhaltung mit Hilfe des WDR in Köln sozialkritische Konterbande: "Acht Stunden sind kein Tag" entstand 1972. Ein Jahr später ereignete sich ein massiver Streik im Ford-Werk, Köln-Niehl. Türkischen "Gastarbeitern" war die Kündigung ausgesprochen worden, nachdem sie verspätet (dabei aber entschuldigt) aus dem Urlaub zurückgekehrt waren.
Treu bis zum letzten
von Dorothea Marcus
Köln, 12. Oktober 2007. Hebbels Burgunderhof ist ein kalter, unverkleideter Bühnenraum. Nur einige Sperrholzkisten stehen darin, und auf billigen Bürostühlen sehen wir neben den Schauspielern ein Quintett aus Streichern, Schlagzeugern und Posaune (Bühne: Thomas Dreissigacker). Karin Beiers Inszenierung von Hebbels "Nibelungen" beginnt zweidimensional wie ein Kammerkonzert, und die Stationen des Untergangs wirken zunächst wie hastig durchgespielt.
Sehnsucht nach Geistern
von Dorothea Marcus
Köln, 3. Juni 2007. Der Fortschritt ist zwiespältig, die Aufklärung bringt uns um. Nicht nur, weil sie uns in Naturkatastrophen schlittern lässt und wir uns mittlerweile locker selbst abschaffen können - sondern auch, weil ein rein rationalistisches Weltbild ziemlich dröge, geheimnislos und entzaubert ist. Genau in dieser Ambivalenz befindet sich Theodor Storms berühmte Altersnovelle "Der Schimmelreiter": bis heute ist man sich nicht einig, ob Hauke Haien, der Deichbauer, eine Lichtgestalt der Aufklärung ist oder ein vermessener, verbohrter Tyrann.
Bewusstseinsshow - Volksbühne meets Ur-Pop
von Dorothea Marcus
Köln, 25. März 2007. Kann man heute noch schreiben, Theater spielen, Kunst machen? Rolf Dieter Brinkmann hat im Laufe seines Lebens immer stärker daran gezweifelt und sich schließlich ganz auf Tonbandaufzeichnungen verlegt. "Von einem bestimmten Punkt an wird das Sprechen mörderisch", steht etwa in den ausufernden Aufzeichnungen, die als "Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand" posthum erschienen sind: 400 Seiten unfertige, scheinbar unkontrolliert hingeschriebene Tagebuchnotizen, abgebrochene Romananfänge, Lebensfetzen.