Kein Trost unter der Burka

von Martin Krumbholz

Mülheim an der Ruhr, 19. März 2015. Mit 24 Jahren, als er gerade sein Diplom als Arzt erhalten hatte, schrieb Anton Tschechow den Einakter "Auf der großen Straße", eines seiner ersten Stücke. Die Tendenz, die Fabel auf ein Minimum zu reduzieren, die später zu einer Art Markenzeichen des Dramatikers wird, zeichnet sich hier schon ab.

Es ist eine Nachtasyl-Situation: Gestrandete, Pilger, Mittellose abends bei einem Gewitter in einer Kneipe. Unter ihnen der ehemalige Gutsbesitzer Borzow, ein menschliches Wrack. Er scheint sich nur noch für das nächste Glas Wodka zu interessieren, das der hartherzige Wirt ihm verweigert, da Borzow keine Kopeke besitzt. Tschechow aber interessiert sich für die Geschichte dieses Gestraften, die ein "Durchreisender" namens Kusma aufdeckt. Borzow hatte einmal viel Geld und eine Frau, die ihn gleich nach der Hochzeit verlassen hat. Das ist beinahe schon alles. Am Schluss taucht auch noch die Ehemalige persönlich auf, und es geschieht – nichts. Nur ein schmerzhaftes gegenseitiges Erkennen, das vom Leiden nicht erlöst, sondern es vertieft.

AufdergrossenStrasse1 560 Joachim Schmitz uModellhafte Figuren: Gabriella Weber, Rupert J. Seidl, Klaus Herzog    © Joachim Schmitz

Religion in reizvoller Unschärfe

Das schlichte menschliche Drama versteckt Tschechow beinahe in einer Milieustudie, die die Reflexe der prekären Gesellschaft – stumpfe Aversionen gegen das Unverstandene, Fremde, aber auch Reste von Empathie – genauestens registriert. Mit einem einfachen Verfremdungsmittel betont Jo Fabians Mülheimer Inszenierung das Modellhafte des Stücks: Alle zehn Figuren sind in schwarze, Burka-ähnliche Gewänder gehüllt. Dieser Kunstgriff erklärt die Personen des Dramas zu Gefangenen eines geschlossenen Systems. Gleichzeitig erhält die Rede von "Rechtgläubigen" oder auch vom "Antichristen" eine eigenartige Unschärfe und Doppeldeutigkeit. Das Stück dürfte immer noch im Russland des ausgehenden 19. Jahrhunderts spielen, aber herausgerissen aus jeglicher realistischer Abbildung gewinnt es eine Bedrohlichkeit und eine Härte, die man bei Tschechow nicht unbedingt vermutet.

Die Bühne (ebenfalls von Jo Fabian gestaltet) zeigt vor einem nachtblauen Hintergrund nur wenige Requisiten, einen Kanonenofen, katafalkartige Liegen, einen stilisierten Tresen, an dem der apathische Wirt (Klaus Herzog) eine Flasche Wodka bewacht wie ein Priester im Ritus das Allerheiligste. Zu seinen Füßen der ruinierte Gutsherr, den es so unerbittlich danach dürstet. Die Anspielungen auf Religiöses sind nicht eigens extrapoliert, aber auch nicht zu übersehen. Es ist eine Religion, die keinen Trost kennt. Für den Säufer Borzow – Rupert J. Seidl spielt ihn großartig – gibt es kein Erbarmen, aber in dem Moment, da Kusma (Fabio Menéndez) dessen Identität enthüllt, treten plötzlich Mitleid-Reflexe zutage. Als wären die Kreaturen, die hier versammelt sind, in den Sog seiner Fallhöhe geraten.

Feinsinnige Menschenbeobachtung

Fabian gelingt in der anderthalbstündigen Aufführung ein exzellentes Timing, unterstützt von einer konsequent minimalistischen Musik, die im Grunde nur aus einem einzigen, in perfektem Rhythmus eingesetzten Ton besteht, einem "Kling". Zwischendurch allerdings, bei zwei, drei Breaks, wird zu satter Indie-Musik ekstatisch getanzt. Die schwarzen Roben fliegen leichthin durch die Luft, als wäre man nicht in einer maroden Asylanten-Kneipe, sondern in einer hippen Discothek in Berlin-Kreuzberg. (Dort fand vor Jahrzehnten auch die letzte erinnerungswürdige Inszenierung dieses abseitigen Stückes statt, auf einer Probebühne im Schatten der Mauer, der Regisseur hieß Klaus Michael Grüber.)

Es ist keine ätherische Schwermut, die nun die Haltung dieser Mülheimer Aufführung markiert, sondern vielmehr ein subtiler Humor. Ob der Landstreicher Merik (ebenfalls fabelhaft: Albert Bork) mit einer völlig nutzlosen Axt herumfuhrwerkt, ob derselbe in den Taschen seines Wamses vergeblich nach einem Fünfer sucht, während der Wirt das schon ausgeschenkte Gläschen zurück in die Flasche kantiert – hier ist eine feinsinnige Menschenbeobachtung am Werk, die gewissermaßen ein paar Gran Witz und Optimismus durch die Hölle transportiert. Populär oder in irgendeiner Weise anbiedernd ist diese Aufführung allerdings nicht, sie ist eher hermetisch und komplex. Hoffentlich kein Hinderungsgrund für den verdienten Erfolg.

 

Auf der großen Straße
Dramatische Skizze von Anton Tschechow
Übersetzung von Lydia Bruch und Sven Schlötcke
Regie und Bühne: Jo Fabian, Dramaturgie: Sven Schlötcke, Kostüme: Jo Fabian, Katharina Lautsch, Licht: Jochen Jahncke.
Mit: Klaus Herzog, Rupert J. Seidl, Peter Kapusta, Petra von der Beek, Simone Thoma, Steffen Reuber, Gabriella Weber, Albert Bork, Fabio Menéndez, Dagmar Geppert.
Dauer: eine Stunde, 35 Minuten, keine Pause

www.theater-an-der-ruhr.de

 

Alles über Jo Fabian auf nachtkritik.de im Lexikon.

 

Kritikenrundschau

Über einen „einen eindrucksvollen Abend" berichtet Steffen Tost für derwesten.de (21.3.2015). Jo Fabian betone "das Gleichnishafte des Textes, um seine Zeitlosigkeit deutlich zu machen", und schaffe "eine faszinierende atmosphärische Dichte".

Für Britta Heidemann ebenfalls auf dem WAZ-Portal derwesten.de (21.3.2015) ist dieser Abend "ein anderthalbstündiger Gottesdienst der Theatertrance", der Fragen aufwirft: "Ist das islamkritisch? Oder eine weitreichendere Diagnose, die Unfähigkeit des Menschen zum gegenseitigen Verständnis betreffend? Letztlich lässt Fabian den Zuschauer mit diesem Assoziationsreigen allein, schickt Fingerzeige in viele Richtungen. Was bleibt, sind einige im wahrsten Sinne blendende Bilder."

 

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